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Kino mit Geschichte und Zukunft

Filmland Cuba

Das kleine Land verfügt über eine entwickelte Infrastruktur: zwei Filmhochschulen, zwei Filmzeitschriften, drei internationale und ein nationales Festival, darunter mit dem Festival Internacional del Nuevo Cine Latinoamericano eines der größten der Welt. 1959 wurde das Filminstitut ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos) durch das erste Kulturgesetz der neuen Regierung ins Leben gerufen, dort hieß es programmatisch: „Film ist Kunst“.

Andreas Hesse

In den frühen Jahren der Revolution schufen das ICAIC und seine Filmemacher Außergewöhnliches. Da sei vor allem Tomás Gutiérrez Alea  und seine beiden richtungweisenden Filme aus dieser Zeit erwähnt, zum einen die gesellschaftskritische Komödie Muerte de un burocrata („Tod eines Bürokraten“,1966), über die Peter B. Schumann schrieb: „Alea...stellt das System der verwalteten Welt an den Pranger, überdreht es, bis es sich selbst aufzulösen scheint. Seine Komik ist anarchisch wie die seiner Vorbilder und aggressiv, wenn er am Schluss dem Bürokraten buchstäblich an den Kragen geht und ihn umbringt“ (in „Handbuch des lateinamerikanischen Kinos“, 1982). Zum anderen wurde Alea international bekannt mit Memorias del Subdesarrollo („Erinnerungen an die Unterentwicklung“, 1968), der mit seiner essayistischen Form, der Montage von Spielfilmhandlung und dokumentarischem Archivmaterial in nicht klarer zeitlicher, sondern eher assoziativer Anordnung zu einem Meisterwerk des Weltkinos wurde.

Ein anderer Virtuose assoziativer Montage war Santiago Álvarez. Die von ihm geprägte Wochenschau Noticiero ICAIC ist heute Bestandteil des UNESCO Weltdokumentenerbes. In seinem Werk zwischen Dokumentation und Agitation „stattet die zu den Bildern kontrapunktische Tonspur den ironischen, ja oft sarkastischen Diskurs mit Effekten und musikalischen Kommentaren aus“ (Filmkritiker Enrique Colina). In einer Aufzählung der Klassiker dürfen auch Lucía von Humberto Solás (1968), Aventuras de Juan Quin Quin von Julio García Espinosa (1967) oder De Cierta manera von Sara Gómez (1974) nicht fehlen.

Von Anfang an positionierte sich das cubanische Kino sowohl gegen die Zumutungen eines sozialistischen Realismus als auch gegen Hollywood. „Für ein nicht perfektes Kino“ (Por un cine imperfecto) lautete der programmatische Aufsatz des Filmemachers J.G. Espinosa von 1969. Der Begriff der Perfektion bezieht sich hier nicht nur auf die technische Qualität, sondern auch auf den Anspruch, die eigene Identitätssuche abgeschlossen zu haben und Ergebnisse statt Fragen zu präsentieren oder gar die Prozesshaftigkeit und  Unvollkommenheit des eigenen Entstehungsprozesses zu reflektieren. Das perfekte Kino sei ein reaktionäres Kino, polemisiert Espinosa. Später kokettierte das cubanische Kino spielerisch mit dem Postulat des Unperfekten. In Plaff (1989) von Juan Carlos Tabío rückt sich auch mal der Regisseur selbst ins Bild, entschuldigt sich und erzählt die nächste Szene nach, weil die Ressourcen für den eigentlichen Dreh angeblich nicht mehr gereicht hätten. Trotz alledem war das Kino nun allmählich in konventionellere Zonen vorgedrungen.

In den 90er-Jahren erlebte der Film von der Insel trotz (oder wegen?) der schweren Krise des Landes einen neuen internationalen Boom. Dieser verdankte sich nicht zuletzt „Erdbeer und Schokolade“ (1993) von T.G. Alea, der nicht nur in Berlin den Silbernen Bären holte, sondern auch haarscharf am Oscar für den besten ausländischen Film vorbei schrammte. Der Film behandelt das Thema sexuelle Diversität und noch viel mehr. Er erzählt von Toleranz und Intoleranz sowie gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. „Erdbeer und Schokolade“ löste eine große Neugierde auf ein Land aus, das solche Filme hervorbringt. In etwas kleinerem Maßstab galt der Boom auch Fernando Pérez, dessen Werke Madagascar (1994) und insbesondere La Vida Es Silbar (1997) mit ihrem poetischen und metaphorischen Charakter und ihrer Pérez' Aussage zufolge von René Magritte und Edward Hopper beeinflussten Bildsprache die cubanische Realität in ganz eigener Weise reflektieren.

Neben solchen Ausnahmefilmen gab es ,was gerne vergessen wird, seichte Komödien, die mit ihren Fließbandgags sowohl auf den nationalen Erfolg bedacht waren als auch auf internationale Cubaklischees schielten und diese bedienten. So kritisiert der 2011 verstorbene bekannte cubanische Filmkritiker Rufo Caballero bei Un paraíso bajo las estrellas (2000) von Gerardo Chijona die „plumpe Erzählweise, die Vorhersehbarkeit der Ereignisse, die vermeintlich parodistischen und komödiantischen Geplänkel, die Oberflächlichkeit der Schauspieler, die Kakophonie der Mechanismen der humoristischen Anreize“.

Ebenso wird heute vergessen, dass die Filmproduktion bis weit in die Krisenjahre der 90er hinein am Boden lag und sich wesentlich dank internationaler Koproduzenten am Leben erhalten konnte. Trotz widriger Bedingungen entstanden dennoch in ästhetischer Hinsicht hervorstechende Filme, sei es Nada (2003) von Juan Carlos Cremata oder Suite Habana (2004) von Fernando Pérez.

Doch das Filminstitut ICAIC war nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Wechsel an der Spitze vom charismatischen Alfredo Guevara († 2013), der dem eigenständigen und kritischen Kino der Insel oft genug den Rücken gestärkt hatte, zum blassen Bürokraten Omar González tat der ruhmreichen Institution nicht gut, die finanziellen Nöte kamen verschärfend hinzu. Gleichzeitig schossen mittels der neuen digitalen Möglichkeiten Produktionen jenseits des ICAIC aus dem Boden. Der Paradigmenwechsel hin zu einem unabhängig produzierten Kino kennzeichnete die letzten zehn Jahre. Die neue Welle erfasste ab einem bestimmten Zeitpunkt auch Langfilme sowie wichtige Regisseure wie Pérez oder Cremata. Die Cineasten forderten 2013 in einer Kundgebung vor dem ICAIC, diesen Produktionen durch ein Filmgesetz den notwendigen rechtlichen Rahmen zu geben. Darauf warten sie immer noch. Zumindest hat das ICAIC seit dem Rückzug von Omar González vor zwei Jahren den Tiefpunkt seiner Krise überwunden und ist wieder stärker in filmisch interessante Produktionen eingebunden. 

Cuba zeigt in seiner politischen Verfasstheit Besonderheiten, die durch das Kino bewusst oder unbewusst gespiegelt werden, und es dadurch für die nationalen wie internationalen ZuschauerInnen interessant machen. Manche Filme setzten sich in kritischer Form mit dem eigenen Land auseinander und konnten dadurch im Einzelfall sehr viel bewegen (Erdbeer und Schokolade war für die Emanzipation der Homosexuellen ein Meilenstein), wovon das Medium Film in anderen Ländern nur träumen kann. Andererseits haben Reibereien zwischen Kunst und Politik in Einzelfällen zu ernsthaften Zusammenstößen geführt.
Alicia en el pueblo de las Maravillas (1990) von Daniel Díaz Torres erschien im historisch falschen Moment, das realsozialistische Osteuropa verdampfte gerade, Cuba trieb allein wie eine Nussschale auf dem Ozean und die Wirtschaft krachte zusammen. Der Film, der sich mit Phänomenen wie Machtmissbrauch und diversen charakterlichen Deformationen von Funktionsträgern in satirischer Form auseinandersetzt, wurde nach heftiger und polemischer Debatte nach wenigen Tagen aus den Kinos verbannt. Im Rahmen der Retrospektive im Filmfestival in Havanna zu Ehren des 2013 verstorbenen Regisseurs wurde der Film nach langen Jahren endlich wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Nicht dass es vorher nie Zensur gegeben hätte (1961 traf es P.M. von Sabá Cabrera Infante und Orlando Jiménez-Leal), das Geschehen um Alicia en el pueblo de las Maravillas stellte aber den international am stärksten beachteten Fall dar. Regisseur Daniel Díaz Torres blieb bis zu seinem Tod überzeugter Revolutionär, sein umstrittenster Film steht insofern auch innerhalb der Revolution, so polemisch er auch sein mag. „Es wäre für mich schmerzhaft, die Aufgabe der Kunst, Aspekte der Realität zu problematisieren, zu umgehen oder auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu schieben, denn so würden wir unserem Gegner das Feld der Kritik an unseren Unzulänglichkeiten und Irrtümern überlassen.“ (D.D. Torres, zitiert in Cine Cubano, Nr. 191, Januar-März 2014)

Mont Rouge (2004), der erste aus der beliebten Reihe satirischer Kurzfilme des Schriftstellers und Filmemachers Eduardo del Llano, der auch am Drehbuch zu Alicia... beteiligt war, lief nirgendwo, kursierte stattdessen unter der Hand. Der Film behandelte eines der letzten Tabus, den cubanischen Geheimdienst, in sehr durchdachter, satirisch überspitzter Form. Del Llanos folgende und ebenso kritischen Kurzfilme liefen dagegen auf den Festivals im Land.
Ein Akt der Zensur überschattete das letzte Festival Internacional del Nuevo Cine Lartinoamericano im Dezember 2013: Retour à Ithaque vom französischen Regisseur Laurent  Cantet wurde kurzfristig aus dem Programm genommen. Der Film erhielt in Frankreich zwar keine guten Kritiken, in Cuba aber die höheren Weihen durch den Reiz des Verbotenen. Cubanische Cineasten und Intellektuelle protestierten empört gegen die unverständliche Entscheidung (siehe Interview auf S. 46-47).

Abgesehen von diesem Sonderfall zeigt das Festival mit hohem Selbstbewusstsein auch kritische Produktionen. Vor allem aber ist es eines der größten Festivals der Welt und weniger elitär als andere, ein Festival für alle. Hier trifft im Publikum der coole junge Hiphopper, der um die Ecke wohnt, auf die Architektin aus Santa Clara, die sich extra ein paar Tage frei genommen hat, um in Havanna dabei zu sein. Bei populären Filmen (wie in diesem Jahr der argentinische Eröffnungsfilm Relatos salvajes – dt. Verleihtitel „Wild tales“ von Damián Szifrón) windet sich die Warteschlange schon zur Mittagsvorstellung um mehrere Häuserblocks. Dabei sind manche Kinos riesig, das Yara fasst ca. 1500 ZuschauerInnen. Doch es gibt auch das andere Extrem. Bei Kurzfilmen im Multicine Infanta oder im 23 y 12 kann es passieren, dass sich nur wenige im Saal verlieren.
Auch das europäische und internationale Kino hat hier seinen Platz, wenn auch nicht im Wettbewerb; Regisseure aus anderen Teilen der Welt stellen ihre Werke vor. Dieses Mal gab es aus dem deutschsprachigen Raum eine große Werkschau des Österreichers Ulrich Seidl, darunter auch der gut besuchte neue Dokumentarfilm Im Keller. Die deutsche Reihe im Kino Acapulco erfreut sich seit den Präsentationen von Goodbye Lenin und Das Leben der Anderen jedes Jahr besonderer Aufmerksamkeit. In diesem Festival gab es u.a. Die andere Heimat von Edgar Reitz sowie The Cut von Fatih Akin zu sehen, beide Filme mit Bezügen zu Lateinamerika, in Akins Film ist es Cuba.

Interesse weckte diesmal die Reihe Los colores de la diversidad, in der es vor allem um sexuelle Diversität in Lateinamerika ging. Dieses Thema stand auch beim Gewinner des Publikumspreises im Vordergrund: Vestido de Novia von der Cubanerin Marilyn Solaya beruht auf realen Begebenheiten und erzählt die Geschichte einer Frau, die sich gegen eine feindliche Umwelt wehren muss, als ihr geheim gehaltenes früheres Leben als Mann bekannt wird. Eine bewegende Geschichte über Normabweichung, Selbstbestimmung und Intoleranz in der Nachfolge von „Erdbeer und Schokolade“. Der große Gewinner des Festivals war aber ein anderer cubanischer Film, Conducta von Ernesto Daranas, der mit der Geschichte eines Sohnes einer alkoholabhängigen Mutter in spannender Form von Marginalisierung und Vernachlässigung erzählt. Marginalisierung spielt auch eine Rolle in Canción de barrio von Alejandro Ramírez Anderson über die Tournee des wohl berühmtesten lateinamerikanischen Liedermachers Silvio Rodríguez durch benachteiligte Stadtteile Havannas. Der Film macht neben den Musikern die BewohnerInnen dieser Stadtteile mit ihren Sorgen und Nöten zu ProtagonistInnen und löste damit emotionale Reaktionen aus. Schon in den Vorjahren waren die VerliererInnen einer sich im Reformprozess ausdifferenzierenden Gesellschaft in Dokumentar- (Buscándote Habana von Alina Rodríguez) oder Spielfilmen (Habanastation von Ian Padrón) ins Bild gerückt worden. Der cubanische Film kehrt hiermit inhaltlich zurück zu seinen Wurzeln, zurück zu Sara Gómez (De cierta manera), die die Thematik vier Jahrzehnte früher fokussierte.
Auch Fernando Pérez' jüngster Film sorgte für ein sichtlich bewegtes Festivalpublikum: La Pared de las Palabras spielt teilweise in einer psychiatrischen Klinik.

Der cubanische Film ist nicht mehr das spektakulär-experimentelle Kino der 60er-Jahre, hat sich aber in quantitativer wie qualitativer Hinsicht stabilisiert. Ob er in staatlichen oder unabhängigen Strukturen entsteht, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Der cubanische Film hat eine Zukunft.