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Hart erkämpfter Sieg

Dilma Rousseff bleibt Präsidentin in Brasilien

Am Ende hat es doch gereicht. Mit 51,64 Prozent der Stimmen gewann Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT am 26. Oktober die zweite Runde der Präsidentschaftswahl gegen ihren Kontrahenten Aecio Neves von der rechtsliberalen PSDB. Bis kurz vor dem Stichwahltermin hatte Neves, unterstützt von einer breiten Koalition rechter und zentristischer Parteien, den Unternehmerverbänden und den meisten (privaten) Medien, in den Umfragen knapp vorne gelegen. Dilma Rousseff siegte aufgrund der überwältigenden Zustimmung in den ärmeren Bundesstaaten des Nordens und Nordostens, wo bis zu 80 Prozent der WählerInnen für sie votierten. In den meisten wohlhabenderen Bundesstaaten des Südens und Südostens lag dagegen Neves vorne.

Gert Eisenbürger

Die wirtschafts- und sozialpolitische Bilanz nach drei von der PT seit 2003 geführten Regierungen kann sich sehen lassen: Die Armut wurde deutlich reduziert, viele vormals Arme schafften den Sprung in die (untere) Mittelschicht und selbst den bisher Privilegierten geht es nicht schlechter als vor zwölf Jahren, im Gegenteil. Dennoch geriet Präsidentin Dilma Rousseff, die im März 2013 noch auf 79 Prozent Zustimmung zu ihrer Politik verweisen konnte, im letzten Jahr so stark in die Defensive, dass ihre Wiederwahl am Ende gefährdet war.

Im Juni 2013 erlebte Brasilien die größte Protestwelle seit Ende der Militärdiktatur. Vor allem in den großen Städten gingen Hunderttausende vorwiegend junge Menschen auf die Straße, um gegen die Milliardenausgaben für die Fußball-WM, rasant steigende Mieten, Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, für bessere Schulen und den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens zu demonstrieren. Neben solchen Themen trieb die DemonstrantInnen ein diffuses Unwohlsein über „die PolitikerInnen“ an, deren ständiges Geschachere und Selbstbedienungsmentalität sie aufbrachten. Dieser Zorn traf auch und gerade die PT.

Die Arbeiterpartei, die 1980 aus den beeindruckenden Streikbewegungen der späten 70er-Jahre entstanden war, galt vielen BrasilianerInnen mehr als zwei Jahrzehnte als ein alternatives politisches Projekt. Hier war eine Partei, in der nicht die traditionellen Oligarchie- und Politikerfamilien ihre Interessen durchsetzten und sich Staatsaufträge, Gelder und Pöstchen zuschoben, sondern eine, in der GewerkschafterInnen, AktivistInnen sozialer Bewegungen und kritische Intellektuelle den Ton angaben. Die PT galt als Linkspartei neuen Typs, linkssozialistisch, basisdemokratisch und offen für neue politische Fragestellungen und Themen. Dazu kam das Charisma ihrer Symbolfigur Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, Sohn bitterarmer Eltern aus dem Nordosten Brasiliens, der sich schon als Kind seinen Lebensunterhalt verdienen musste, später als Werkzeugmacher bei VW do Brasil arbeitete und schließlich 1978-80 als Sprecher der streikenden Autobauer zur Symbolfigur der demokratischen Bewegung gegen die Militärdiktatur wurde.

Bei den ersten freien Wahlen nach Ende der Diktatur trat Lula 1989 als Kandidat der PT gegen den konservativen Medienliebling Fernando Collor de Mello an. Obwohl er lange in den Meinungsumfragen vorne gelegen hatte, verlor Lula am Ende knapp. Danach begannen die Machttechnokraten in der PT, unterstützt durch internationale BeraterInnen, etwa aus der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Arbeiterpartei „regierungsfähig“ zu machen: Radikale Forderungen wurden aus dem Parteiprogramm entfernt, die Beziehungen zu den Unternehmerverbänden verbessert, der Einfluss der Basis und sozialen Bewegungen zurückgedrängt. Doch der Erfolg blieb zunächst aus. Lula verlor zwei weitere Präsidentschaftswahlen. 2002 war es dann soweit. Lula setzte sich in der entscheidenden Stichwahl gegen den PSDB-Kandidaten José Serra durch und wurde Präsident.

Die PT war zu diesem Zeitpunkt eine weitgehend sozialdemokratische Partei, die keine Umverteilung mehr anstrebte, wohl aber die wirtschaftlichen Zuwächse auch den Armen zukommen lassen wollte. Lula hob als Präsident das Zero Fome (Null Hunger)-Programm aus der Taufe, um endlich den Skandal zu beenden, dass in Lateinamerikas wichtigstem Industriestaat noch immer massenhaft Menschen hungerten, vor allem im verarmten Nordosten. Hunderttausende von in extremer Armut lebenden Familien kamen fortan in den Genuss des Programms Bolsa Familia, einer Mischung aus Kindergeld und Sozialhilfe. Damit wurde der Hunger in Brasilien tatsächlich weitgehend besiegt. Die soziale Apartheid in den Städten konnte allerdings nicht beseitigt werden.

Ansonsten betrieb Lula in Abstimmung mit den Wirtschaftsverbänden eine Wachstumspolitik, die – durchaus im Sinne des bis dahin gültigen neoliberalen Credos – die Exportwirtschaft förderte und die trotz Brasiliens entwickelter Industriestruktur weiterhin überwiegend Primärgüter produziert. Allerdings kurbelten die PT-Regierungen durch kontinuierliche Erhöhungen der Mindestlöhne den internen Konsum an und stärkten damit die auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrie. Das Konsumniveau, besonders der ärmeren BrasilianerInnen, stieg beachtlich.

Obwohl Lula in den Stichwahlen mit großer Mehrheit ins Präsidentenamt gewählt wurde und die PT die stärkste Fraktion im Kongress stellte, repräsentierte sie nie mehr als 20 Prozent der Abgeordneten. Das heißt, sie musste breite Koalitionen mit den Parteien des sogenannten Zentrums bilden. Außer der PT und der ehemals maoistischen, heute linkssozialdemokratischen Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) gibt es im brasilianischen Parlament aber keine Parteien im europäischen Sinn, also politische Vereinigungen, deren Mitglieder sich auf einer gemeinsamen ideologischen Grundlage zusammengeschlossen haben. Die brasilianischen Parteien sind Wahlvereine, die die abenteuerlichsten Bündnisse eingehen, um sich Pöstchen und Sitze zu sichern. Auch wenn sie Namen wie „Sozialistische Partei Brasiliens“ (PSB), „Sozialistische Volkspartei“ (PSP), „Grüne Partei“ (PV) oder „Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens“ (PMDB) führen, bedeutet das nicht, dass sie für fortschrittliche oder ökologische Inhalte stünden. Ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten wechselt während der Legislaturperiode die Partei/Fraktion, wenn eine andere ihnen bessere Angebote macht. Zustimmung zu Gesetzesvorlagen haben sich die Fraktionen und Abgeordneten stets in bar honorieren lassen. Weil sie regieren wollte, machte nun auch die PT da mit und hatte bald den ersten großen Skandal, als ruchbar wurde, dass und wie der damalige Parteichef José Dirceu diesen Stimmenkauf im Parlament organisierte.

Die Beteiligung der PT an diesem Spiel ermöglichte ein weitgehend reibungsloses Funktionieren ihres Regierungshandelns, brachte ihr aber bald den Vorwurf ein, nicht besser zu sein als die anderen PolitikerInnen. Das wurde richtig problematisch, als Lula nach zwei Amtszeiten nicht wieder kandidieren durfte und Dilma Rousseff seine Nachfolgerin wurde. Eine Stärke Lulas war – und ist – seine ungeheure Kommunikationsfähigkeit. Obwohl sich die PT längst von ihren linken und basisdemokratischen Wurzeln entfernt hatte, vermittelte er den sozialen Bewegungen stets, ein offenes Ohr für ihre Anliegen zu haben, und unterstrich das auch durch beschränkte, aber symbolträchtige Maßnahmen. Dilma Rousseff hat diese Fähigkeit nicht.

So entlud sich im Juni 2013 der Zorn jugendlich-mittelständischer DemonstrantInnen im besonderen Maße auf Rousseff, schließlich ist sie als Präsidentin oberste Politikerin. Die Rechte erkannte in dieser Situation ihre Chance und versuchte, unterstützt von den überwiegend konservativen Medien Brasiliens, mit einigem Erfolg die Bewegung zu instrumentalisieren und den Eindruck zu vermitteln, sie richte sich allein gegen die vermeintlich korrupte PT-Regierung. Die liberal-konservativen Gouverneure der Provinzen Rio und São Paulo, deren Maßnahmen (zum Beispiel die Fahrpreiserhöhungen) die Proteste ausgelöst hatten, waren damit aus der Schusslinie (und wurden jetzt auch mit sehr guten Ergebnissen wiedergewählt).

Dilma Rousseffs Versuche eines Dialogs mit den Protestierenden wurden von diesen als halbherzig bewertet, auch deshalb, weil die bürgerlichen Koalitionspartner ihre Zusagen für Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen blockierten.

So war die Präsidentin bereits in der Defensive, als ein Flugzeugabsturz den Wahlkampf veränderte. Dabei kam am 13. August dieses Jahres Eduardo Campos, der Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB), ums Leben. Als Nachfolgerin von Campos, der in Umfragen zu diesem Zeitpunkt bei 6-8 Prozent der Stimmen gelegen hatte, nominierte die PSB kurzfristig ihre bisherige Vizepräsidentschaftskandidatin Marina Silva. Obwohl diese der konservativ-evangelikalen Assembleia de Deus angehört und wirtschaftspolitisch eine Liberale ist, gilt sie vielen BrasilianerInnen als „andere“ Politikerin. Die Tochter einer armen Tagelöhnerfamilie aus dem Amazonasstaat Acre war lange in der PT und gehörte der ersten und zweiten Regierung Lulas als Umweltministerin an, ehe sie sich 2008 wegen verschiedener ökologisch problematischer Großprojekte mit Lula und dessen damaliger Kabinettschefin Dilma Rousseff überwarf und zurücktrat. Seitdem hat sie das Image, ihr seien politische Überzeugungen wichtiger als Posten.

2010 trat sie als Kandidatin der relativ unbedeutenden Grünen Partei (PV) an und erreichte im ersten Wahlgang 19 Prozent der Stimmen. 2014 nahm sie das Angebot der PSB an, für diese als Vizepräsidentin zu kandidieren. Als sie dann nach dem Tod von Campos als dessen Nachfolgerin nominiert wurde, war sie der Shootingstar in den Umfragen. Kurzzeitig lag sie vor Dilma Rousseff und deutlich vor Aecio Neves von der PSDB, dem gemeinsamen Kandidaten der Rechten. Diese erkannten plötzlich die unverhoffte Chance, Dilma abzulösen, weil Marina Silva trotz ihres deutlichen Rechtsschwenks seit 2008 auch für progressive WählerInnen attraktiv war. Ende August schien alles auf eine Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und Marina Silva hinauszulaufen. Allerdings gelang es der PT in den Wochen vor dem ersten Wahlgang am 5. Oktober, die Widersprüche zwischen der liberal-evangelikalen Orientierung Silvas und ihrem progressiven Image aufzuzeigen und ihren Höhenflug zu bremsen. Am 5. Oktober erreichten Dilma Rousseff 41,59 Prozent, Aecio Neves 33,55 und Marina Silva nur 21,32 Prozent der Stimmen. Das bedeutete eine Stichwahl zwischen Dilma Rousseff und Aecio Neves.

Da Marina Silva und die PSB Neves ihre Unterstützung zusicherten, hatte dieser nun die bessere Ausgangsposition, da er und Silva zusammen rund 55 Prozent der Stimmen gewonnen hatten. Angesichts der Perspektive eines konservativen Rollbacks mobilisierten die sozialen Bewegungen der Landlosen, der Kleinbauern und -bäuerinnen, der AfrobrasilianerInnen, die FeministInnen, die LGBT-Community und andere alle Kräfte zur Unterstützung von Dilma, trotz der Widersprüche, die sich in den letzten Jahren aufgetan hatten. Dazu trat Lula noch einmal groß in Aktion. Und tatsächlich gelang es, die Stimmung wieder zu drehen und die knappe Wiederwahl Dilmas zu sichern.

Wie oben beschrieben, haben die von der PT geführten Regierungen in den letzten zwölf Jahren eine Politik betrieben, die den wirtschaftlichen Machtgruppen nicht wehtat und die traditionellen Mittelschichten nicht belastete. Wäre es da eigentlich nicht unerheblich, ob die Mitte-Links-Kandidatin Dilma Rousseff oder der Mitte-Rechts-Kandidat Aecio Neves künftig Brasiliens Regierung führt, zumal beide im Parlament mit denselben Parteien über Mehrheiten verhandeln müssen?

Keineswegs, denn die Wahl von Neves, der klar neoliberale Positionen vertrat und für den Fall seines Sieges eine neue Privatisierungswelle ankündigte, hätte ein Rollback bedeutet, das jenseits von Brasilien ganz Lateinamerika verändert hätte. Trotz seiner Ankündigung, die von den PT-Regierungen aufgelegten Sozialprogramme, insbesondere Bolsa Familia, fortzuführen, glaubten ihm Brasiliens Arme nicht und stimmten ganz überwiegend wieder für Rousseff. Ich denke, sie taten gut daran.

Außenpolitisch hätte ein Wahlsieg von Neves die Situation der linken Regierungen und die Integrationsbemühungen auf dem Kontinent erschwert. Durchaus mit dem Interesse, die wirtschaftliche und politische Hegemonie in Lateinamerika auszubauen, haben die PT-geführten Regierungen die lateinamerikanischen Integrationsbestrebungen gefördert und sehr genau darauf geachtet, dass die USA und Europa in Lateinamerika nicht mehr so walten konnten, wie sie es früher taten. Destabilisierungsprozesse gegen progressive Regierungen haben brasilianische Diplomaten ebenso kritisiert, etwa die de-facto-Staatsstreiche in Honduras und Paraguay. Das hat den linken Regierungen Boliviens und Venezuelas politische Spielräume gesichert.

Für Dilma Rousseff wird das Regieren künftig nicht einfacher. Der Kongress ist noch weiter nach rechts gerückt, der Druck von Wirtschaftsverbänden, Koalitionspartnern und Medien, wirtschaftspolitische, sprich neoliberale Reformen anzugehen, wird angesichts schlechterer Wirtschaftsdaten in einer sich abkühlenden Weltkonjunktur wachsen. Es ist ungewiss, ob Rousseff diesem Druck widerstehen kann und will. Die Hoffnung, dass sie neue sozialpolitische Akzente setzt, etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen, und diejenigen sozialen Sektoren ins Zentrum ihrer Politik rückt, die ihr letzten Endes die Wiederwahl gesichert haben, nämlich Brasiliens Arme und die sozialen Bewegungen, wird sich kaum erfüllen.