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Schwere Zeiten für kritisches Denken

Auch im Fall des Unidozenten Miguel Ángel Beltrán wird das Recht gebeugt

Juristische Inszenierungen bringen in Kolumbien immer wieder MenschenrechtsaktivistInnen hinter Gitter. Unter dem Vorwurf, der Guerilla anzugehören, werden SozialkritikerInnen zum Schweigen gebracht. Auch der Soziologe Miguel Ángel Beltrán wurde Opfer dieses Mimikris. Obwohl er im Jahr 2011 freigesprochen wurde, befindet er sich mittlerweile wieder in Haft. Im Gespräch mit Erik Arellana berichtet er von seinem Engagement und der politischen Verfolgung, unter der er und seine UnterstützerInnen leiden. Ein kolumbianisches Gefängnis ist ein Abbild des bewaffneten Konflikts. Hinter den Mauern der 140 Strafanstalten leben rund 10 000 politische Gefangene. Ihre Anzahl übersteigt die Kapazitäten in den Gefängnissen um ein Dreifaches. Zu der täglichen brutalen und unmenschlichen Behandlung kommen die zahlreichen Krankheiten, die sich aufgrund von Trinkwassermangel und unterlassener medizinischer Behandlung ausbreiten.

Erik Arellana Bautista

Diese Realität erlebt gerade auch der Dozent Miguel Ángel Beltrán. Der renommierte Forscher wurde wegen Rebellion, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Beschaffung finanzieller Mittel für terroristische Zwecke zu acht Jahren Haft verurteilt. Ein Gericht wird in den kommenden Monaten über sein Schicksal entscheiden. Während der kolumbianische Staat auf der Wahrheit der Beweise beharrt, die Beltrán als Mitglied der FARC1 überführen sollen, beteuert dieser seine Unschuld und betont, dass die angeführten Beweise unzulässig seien.

Obwohl er 2011 zunächst freigesprochen wurde, entzog ihm die Generalstaatsanwaltschaft (Procuraduría General de la Nación) im Jahr 2013 die Lehrgenehmigung an der öffentlichen Universidad Nacional de Colombia und untersagte ihm, in den nächsten 13 Jahren öffentliche Ämter zu bekleiden. Miguel Ángel berichtet uns von seiner Situation im Gefängnis:
„Ich bezeichne mich als politischen Gefangenen, denn ich wurde strafrechtlich verfolgt und mit Freiheitsentzug dafür bestraft, dass ich mich als Akademiker kritisch gegenüber dem kolumbianischen Staat äußerte, der jahrzehntelang Staatsterrorismus ausübte, um die Oppositionellen zum Schweigen zu bringen. Es wurden unzulässige Beweise angeführt, um mich wegen Aufstandes zu verurteilen. Dabei hatte ich niemals zu den Waffen gegriffen und war bereits in erster Instanz freigesprochen worden.

Mein einziges Vergehen war es, dass ich im Hinblick auf Ursprung, Fortdauer und Zuspitzung des kolumbianischen Konflikts, der auf der sozialen Ungleichheit im Land beruht, einen Standpunkt vertrat, der sich vom offiziellen unterschied. Im bewaffneten und sozialen Konflikt in Kolumbien sind Meinungs- und akademische Freiheit Ziele, die noch in weiter Ferne liegen. Hier im Land gilt jeder Andersdenkende als Staatsfeind und muss daher verfolgt und eliminiert werden. Die Morde an AkademikerInnen wie Alberto Alava, Héctor Abad Gómez, Darío Betancur und Alfredo Correa sind Ausdruck dieser kriminellen Politik, die Meinungsfreiheit zum Schweigen zu bringen.“

Mit Freude erinnere ich mich an den Tag seiner Freilassung im Juni 2011, als ihn Hunderte Leute an der soziologischen Fakultät erwarteten und in seine Parole „Das kritische Denken ist kein Terrorismus!“ einstimmten. Miguel Ángel dankte seinen Studierenden und den DozentInnen, die ihm beigestanden hatten, der nationalen und internationalen akademischen Gemeinde, die sich mit ihm solidarisiert hatte, sowie seiner Familie, die ihm geholfen hatte, seine Unschuld zu beweisen. Sein Anwalt David Albarracín betonte, Miguel Ángels beste Verteidigung sei seine Unschuld gewesen, die im Urteil von 2011 anerkannt worden war. Diese Entscheidung ging jedoch in die nächste Instanz, den Obersten Gerichtshof von Bogotá, der Beltrán im Jahr 2014 schuldig sprach. Daraufhin wurde er, trotz eines Revisionsverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof Kolumbiens, am 31. Juli 2015 erneut festgenommen.

Miguel Ángel Beltrán befindet sich seit dem 15. Februar 2016 im Hungerstreik. Er will damit auf seine Situation als politischer Gefangener und die menschenunwürdigen Bedingungen in den kolumbianischen Gefängnissen aufmerksam machen. In jedem Brief, den er aus der Haft heraus schreibt, zitiert er aus der Weltliteratur. Damit unterstreicht er sein Recht auf freie Meinungsäußerung. In seinen Texten trägt er seiner Verantwortung als Akademiker Rechnung, indem er für jene spricht, deren Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, die ohne Trinkwasser und Sonnenlicht eingesperrt sind, die nur beschränkten Zugang zu Büchern und Zeitschriften haben und die der im Gefängnis herrschenden Überfüllung und Korruption ausgeliefert sind.
Seit seiner Studienzeit setzt sich Beltrán in seiner Forschung kritisch mit der Guerillabewegung auseinander, seine Abschlussarbeit in Soziologie verfasste er über die Guerilla in der östlichen Provinz Llanos Orientales. Wie er in seinem Buch Crónicas del otro cambuche (etwa: Chronik der anderen Hütte) betont, ist diese Forschung keineswegs als Verherrlichung des bewaffneten Kampfes zu verstehen, sondern als soziologische Analyse eines gesamtlateinamerikanischen Phänomens, das in Kolumbien noch immer sehr präsent ist. Er erzählt in diesem Werk von seinem Engagement in der linken Partei Unión Patriótica und berichtet, wie er Zeuge von der systematischen Ermordung von Parteimitgliedern und VertreterInnen anderer politischer Organisationen wurde, die sich gegen soziale Ungleichheit und Repressionen einsetzten. Seit seiner Jugend pflegte er Kontakte zum Solidaritätskomitee für Politische Gefangene (CSPP) und lernte so die Lebensrealitäten der politischen Gefangenen und Verschwundenen kennen. Die Namen zahlreicher PolitikerInnen der linken Opposition tauchen in seinem Werk auf. Während sich viele für den bewaffneten Weg entschieden, bevorzugte Miguel Ángel Beltrán die Bücher und die Universität:
„Dass ich die Universität verlassen musste, tat mir weh. Die Studierenden bereichern einen sehr, sie sind eine Quelle der Inspiration. Ich war mir aber auch im Klaren darüber, besonders in den letzten Jahren im Gefängnis, dass die Lehrtätigkeit nicht auf die Hörsäle der Universität beschränkt ist. Auf vielerlei Art und Weise konnte ich auch im Gefängnis weiter als Lehrer tätig sein. Ich nehme an Studientreffen und an den Vorträgen der Organisationen politischer Gefangener teil. Hier diskutieren wir über Themen wie Übergangsjustiz, die Friedensabkommen der Regierung, die politische Geschichte Kolumbiens sowie über andere, aktuelle Themen. Im Moment unterstütze ich eine Gruppe von Insassen dabei, Lesen und Schreiben zu lernen.“

Warum werden Miguel Ángel Beltrán und seine Familie so verfolgt? „Während der zwei Amtszeiten von Präsident Álvaro Uribe, der seine Politik ironischerweise als Seguridad Democrática (Demokratische Sicherheit) bezeichnete, ist die Verfolgung immer intensiver geworden. Im Grunde vertritt die Seguridad Democrática die These, dass es in Kolumbien keinen bewaffneten und sozialen Konflikt, sondern nur eine terroristische Bedrohung gibt. Von daher wird jeder, der dazu eine andere Meinung äußert, Opfer von Verfolgung. Dazu gehören auch wir AkademikerInnen und AktivistInnen, die wir immer betont haben, dass es in Kolumbien eben sehr wohl einen bewaffneten sozialen Konflikt gibt und dass es notwendig ist, diesen auf politischem Wege zu lösen. So ist es also kein Zufall, dass man uns mit juristischen Mitteln anging. Ein besonders dramatischer Fall ist der von Alfredo Correa de Andreis, ebenfalls Soziologieprofessor, der angeklagt wurde, der FARC anzugehören. Wenige Tage nachdem seine Unschuld bewiesen und er freigesprochen wurde, ist er Opfer eines Mordanschlags geworden.
Die öffentlichen Universitäten prangerten die Festnahme von Oppositionellen während der Seguridad Democrática an und waren sichtbarer Ausdruck des Widerstands. So wurden ihre Mitglieder zum Ziel der staatlichen Verfolgung unter Expräsident Uribe.

Ich selbst hatte einerseits in verschiedenen nationalen und internationalen Zeitschriften Artikel veröffentlicht, in denen ich vom bewaffneten und sozialen Konflikt schrieb. Ich betonte das Widerstandsrecht der Völker und prangerte die Praktiken des Staatsterrorismus an. In gewisser Weise entkräftete und widerlegte ich den Diskurs der Seguridad Democrática, die laut Uribe positive Resultate erzielte. In meinen Artikeln wollte ich zeigen, dass die Seguridad Democrática in Wahrheit die Menschenrechtsverletzungen im Land noch steigerte.

Diesen Standpunkt verteidigte ich auch zu der Zeit, als die FARC und die Regierung von Andrés Pastrana in der entmilitarisierten Zone El Caguán erste Friedensverhandlungen führten (1998-2002 – d. Red.). Ich bekam die Möglichkeit, nach El Caguán zu reisen und mit Guerillaführern wie Raúl Reyes zu sprechen. Das alles spielte zusammen und bedingte meine Verfolgung.

Dies erstreckte sich bis in meine Privatsphäre, denn auch meine Familie sowie Studierende und DozentInnen, die ihre Solidarität mit mir bekundet hatten, wurden verfolgt und belästigt. Man hat sie kriminalisiert, weil sie mich begleiteten, die Solidaritätskampagne unterstützten und weil sie die staatliche Verfolgung anprangerten. Sie erhielten Drohbriefe und wurden ständig überwacht und drangsaliert, einige Studierende mussten deshalb sogar das Land verlassen. Die paramilitärische Gruppe Las águilas negras (Die Schwarzen Adler) setzte diese Verfolgung fort und veröffentlichte ein Kommuniqué gegen einige meiner Kollegen. Die Schikane der Uribe-Regierung ging unter Juan Manuel Santos nahtlos weiter.“

Der Weg von Miguel Ángel Beltrán von seiner Festnahme bis zum heutigen Tag war gezeichnet von medialer Manipulation, politischen Interessen und systematischen Menschenrechtsverletzungen, aber auch immer wieder von unerwarteten Solidaritätsbekundungen. Diese haben bisher leider nicht zu seiner Freilassung geführt. Er selbst zitiert dazu in einer Nachricht aus dem Gefängnis Goethes Faust:
„Mich faßt ein längst entwohnter Schauer
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an.
Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer.“

  • 1. Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, größte Guerillabewegung Kolumbiens