ila

Cubanisch Reisen

Mit dem Zug von Havanna nach Santiago de Cuba

Was tut man, wenn man schnell von Havanna nach Santiago de Cuba möchte, in der Vorweihnachtszeit aber alle Überlandbusse tagsüber ausgebucht sind, Flüge sowieso und man auch keine Lust hat, zwölf Stunden lang auf umgebauten Lastwagen mit nicht abgefederten Sitzen auf der Ladefläche durchgeschüttelt zu werden und bei jedem Hubbel sonstwohin zu fliegen? Da bleibt ja nur noch der Zug. Der hat mit Eisenbahnromantik leider nur wenig zu tun. Die Anschaffung chinesischer Loks im vergangenen Jahrzehnt ist bisher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, andere Lokomotiven (und Waggons) im Bestand sind weit über 40 oder gar 50 Jahre alt.  Hier ist Cuba noch Dritte Welt, wie unter einem Brennglas zeigen sich bei der Eisenbahn die Probleme und Eigenarten des Landes. Ein Selbstversuch.

Andreas Hesse

Die Frau am Schalter lacht: „Wenn Sie seit über 20 Jahren nach Cuba kommen, wissen Sie doch, dass hier alles immer schlechter funktioniert!“  Nein, der Tren especial gehe schon lange nicht mehr, Ersatzteilmangel. Es bleibt der Tren regular, im Volksmund lechero genannt, weil er wie der Milchmann an jedem Gehöft zu halten pflegt, so heißt es. Zuletzt hatte ich diesen Zug vor 19 Jahren genommen. Nun gut, obwohl ich 24-mal so viel zahle wie die Einheimischen, ist die Reise dennoch mit 30 CUC, zu dem Zeitpunkt ca. 29 Euro,  für die knapp 900 km recht günstig. Wenig ermutigend hingegen sind die Warnungen von Freunden und Bekannten, dass man, wenn man Pech habe, auch nach 36 Stunden noch nicht da sei. Jeder weiß: Für eine gründliche Modernisierung fehlt das Geld; trotz aller Bemühungen, die Eisenbahn zu erhalten. Diese Situation macht den Zug in den Augen der Bevölkerung zu einer wenig geliebten Alternative zu anderen Transportmitteln, doch er ist nun mal erschwinglich (30 Pesos Moneda Nacional, umgerechnet zum Kurs im Dezember 2015 sind ca. 1,20 Euro für die gesamte Strecke).

Ankunft eine Stunde vor der planmäßigen Abfahrt um 18:13 (!) Uhr im neuen Bahnhof La Coubre direkt neben dem noch bis 2018 in Restaurierung befindlichen Hauptbahnhof von Havanna.

Die Frage am Infoschalter eine halbe Stunde vor der vermeintlichen Abreise, ob denn alles im Zeitplan sei, wird mit einem: „Bis jetzt sieht es so aus“ beantwortet. 25 Minuten später dann eine scheppernde Durchsage, man entschuldige sich für die Unannehmlichkeiten, aber der Zug, der stehe in der Werkstatt. Aha, und das hatte man vorher nicht gewusst? Also Warten, Zeit, um das bunte Treiben in der Wartehalle zu beobachten. Ein Mann von weißer Hautfarbe und wenig vertrauenerweckender Erscheinung zieht immer neue Waren aus seiner Tasche, Damenschuhe, Damenwäsche, Damenparfums, Herrenparfums und schreit heiser und dennoch laut seine Preisvorstellung in diesem typisch cubanischen Soundbrei durch den Raum: Veinte peso'vamo'veintepeso'! En la chopin' te cue'ta má'! („Auf! Zwanzig Peso! Im Devisenladen kostet es dich mehr!“) Hier gibt es weit und breit keine Polizei, die sich für die vielleicht dubiose Herkunft der Waren interessieren könnte. Sodann erscheint eine christliche Predigerin, die ihren Endlossermon vom Erlöser der Menschheit ohne Punkt und Komma in die Menge ruft und Handzettel verteilt. Die Hälfte einer Gruppe baseballkappencooler Jugendlicher lacht über die Figur, die andere Hälfte nimmt die Handzettel, wie überhaupt erstaunlich viele im Saal. Man ist halt in Lateinamerika. Unter vielleicht 1000 Passagieren reisen nur drei AusländerInnen, neben mir noch ein japanisches Pärchen. Entsprechend gering sind die Deviseneinnahmen für die Bahn.

Wer will, kann eine Cachita erstehen, eine Pappschachtel mit einem Reisgericht ohne Besteck. Gebrauchsanweisung: Man reißt ein Stück Pappe aus der Schachtel und formt daraus mehr oder minder geschickt einen Behelfslöffel. Nach vier Stunden Warten fährt der Zug ein. Zunächst verstaut man eine Riesentraube von Militärs, die ihren Weihnachtsurlaub antreten, dann dürfen auch die normalen Reisenden einsteigen und ihre festen Sitzplätze belegen. Klimaanlage Fehlanzeige, der Waggon Nr. 8 riecht dezent nach Urin, die Toilette soll hier nicht mehr groß beschrieben werden, das Waschbecken ist jedenfalls nur noch Becken, zum Waschen fehlt das Wasser. Mir kommt die Psyche zu Hilfe. Das Unterbewusstsein übernimmt die Steuerung und legt bis zur Ankunft in Santiago jegliche Darmtätigkeit still, ganz ohne Imodium.

Nachdem der Zug einmal aus Havanna raus ist, geht es immerhin recht flott. Die Gleise wurden in den letzten Jahren repariert, die Langsamfahrtzonen reduziert. Und der Zug hält ja doch nicht überall, vielleicht holt er auch die Verspätung wieder raus? Die Euphorie findet in Santa Clara ein Ende. Nach zwei Stunden Warten im Bahnhof der Stadt erfahren wir nur durch beharrliches Nachfragen, was denn eigentlich los ist; Lautsprecherdurchsagen gibt es mangels Lautsprechern keine und die ZugbegleiterInnen sagen von sich aus nichts.
Eine Gruppe Reisender, die nur Tickets bis Santa Clara besitzen, weigert sich auszusteigen, weil sie eigentlich viel weiter wollen. Die neu zugestiegenen Passagiere haben somit keinen Sitzplatz und Stehplätze gibt es im Überlandzug nun mal nicht. Ratlosigkeit, niemand weiß, was zu tun ist, der Zug steht still. Die Polizei wird gerufen, sie droht der Gruppe mit Bußgeldern, was die Reisenden nur mäßig beeindruckt. Die Polizei stellt klar, dass sie die Leute nicht mit Gewalt aus dem Zug holen wird, dafür fehle jegliche Rechtsgrundlage und außerdem seien da schwangere Frauen und kleine Kinder dabei. Beeindruckend, die Supermachos der cubanischen Polizei so hilflos beziehungsweise respektvoll zu erleben. Aber der Zug steht still.

Wir beschließen, uns über den Endlosaufenthalt zu beschweren, und klettern in eine Art Bahnwärterhäuschen auf dem Bahnsteig, wo oben Zug- und Bahnhofspersonal gemeinsam diskutieren und telefonieren. Man ruft in Havanna im Transportministerium an. Ich lerne, dass dort offenbar eine nächtliche Rufbereitschaft für Notfälle existiert. Die zweite gelernte Lektion ist, dass es nichts nutzt. Niemand im Ministerium möchte Verantwortung übernehmen und eine Entscheidung treffen. Eine vom Zugpersonal telefoniert hektisch mit irgendwem: „Hier beschwert sich sogar ein Ausländer!“ Es nutzt wenig, es passiert erst mal nichts. Endlich platzt dem Bahnhofsmann der Kragen. Es reiche ihm nun, er übernehme jetzt die Verantwortung. Der Zug solle weiterfahren, mit allen Leuten an Bord. Doch es dauert noch eine weitere halbe Stunde, bis es tatsächlich dazu kommt. In Camagüey, so versprechen uns die ZugbegleiterInnen, werde es dafür nur 20 Minuten Aufenthalt geben. Niemand glaubt ihnen. Nach eineinhalb Stunden Warten in Camagüey gebe ich den Skeptikern recht. Ich laufe durch den langen Zug, um irgendwo Zugpersonal aufzutreiben. Was ist diesmal passiert? Ein Kind war beim Spielen in einem anderen Waggon verunglückt und musste in die Poliklinik. Und der Zug steht und 1000 Reisende müssen warten, bis das Kind wieder aus der Klinik zurück ist. Hier zeigt sich eindrucksvoll der Respekt gegenüber dem Kind und seiner Mutter. Die anderen Reisenden sind hingegen mehr als genervt. Ein Mann im Gang beklagt sich über das entwürdigende Reisen in diesem Zug mit solchen hygienischen Zuständen. Längst ist der neue Tag angebrochen. Es ist ungewöhnlich heiß für einen Dezembermorgen. Laut Fahrplan würden wir jetzt bald in Santiago einfahren. Das wäre schön.

Als das Kind irgendwann zurückgebracht und die Fahrt fortgesetzt wird, sind die Stopps nicht mehr so lang, dafür aber häufiger. An den Bahnhöfen steigen große Mengen fliegender HändlerInnen ein und versorgen die Reisenden mit Reis und Bohnen, Plätzchen, Bonbons, Crema de leche, Käsebroten, Feuerzeugen, Parfüms, Getränken und Alkohol. Manche HändlerInnen bleiben bis zum nächsten Halt im Zug, laufen ständig hin und her und rufen ihre Ware aus. Die Verkäufe kurbeln die Kommunikation an, jeder spricht mit jedem. Dagegen ist der Überlandbus von Viazul eine kommunikative Tiefkühltruhe. Mein Sitznachbar hat zugelangt und sein Alkoholpegel steigt. Ich besitze für ihn weder Namen noch Identität, sondern heiße nur „maifrén“ (my friend), wie man den Nichtkubaner gern tituliert, und stehe somit für eine anonyme Masse von AusländerInnen. „Hey maifrén, willst du auch 'nen Schluck?“ Nein, lieber die Beine vertreten und ein bisschen durch den Zug laufen.

Zwischen Las Tunas und Alto Cedro folgen weite Strecken durch beinahe unbesiedeltes Land, der Zug fährt auch nicht mehr parallel zur Nationalstraße, sondern links und rechts kommt weit und breit nichts außer Gelände. Endlose Zuckerrohrplantagen wechseln ab mit ebenso endlosen Rinderweiden sowie Gebieten nicht kultivierten Landes, bewachsen unter anderem mit dem hartnäckigen, die Landwirtschaft behindernden, tiefwurzelnden Marabú nebst anderem Gesträuch. Hie und da erkennt man Versuche der Land- und Viehwirtschaft, dem Marabú Gelände abzutrotzen. Der Strauch überwuchert 1,3 Millionen Hektar Land und macht gerade eine zweite Karriere durch, vom Unkraut zum Exportschlager. Der Stamm des Marabú wird zu Holzkohle verarbeitet und nach Europa verschifft. 

Bei diesen Fensterausblicken im Oriente Cubas bietet sich ein Exkurs zu Landwirtschaft und Lebensmitteln an. Zwar wächst die Landwirtschaft der Insel 2015 um etwas unter vier Prozent und liegt somit knapp auf der Höhe des allgemeinen Wirtschaftswachstums, das in diesem Jahr im lateinamerikanischen Vergleich gut abschneidet. Doch das Wachstum wird von der inflationären Preisentwicklung auf den Bauernmärkten mehrfach überrundet. Nicht nur der Bedarf der ständig zunehmenden Paladares, der privaten Restaurants, schafft eine zahlungskräftige und preistreibende Nachfrage, sondern insbesondere auch die Zulassung privater Zwischenhändler hat einen exorbitant inflationären Effekt. Innerhalb von zwei Jahren ist das Pfund Tomaten von ca. 10 Pesos auf ca. 20 bis 25 Peso gestiegen, beinahe so viel wie diese Zugfahrt kostet – da ist ein europäisches Preisniveau nicht mehr fern. Ganz ähnlich sieht es bei anderen Produkten aus. Die Lohnentwicklung steht dazu in keinem vernünftigen Verhältnis, sieht man einmal von den Lohnsprüngen im Gesundheitswesen ab. In der Wahrnehmung der Bevölkerung wird nicht die Einführung kapitalistischer Mechanismen, sondern die sozialistische Regierung, die den Prozess nicht vernünftig steuern könne, für die Situation verantwortlich gemacht. Im Dezember 2015 kommt es in Havanna wegen der Preisexplosion zu Protesten der Bevölkerung auf der Plaza de la Revolución und in den Stadtteilen, am Strand in Guanabo genauso wie in Guanabacoa. Hektische Versammlungen der FunktionsträgerInnen sind die Folge, über die Feiertage gibt es plötzlich zeitlich befristete günstige Märkte in den Stadtteilen, wo die Kooperativen an den Zwischenhändlern vorbei zum direkten Verkauf antreten müssen. 

Zurück zum Zug, der es nun nicht mehr weit hat. Er windet sich von der Hochebene durch die tiefste Stelle der Sierra Maestra hinab nach Santiago de Cuba. Verschwitzt und verstunken krabbeln die Passagiere statt morgens um 10:30 Uhr mit immerhin „nur“ siebeneinhalb Stunden Verspätung um 18:00 Uhr abends aus dem Abteil. 24 Stunden nach planmäßiger Abfahrt, es hätte durchaus schlimmer kommen können. Ich freue mich auf meine Dusche.

Der Ankömmling kann sich nach strapaziöser Reise, wenn er will, vielleicht mit einem Gang durch ein aufblühendes Santiago entschädigen, wo das Hafenviertel (und nicht nur das) unter großen Anstrengungen aufgemöbelt wird, wo ein kleiner Malecón entstanden ist mit Läden, einer cervecería mit hellem und dunklem Bier und Restaurantschiffen in der Bucht. Die Einkaufsstraße Enramada im Zentrum wird restauriert und verlängert bis runter ans Wasser. Im jahrzehntelang sich selbst überlassenen Armenviertel San Pedrito freuen sich die BewohnerInnen über neue Wohnblocks und über das Telefon, das jetzt ein jeder hat, gab es doch früher bestenfalls drei Telefone im ganzen Stadtteil. Endlich ein Ort, in dem so etwas wie Aufbruchstimmung zu existieren scheint, auch wenn die Kosten für Lebensmittel hier ebenfalls aufs Gemüt drücken. Trotz der Preisentwicklung wirken die BewohnerInnen Santiagos gelöster als die Menschen in Havanna, wo sich in den Stadtteilen das Bröseln der Häuser und Gebäude in der Psyche seiner BewohnerInnen widerzuspiegeln scheint. Die Santiaguer@s hingegen sind nach meiner Beobachtung überwiegend stolz darauf, dass sich bei ihnen endlich etwas tut, der Anblick der Uferpromenade ist wie das Versprechen auf eine bessere Zukunft. Nun soll auch der Hafen komplett modernisiert und vergrößert werden.

Getrübt wird die Freude dadurch, dass den ganzen Januar hindurch Erdstöße in Santiago zu verzeichnen sind, die Stadt ist Erdbebengebiet und Haiti ist gerade um die Ecke. Schlimme Erinnerungen werden wach. Der Optimismus ist prekärer Natur, weil von überall her bedroht: vom Lohn-Preis-Missverhältnis bis hin zu seismographischen Ungewissheiten. Wie wird es hier in zehn Jahren aussehen?