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Die Suche geht weiter

Angehörige der verschwundenen mexikanischen Studierenden und Menschenrechtsgruppen bezweifeln die offizielle Version

Die Rechnung ging nicht auf: Im Dezember erwartete die mexikanische Regierung sehnlichst die Weihnachtsferien. Sie hoffte, das Thema der verschwundenen Lehramtsstudierenden aus Ayotzinapa käme so endlich aus den Schlagzeilen. Monat um Monat vergeht, seit organisiertes Verbrechen und die Polizei der Stadt Iguala die Studierenden attackierten, dabei sechs Personen töteten und 43 verschwinden ließen. Aber die Proteste gegen das Ermittlungsvorgehen der Regierungsinstitutionen hören nicht auf. Die Spannbreite reicht nach wie vor von Demonstrationen über Blockaden, angezündete Polizeifahrzeuge und die Besetzung öffentlicher Einrichtungen. Vor allem im Bundesstaat Guerrero haben die Aktionen unter Beteiligung der Lehrergewerkschaft Ceteg erneut an Intensität gewonnen. 

Gerd Goertz

Die Wahrheit kommt nicht ans Licht. Ende November konnte mit dem 19 Jahre alt gewordenen Alexander Mora Venancio der erste und bisher einzige der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa von den Forensikexperten der Universität Innsbruck anhand eines verkohlten Knochens identifiziert werden. Statt einer wirklichen Aufklärung des nach offizieller Darstellung ausschließlich von örtlichen mexikanischen Polizisten und dem Drogenkartell Guerreros Unidos begangenen Verbrechens ist die Situation noch komplexer geworden. Die angesehene mexikanische Wochenzeitung Proceso berichtete noch im vergangenen Jahr in einer Titelgeschichte, dass die Attacke vom 26. September auf die studentischen Lehramtswärter von Ayotzinapa in wesentlichen Teilen „„von der Bundespolizei orchestriert und ausgeführt wurde, mit der Komplizenschaft oder offenen Mitarbeit der Armee““.
Die Fronten sind klar. Die mexikanische Generalbundesstaatsanwaltschaft (PGR) sieht alle Ermittlungslinien als erschöpft an. Sie hält an der Version fest, dass die Studierenden nach der Übergabe durch die Polizei auf einer Müllhalde in Igualas Nachbarkommune Cocula von Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos umgebracht und komplett verbrannt wurden. Zahlreiche Experten halten zumindest die komplette Verbrennung in Cocula angesichts des strömenden Regens in der Nacht des Verbrechens und der notwendigen Temperaturen für unmöglich. Fast 100 Personen sind inzwischen im Zusammenhang mit dem Verbrechen verhaftet worden, darunter mehrere der mutmaßlich ausführenden Täter und das als Drahtzieher angesehene Bürgermeisterehepaar von Iguala. Doch eine konsistente Schilderung des Tathergangs gibt es nach wie vor nicht. Die Ermittlungsbehörden genießen keine Glaubwürdigkeit bei den Familienangehörigen. Zudem gibt es neue, auf der Geolokalisierung von Mobiltelefonen der Studierenden beruhende Spekulationen. Danach könnten die Verschwundenen zumindest zeitweise auf dem Kasernengelände des in Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons festgehalten worden sein.
Am 12. Januar gab es mehrere Verletzte bei einem Zusammenstoß von Militärs sowie Angehörigen und Kommilitonen der Verschwundenen vor dem Kasernentor. Jetzt sollen zumindest die Tore der Kaserne in Iguala für Angehörige und Vertreter der staatlichen Menschenrechtskommission geöffnet werden. Ein symbolischer Akt. Niemand rechnet damit, dass damit neue Erkenntnisse einhergehen werden. Der mexikanische Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong hat die Regierungsposition deutlich gemacht: „„Es gibt das Interesse, Falschwissen zu schaffen und unsere Armee und unsere nationalen Einsatzkräfte in die Geschehnisse von Iguala zu verwickeln. Die Regierung weist diese Anschuldigungen kategorisch zurück.““ Das Militär ist in Mexiko nach wie vor praktisch unantastbar.

Die Regierung hat auch ansonsten wenig dazu beigetragen, Wut und Zorn der Familienangehörigen der Opfer zu besänftigen. Im Januar teilten die Forensikexperten der Universität Innsbruck den mexikanischen Autoritäten mit, mit den bisherigen Methoden keine DNA-Profile aus den übrigen ihnen zugesandten 16 Knochen- und Ascheproben herstellen zu können, bei denen es sich um Überreste der verschwundenen Studierenden handeln könnte. Die Generalbundesstaatsanwaltschaft unter Jesús Murillo Karam machte dies öffentlich, ohne zuvor die Familienangehörigen unterrichtet zu haben. Mit diesen hatte sie im November 2014 ausdrücklich vereinbart, jegliche sensible Information zuerst mit ihnen zu besprechen. Die PGR autorisierte die österreichischen Forensiker zudem, weitere Untersuchungen mit noch spezielleren Methoden vorzunehmen, ebenfalls ohne Absprache mit den Angehörigen der Studierenden. Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto hatte es bis Ende Januar in sage und schreibe vier Monaten nicht ein einziges Mal geschafft, an die Tatorte in den Landkreisen Iguala und Cocula zu reisen. Es sieht auch nicht so aus, als hätte er daran irgendein Interesse.
Die politische Devise lautet weiterhin, nach Lebenden zu suchen, solange die Ermordung der Studierenden nicht zweifelsfrei feststeht. Im Januar führte eine in mehrere Gruppen aufgeteilte „„Bürgerkarawane““ die abseits vom Staat durchgeführte Suche nach den Verschwundenen weiter. An der Karawane nehmen Familienangehörige, Mitstudierende, selbstorganisierte Gemeindepolizei aus mehreren Landkreisen und einzelne Bürger teil. Den Anfang machte Iguala, andere Regionen im Bundesstaat Guerrero folgen. Makabererweise führten die vergangenen Suchen regelmäßig zum Aufspüren von weiteren geheimen Massengräbern in der Umgebung von Iguala und auch anderen Städten in Guerrero. „„Höllenstadt Iguala““ beschrieb jüngst ein Zeitungskommentar die Situation, die dort in den vergangenen Jahren unter den Augen der regionalen und nationalen Behörden herrschte.
Iguala scheint so weit weg und ist doch so nah. Nach der Attacke auf die Studierenden beschlagnahmten die Ermittlungsbehörden aus Guerrero unter anderem 97 Gewehre aus dem Depot von Felipe Flores Velázquez. Flores war damals Polizeichef von Iguala und ist immer noch flüchtig. Unter den Waffen befanden sich 37 Sturmgewehre des Typs G36 vom deutschen Rüstungsunternehmen Heckler & Koch (H & K). Das geht aus Listen von überprüften und zeitweise sichergestellten Gegenständen der Staatsanwaltschaft von Guererro hervor. Mehrfach ist in der Vergangenheit in deutschen und mexikanischen Medien über die Präsenz deutscher Waffen in Guerrero berichtet worden, vor allem die deutsche taz hat hier Pionierarbeit geleistet. Nach den Bestimmungen der Exportgenehmigung hätten die Waffen nie nach Guerrero kommen dürfen. Es ist bisher nicht nachgewiesen, aber denkbar: Aus G36-Gewehren könnten in der Nacht vom 26. auf den 27. September die tödlichen Schüsse auf die Studierenden und die wohl mit diesen verwechselten Insassen des Busses einer jugendlichen Fußballmannschaft abgegeben worden sein. Der Tod nach wie vor – auch – ein Meister aus Deutschland?!

Mexikos Außenminister José Antonio Meade kam am 20. Januar zu einem Kurzbesuch nach Deutschland. Zuvor versicherte er in einem mit der Deutschen Presse-Agentur geführten Interview, er verfüge „„über kein Element““, das ihm erlaube, die „„Beschlagnahme““ von H & K-Waffen zu bestätigen. Angesichts der vorliegenden Listen eine Wortklauberei und kaum erklärliche Aussage – die möglicherweise doch vieles erklärt. Meade reihte sich in Berlin in die Reihe der mexikanischen Regierungsrepräsentanten ein, die die Gewalt in Mexiko herunterspielen. Nicht nur im Fall der verschwundenen Studierenden wird alles auf die Komplizenschaft von Politik und organisiertem Verbrechen auf kommunaler Ebene abgeschoben. Da wirkte es schon ein bisschen tragikomisch, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier deutsche Hilfe bei der Aufklärung des Verbrechens anbot und sich ansonsten „„konsterniert““ über die Tat zeigte. Die Information über die deutschen Gewehre sowie die mögliche direkte Beteiligung von mexikanischer Bundespolizei und Armee an dem Verbrechen dürfte die deutsche Bundesregierung in weitere Rechtfertigungsnöte bringen. Sie hält bisher trotz wiederholter Parlamentskritik aus den Reihen der Linken und der Grünen an dem Vorhaben fest, in Kürze ein Sicherheitsabkommen mit Mexiko abzuschließen.
In Mexiko stellt sich die Frage, wie die Regierung in den kommenden Wochen mit den Protesten umgehen wird. Es nähern sich die Parlamentszwischenwahlen im Juni sowie regionale Wahlprozesse, unter anderem im Bundesstaat Guerrero. Dort fordern die Familienangehörigen der Studierenden, die LehrerInnengewerkschaft Ceteg sowie weitere Organisationen bisher vergeblich die Aussetzung der Wahlen. Die brutalen Verhaftungen nach der Massendemonstration am 20. November in der Hauptstadt und die Verbringung der Beschuldigten in Hochsicherheitsgefängnisse (vgl. ila 381) erwiesen sich für die Regierung als Bumerang. Alle Verhafteten, darunter ein chilenischer Student, wurden mangels Beweisen freigelassen. Auch die wenige Tage später in Mexiko-Stadt durchgeführte faktische Verschleppung des Studenten Sandino Bucio durch in Zivil gekleidete Mitglieder der Generalbundesstaatsanwaltschaft endete im Fiasko. Passanten filmten auf ihrem Handy, wie Bucio in ein Auto gezerrt wurde. Kurz darauf war die Passage im Internet zu sehen. Vielleicht die Rettung für den 25-jährigen Dichter und studentischen Aktivisten, denn während seine Entführer Bucio mehrere Stunden durch die Stadt fuhren, drohten sie ihm nach seinen Aussagen, ihn „„wie die Studenten von Ayotzinapa““ verschwinden zu lassen. Stattdessen wurde er in den Hauptsitz der PGR gebracht und nach einem Verhör freigelassen.
Im Dezember enthüllte das Journalistenteam des mexikanischen Print- und Digitalmediums Reporte Indigo, dass der mexikanische Geheimdienst (er firmiert unter „„Zentrum für Forschung und Nationale Sicherheit“ “– – Cisen) die MitarbeiterInnen des Menschenrechtszentrums Tlachinollán in Guerrero gezielt unter die Lupe nimmt. In den Unterlagen des Cisen werden Direkter Abel Barrera und Anwalt Vidulfo Rosales namentlich genannt. Rosales vertritt die Familienangehörigen der verschwundenen Studenten. Ihm und Barrera werden Kontakte zu radikalen und subversiven Gruppen in Guerrero vorgeworfen. Beide seien „„gefährlich für die Regierbarkeit““, so zitiert Reporte Indigo aus dem Archiv des Cisen. Noch im November 2014 war Regierbarkeitsgefährder Abel Barrera auf einer zehntägigen Rundreise in Deutschland und informierte ausführlich über die Lage in Guerrero. Perseo Quiroz, der das Mexiko-Büro von Amnesty International koordiniert, sprach vor wenigen Tagen davon, dass die Regierung auf die Vorwürfe der Familienangehörigen der Studierenden angesichts fehlender Ermittlungsergebnisse mit einer Strategie reagiere, „„deren Forderungen zu delegitimieren““ und die Angehörigen als gewalttätig und unnachgiebig zu präsentieren. Erika Guevara Rosas, die Lateinamerikadirektorin der Organisation, forderte die Regierung stattdessen auf, neue Ermittlungslinien zu verfolgen und dabei vor den Streitkräften nicht haltzumachen.