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Die Generation „No a la Baja"

Uruguay: Erfolgreiche Kampagne gegen die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters

In den letzten drei, vier Jahren war die öffentliche (Un-)Sicherheit in Uruguay eines der wichtigsten Themen auf der journalistischen und politischen Agenda. In dieser Zeit stieg die Angst der Menschen sowohl in Montevideo als auch im Rest des Landes, Opfer eines Verbrechens zu werden. Zugleich setzte sich die Vorstellung durch, der Anstieg der Straftaten ginge auf das Konto von Jugendlichen. In diesem Kontext lancierte der rechte Flügel der Partido Colorado (eine der beiden großen konservativen Parteien des Landes) eine Kampagne, um das Alter für die Strafmündigkeit von 18 Jahren auf 16 Jahre zu senken: 16-Jährige sollten nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. Anfangs bekam der Vorschlag in Umfragen Zustimmungsquoten von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung, wurde jedoch von internationalen Organisationen scharf kritisiert. Schließlich konnte er durch eine breit angelegte Informationskampagne unter dem Titel No a la Baja, angeführt von jungen Menschen aus verschiedenen sozialen, politischen und kulturellen Spektren, zu Fall gebracht werden.

Rosana Abella
Tatiana Magarinos
Javier Taks

Die allgemeine Unzufriedenheit und das Gefühl steigender Unsicherheit wurde von der Gruppe Vamos Uruguay der geschwächten Partido Colorado aufgegriffen.1 Sie startete eine Unterschriftenaktion zur Durchführung einer Volksabstimmung über die Herabsetzung der Strafmündigkeit von 18 auf 16 Jahre, u.a. in den Fällen von Mord, schwerer Körperverletzung, Raub, Erpressung, Entführung und Vergewaltigung. Unter dem Motto „Para vivir en paz yo firmo“ (Um in Frieden zu leben, unterschreibe ich) wurden Unterschriften für eine Verfassungsänderung gesammelt, damit Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, in Zukunft genauso verurteilt werden wie Erwachsene und nicht mehr nach dem Jugendstrafrecht. Der Begründer der Kampagne, Pedro Bordaberry von der Colorado-Partei, sowie der Herrerismo-Sektor der Partido Nacional (beide repräsentieren die Rechte in Uruguay) begründeten ihre Kampagne mit der steigenden Beteiligung Jugendlicher an schweren Straftaten. Der Kampf gegen die Unsicherheit, die angeblich von Jugendlichen ausgeht, wurde zu einem wichtigen Wahlkampfthema dieser beiden Parteien bei den Präsidentschaftswahlen am 26. Oktober 2014. Nach Daten des anerkannten Meinungsforschungsinstituts CIFRA waren 2011 noch 65 Prozent der UruguayerInnen für die Herabsetzung des Strafmündigkeitalters, so dass es der rechten Kampagne 2011 gelang, sogar mehr als die 250 000 für die Durchführung eines Referendums notwendigen Unterschriften zu sammeln. Das Referendum wurde dann zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen 2014 durchgeführt.

Vor dem geplanten Referendum änderte sich die Berichterstattung in den Medien. Nachrichten über Jugendliche, die Probleme mit dem Gesetz hatten, tauchten nicht mehr nur in den Polizeinachrichten auf, sondern auch auf den Titelseiten, sowie in den Rubriken Editorial, Politik, Gesellschaft: Sie wurden zu einem Wahlkampfthema. Solche Nachrichten, meist über männliche Jugendliche aus den armen Schichten, bekamen so immer mehr Platz in den Nachrichten und den digitalen Medien. Meist waren sie mit Fotos und Bildern von Jugendlichen mit Käppi und Turnschuhen versehen, typisch für die Planchas, die Jugendlichen aus der städtischen Peripherie, wobei hier Peripherie sowohl im geografischen wie im sozialen Sinn gemeint ist. „Natürlich beeinflusst die Art der Berichterstattung in den Medien die soziale Einstellung zu dem Phänomen. Die ständige Betonung eines angeblichen Anstiegs an Straftaten fördert das Auftauchen einer stigmatisierten Figur in der kollektiven  Vorstellung: minderjährig, delinquent, jugendlich“, schreibt der Soziologe Luis Eduardo Morás 2012 in seinem Buch Hijos del Estado.

So kam es zu einer übertriebenen Darstellung junger, männlicher Straftäter in den Nachrichten, wobei positive Nachrichten, wie zum Beispiel sportliche Erfolge unterdrückt wurden. In der kollektiven Vorstellung setzte sich das Bild von armen und „marginalisierten“ Jugendlichen als Straftäter fest. Die Diskussion über die Herabsetzung der Strafmündigkeit sowie eine weitere Reihe von Regierungsvorschlägen, die Strafmaßnahmen zu verschärfen, trugen ebenfalls zu dieser Vorstellung bei.

Mit dem Start der Unterschriftensammlung zur Senkung des Strafmündigkeitsalters begannen auch soziale, gewerkschaftliche, studentische, unabhängige und parteigebundene  Organisationen sich zusammenzuschließen, um die Initiative zu stoppen. Damals hieß es, dass die „Senkung“ des Alters die Unsicherheitsprobleme nicht löse und die Jugendlichen zu einem Leben als Verbrecher verurteile. So wurde die Kommission No a la Baja gegründet, in der sich überwiegend junge Leute zusammenschlossen mit dem Ziel, eine klare Botschaft in der Gesellschaft zu verbreiten: Das Strafmündigkeitalter zu senken ist sinnlos. Dies verschlimmert die Situation und ist schlicht falsch.

Diese heterogene Gruppe beschloss, eine fröhliche Kampagne mit konstruktiven Botschaften zu starten, um so die Angst zu besiegen und Räume zum Nachdenken zu schaffen. Dabei war die Teilnahme des Theaters der Unterdrückten Montevideo (GTO Montevideo) von entscheidender Bedeutung. Die Theatergruppe wurde Mitglied der Kommission und reiste durch ganz Uruguay, um ihr Stück No es un problema menor (Wortspiel: „Es ist kein kleines Problem“ bzw. „Es ist kein Problem von Minderjährigen“) aufzuführen. Das Stück, das auf aktuellen Nachrichten basiert, zeigt die Sensationslüsternheit der Medien, die LeserInnen durch packende Überschriften über jugendliche Verbrecher gewinnen wollte. Nach der Aufführung wurden die ZuschauerInnen eingeladen, ihrerseits Vorschläge für Gesetzesänderungen zu machen, um die aktuelle Situation von Jugendlichen in schwierigen sozialen Verhältnissen zu verbessern.

Die Kommission führte aber auch Workshops und Diskussionsveranstaltungen in Jugendzentren, auf Stadtteilfesten, öffentlichen Plätzen, in Schulen und Universitäten durch. Mit dem Argument, dass die Kampagne zur Senkung des Strafalters nur den Begründern der Kampagne politische Vorteile (nämlich Stimmen) verschaffte, gelang es ihr, immer mehr AnhängerInnen zu finden. Die Jugendlichen wurden zu ProtagonistInnen und gingen gestärkt aus der Gegenkampagne hervor.

Es ist sinnlos. Die Kampagne stritt nicht die Realität ab, die viele UruguayerInnen beunruhigt: dass es in den letzten zehn Jahren eine wachsendes Gefühl von Unsicherheit gibt. Stattdessen wurde erklärt, dass die wachsende Anzahl an Straftaten nicht das Problem der Minderjährigen ist. Nur etwa sechs Prozent der Straftaten geht auf das Konto von jungen Menschen. Und trotz des Gefühls wachsender Unsicherheit ist Uruguay nach dem Global Peace Index 2014, der seit 2007 jährlich 162 Länder klassifiziert, eines der sichersten Länder Lateinamerikas und steht weltweit auf Platz 28.2

Zugleich wurde über das aktuelle Jugendstrafrecht informiert: Jugendliche können ab 13 Jahren verurteilt werden; wenn sie ein schweres Verbrechen begehen, werden ihre Daten bis zum Erwachsenenalter gespeichert. Auch Gefängnisstrafen sind nichts Neues – nur dass sie nach der Verfassungsänderung in Erwachsenengefängnisse eingesperrt würden, ist neu. Auch zum Nachdenken über die Rolle von Gefängnissen wurde angeregt: Diverse Menschenrechtsorganisationen berichteten über die Situation in den Gefängnissen und wie sie darin scheitern, kriminelle Verhaltensweise zu ändern. Zudem sind die Gefängnisse in Uruguay überfüllt und es gibt hohe Rückfallquoten (70 Prozent), was unmittelbar zu der Frage führt: Warum ein System unterstützen, das den Rückfall nicht verhindert? Ist das Einsperren von circa 700 Jugendlichen die Lösung für die Probleme mit der Sicherheit?

Es verschlimmert die Situation. Die Kommission führte verschiedene Konferenzen mit internationalen ReferentInnen zum Thema durch. Mit psychologischen, sozialen und legalen Erfahrungswerten wurde dargelegt, dass das Einsperren eines jungen Menschen in ein feindliches Umfeld nur eins fördert: die Gewalt. Das Gefängnis löst die Verankerung in der Gesellschaft, und das Einsperren immer jüngerer Menschen verurteilt die Jugendlichen zu einem Leben als Verbrecher. Die Idee, dass die Baja, anstatt die Probleme zu lösen, sie noch verschlimmert, begann sich in den sozialen Netzen durch Broschüren und kurze Werbefilme zu verbreiten. In den Werbefilmen traten bekannte KünstlerInnen und Persönlichkeiten auf, wie beispielsweise der Verantwortliche für die nationale Fußballauswahl.

Es ist falsch. Ein anderer Aspekt, über den die Bewegung No a la Baja informierte, war die Tatsache, dass verschiedene internationale Normen und Abkommen derartige Maßnahmen verbieten, die als ein Rückschritt in Menschenrechtsangelegenheiten angesehen werden. So wurden die ablehnende Haltung von UNICEF zur Baja sowie eine Stellungnahme der Vereinten Nationen verbreitet, die zwei Monate vor dem Referendum Folgendes veröffentlichte: „Jede Veränderung der nationalen Gesetzgebung, die es erlaubt, junge Menschen unter 18 als Erwachsene zu verurteilen, ist eine Verletzung der Vereinbarungen, die der uruguayische Staat gegenüber der Konvention über Kinderrechte eingegangen ist. Diese Konvention ist das Menschenrechtsabkommen, das weltweit von den meisten Ländern ratifiziert wurde, und eines der neun Menschenrechtsabkommen, denen sich Uruguay angeschlossen hat.“

Die Aktion No a la Baja erhielt schließlich Unterstützung der Kirche, der Universität und der wichtigsten Gewerkschaften Uruguays und wurde zu einem Thema in den Medien, so dass die ReferendumsbefürworterInnen öffentlich gegen die Kampagne No a la Baja argumentieren mussten. Im Oktober 2014, in der letzten Meinungsumfrage vor den Wahlen, war die Zustimmung zur Verfassungsänderung um 14 Prozent gesunken und lag bei 50 Prozent. Schließlich lehnten die UruguayerInnen die Verfassungsänderung ab, da die notwendige Mehrheit von 50 plus 1 verfehlt wurde (mit 46 Prozent).

Dieser Sieg war für die 53 Prozent der GegnerInnen, aber vor allem für die jungen Menschen, die sich in der Kampagne engagiert hatten, eine großartige Erfahrung. Für viele war es der Beginn eines politischen oder sozialen Engagements, was zu der Bezeichnung „Generation No a la baja“ führte.

Das „Bertolt-Brecht-Haus“ in Montevideo war fast seit Beginn der Kampagne aktiv an ihr beteiligt. Was bedeutet die Generation No a la Baja für die Casa Bertolt Brecht? Es bedeutet das Zusammentreffen von Jugendlichen, einen Lernprozess, mit Unterschieden zu leben, verlorene Schlachten zu schlagen, und schließlich die Fähigkeit, einen Prozess anzuführen und das Ziel zufrieden zu erreichen. Es ist das erste Mal, dass Jugendliche eine Volksabstimmung zu Fall gebracht haben. Es ist das erste Mal, dass die alternde uruguayische Gesellschaft den Jugendlichen einen Raum gelassen hat, den sie eingenommen, verteidigt und in dem sie triumphiert haben.

Seit dem Referendum hat sich die Haltung der Gesellschaft zu den jugendlichen Delinquenten geändert. Zum einen steht das Thema nicht mehr an erster Stelle auf der öffentlichen Agenda. Die meinungsbildenden Massenmedien verbreiten kaum noch Nachrichten dazu. Es ist nicht verschwunden, aber es hat an Bedeutung verloren. Doch das Gesetz Nr. 19055 gilt immer noch. Es wurde 2013 von der Frente Amplio verabschiedet und verurteilt Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren, die eine schwere Straftat begehen, zu mindestens einem Jahr Gefängnis. Die Verabschiedung dieses Gesetzes war ein klarer Rückschritt für das Jugendstrafrecht und wurde von der No a la Baja-Kampagne ignoriert, aber es wurde sehr wohl von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Einige Gruppen versuchen, die öffentliche Behandlung des Themas und die nun bekannte Tatsache, dass die Konvention für Kinder und Jugendliche Gefängnisstrafen nur als das letzte Mittel sieht, zu nutzen, um das Jugendstrafrecht zu reformieren und alternative Maßnahmen zum Freiheitsentzug zu entwerfen.
Uruguay hat sich mit dem Sieg der No a la Baja-Kampagne verändert. Aber es bleibt noch ein langer Weg zu einem Jugendstrafrecht, das die Menschenrechte der Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, garantiert.

Die AutorInnen sind alle in der Casa Bertolt Brecht in Montevideo aktiv. • Übersetzung: Laura Held