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Das Land wird mitgedacht

Das zweite Encuentro Nacional Urbano fand Anfang November 2013 in Bucaramanga, Kolumbien statt

Die Entwicklung von einem „Recht auf Stadt“ als politische Praxis durchzog das landesweite Städtetreffen der Basisorganisation Congreso de los Pueblos in Bucaramanga im Departement Santander. Die Bedingungen, unter denen Stadtgruppen in Kolumbien aktiv sind, unterscheiden sich allerdings ebenso fundamental von denen in Deutschland oder Europa wie die Funktion kolumbianischer Städte. Stadtplanung dient hier vor allem den Bedürfnissen und Verwertungsinteressen der Großunternehmen, für die entsprechende Regionen über die Dienstleistungsangebote von Regionalstädten zugänglich gemacht werden. Daher sind auch andere Schwerpunktsetzungen und Fragestellungen sowie theoretische Bezüge angezeigt.

Anna-Lena Dießelmann

Der Begriff urbano im Titel des Treffens des Congreso de los Pueblos 1 steht zunächst nicht für eine inhaltliche Klammer, eine thematische Setzung oder als Referenz auf die „Recht auf Stadt“-Bewegung, sondern für die Herkunft der Gruppen und Personen. Die Stadt wird thematisiert, weil Menschen in ihr leben, aber weniger weil sie sich mit ihr identifizieren, geschweige denn über das Urbane politisiert werden. Linke und oppositionelle Politik in Kolumbien ist allgemein stark geprägt von Landkonflikten, Bauernmobilisierungen und Kämpfen der indigenen Bevölkerung. Auch auf dem Städtetreffen werden Stadt und Land stets zusammen gedacht. In Kolumbien beziehen sich daher sogar die Stadtgruppen vor allem auf Kämpfe um Landverteilung oder Konflikte im Agrarsektor. Daher spielt auch die Verschmutzung der Umwelt durch die Städte in allen Diskussionsrunden eine Rolle. Ein Bezug zur Stadt als eigenständiges politisches Thema entwickelt sich gegenwärtig über die ganz eigenen Besonderheiten und Problematiken der Stadtbevölkerung. Die Abwanderung vom Land in die Stadt – oft ausgelöst durch Vertreibung und Flucht – beeinflusst die multiplen Bezüge zwischen der Stadt und ihren BewohnerInnen.

Viele Städte Kolumbiens sind durch invasiones, illegale Siedlungen von Vertriebenen, entstanden, die sich und ihre Familie vor dem seit 60 Jahren herrschenden sozialen bewaffneten Konflikt in Sicherheit bringen mussten. 4,8 Millionen Vertriebene suchen Unterkunft und Integration in den Städten und verändern diese nachhaltig, da eine Rückkehr meist lange nicht – oder nie – möglich ist. Die Städte werden zu den Zentren des „Post-Konflikts“. Die invasiones werden oft nicht an die städtische Infrastruktur angebunden: Häufig gibt es kein sauberes Trinkwasser, keinen Strom, keine Abwasserleitungen, keine Schulen, Kindertagesstädten, Jugendclubs, Treffpunkte und Bildungsmöglichkeiten. Es fehlt an Gesundheitsversorgung. Die Viertel sind nicht an die Zentren angebunden, es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel, obwohl die Anbindung besonders wegen der starken Zentralisierung der Städte in Lateinamerika wichtig wäre. In ihrer teils posttraumatischen Situation sind die Vertriebenen und Geflüchteten auf sich selbst gestellt.

Viele Städte sind überfordert mit der Versorgung der invasiones, andere versuchen zumindest das Notwendigste zu organisieren. Die Lage der Menschen in den invasiones hängt stark vom Grad der Selbstorganisierung ab. Sind ganze Dorfgemeinschaften zusammen geflohen und haben sich neu angesiedelt, bestehen oft noch Strukturen, die wieder reanimiert werden können. Denn nur über die Selbstorganisation und -hilfe haben die Menschen eine Chance, ihre Situation zu verbessern. Daher versuchen die stadtpolitisch aktiven Gruppen hier anzusetzen und unterstützen die Organisierungsprozesse vor Ort. Allerdings bedeutet ein hoher Organisierungsgrad auch eine starke Repressionsgefahr. In anderen invasiones, in denen Menschen verschiedener Herkunft und mit unterschiedlichen Fluchtbiografien zusammenkommen, ist die Organisierung der BewohnerInnen wesentlich komplizierter.

Doch nicht nur die BewohnerInnen der invasiones sind von Marginalisierung betroffen. Die Städte Kolumbiens werden allgemein als diejenigen mit der größten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika beschrieben. Besonders gravierend ist der Kontrast zwischen den Megainvestitionen und den fragmentierten, vernachlässigten Stadtteilen der Armen. Dieser Kontrast wird verschärft durch die neoliberale Umstrukturierung von Städten, wie zum Beispiel nach dem Erdbeben 1983 in Popayán. Auch die Privatisierung öffentlicher Unternehmen in den Bereichen Transport, Strom, Gas, Wasser und Telefon/Internet führt zu steigenden Preisen und dazu, dass Menschen ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr bewältigen können. Diese Spaltung der Gesellschaft, die dramatische Schere zwischen Arm und Reich, zeigt sich auch in der Spaltung der Städte. So leben viele Menschen, die in den Innenstädten das Funktionieren der Infrastruktur sicherstellen (BusfahrerInnen, Putzkräfte, Straßenverkäufer, LieferantInnen usw.), weit außerhalb der Zentren, in denen sie arbeiten. Dies führt zu einer stetigen Überlastung der Verbindungswege zwischen Zentrum und Peripherie.

Auch können sich zum Beispiel viele Studierende aus marginalisierten Vierteln und armen Familien, selbst wenn sie sich auf Grund der vorbildlichen Studiengebührenregelungen das Studium leisten können, weder die Fahrtkosten noch die Verpflegung in der Uni leisten. Die Diskussion unter den Stadtgruppen wird zwischen den bekannten Polen „Freifahrten für Bedürftige“ bis hin zu „kostenloser Nahverkehr für alle“ geführt. Besonders stark ist der Protest in den Städten, in denen in den letzten Jahren der Neubau öffentlicher Transportsysteme vorangetrieben worden ist. In Cali zum Beispiel wurde für die Juegos Mundiales 2013 der gesamte öffentliche Verkehr weiter privatisiert und der MIO eingerichtet, ein angeblich sichereres Bussystem auf den Hauptverkehrsrouten für mehrere Millionen Euro aus öffentlichen Kassen. Diese Megaprojekte für Großevents führen zu einer drastischen Preissteigerung mit gleichbleibend schlechter Anbindung der Peripherie an das Zentrum (dies gilt auch für das Metrocable in Medellín).

Ein relevantes Thema der urbanen Kämpfe ist auch die Verteilung von Wohnraum. Auffällig ist dabei, dass wegen der schlechten Wohnbedingungen nicht nur einfach Wohnraum gefordert wird, sondern stets Raum, der ein würdevolles Wohnen ermöglicht. Unter dem Kriterium „würdevoll“ im Zusammenhang mit Wohnen wird das Grundrecht auf eine trockene, saubere Wohnung verstanden, die an Wasser, Abwasser und Strom angeschlossen ist und eine Kochstelle ermöglicht. Die realen Wohnsituationen in den Städten sind häufig weit davon entfernt, dieses Kriterium zu erfüllen.

Wie auch andere globale Metropolen sind die Städte Kolumbiens Orte, an denen sich verschiedene soziale Kämpfe im verdichteten Raum begegnen. Die Städte besetzen nur 10 Prozent der Landfläche, während über 75 Prozent der Bevölkerung in diesen Städten leben. Extreme Armut, Perspektivlosigkeit und ein hohes Gewaltpotenzial machen diese Städte zu Konfliktzentren und auch zu Experimentierfeldern der Sicherheitspolitik. Diese Sicherheitsproblematik ist die direkte Folge der sozialen Ungleichheit und kann laut den Diskutanten des Treffens nicht mit gängigen Sicherheitspolitiken verändert werden. Ihre Lösung muss als Lösung der sozialen Probleme allgemein angegangen werden. Diese Probleme äußern sich zurzeit in einem hohen Anteil informeller Arbeit, die das Straßenbild prägt und für das Überleben der gesamten unteren Schichten die einzige Möglichkeit darstellt. Der Kampf um öffentlichen Raum für Straßenverkäufer und informelle Kleinwirtschaft ist daher überlebensnotwendig. Informalität wird auch in wissenschaftlichen Debatten als eines der markanten Charakteristika lateinamerikanischer Städte beschrieben. Die TeilnehmerInnen fordern stets, die Kämpfe um Arbeitsrechte sowie politische und soziale Rechte mit einzubeziehen. Letztendlich wird die Forderung nach gleichen Rechten in der Stadt und auf dem Land gestellt.

Kolumbien ist ein hoch militarisiertes Land, durchzogen von bewaffneten Konflikten zwischen unterschiedlichen Paramilitärs, den staatlichen Truppen und Guerillagruppen. Auch in den Städten lässt sich die Militarisierung des Alltags bemerken. Nicht nur hochgerüstete Sicherheitsfirmen, auch Polizei- und Militärpräsenz lassen Waffen im Alltag zum Normalzustand werden. Eine friedliche Gesellschaft, so viele Redebeiträge, könne nur ohne diese Militarisierung und Aufrüstung geschaffen werden. In Vierteln mit ständiger Präsenz von Waffen und Gewalt im Alltag wundere es nicht, dass auch die Gewaltbereitschaft der Bevölkerung steige. Gepaart mit Drogen, Kriminalität, Perspektivlosigkeit und hoher Frustration kann diese Gewaltbereitschaft leicht zur Mobilmachung der BewohnerInnen ausgenutzt werden. Das Stadttreffen beschließt, seine Arbeit gegen die Militarisierung und für die Stärkung der Menschenrechte in den Städten zu verbessern.

Im Abschlussbericht fordert das Encuentro Urbano vor allem konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen in den Städten, wie kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr, die Anbindung der Peripherie an die Zentren zur Teilhabe am öffentlichen Leben und der Kultur sowie kostenloses Wohnen. Mit der Forderung nach kostenlosem Wohnen sind sie vielen Diskussionen der deutschen Linken einen großen Schritt voraus.

  • 1. Der Congreso de los Pueblos ist eine der größten landesweiten Vernetzungsversuche von linken bis linksradikalen Basisorganisationen, Gewerkschaften, Bauernverbänden und NRO, die eine grundlegende Transformation des Landes anstreben.