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Kurz vorm Kollaps

Mexiko: Interview mit Octavio Rosas Landa von der „Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen“ zum Permanenten Völkertribunal

Die „Umweltzerstörung und die Rechte der Bevölkerung“ war neben der Repression gegen soziale Bewegungen und den Attacken auf die Ernährungssouveränität und die einheimischen Maissorten durch die Verunreinigung mit Genmais eines der drei Themen, zu denen es im November abschließende Anhörungen im Rahmen des Permanenten Völkertribunals (TPP), Kapitel Mexiko, gab.

Gerold Schmidt

Bei den aktuellen Sitzungen des TPP, des Permanenten Völkertribunals, hat es zu Umweltthemen die meisten Voranhörungen gegeben – warum?

Einer der Gründe dafür, dass das TPP besonders im Umweltbereich so erfolgreich war, besteht darin, dass das am wenigsten sichtbare Thema innerhalb der ganzen Zerstörungen, unter denen Mexiko als Nation leidet, dem am wenigsten Aufmerksamkeit geschenkt wird, das Umweltthema ist. Gleichzeitig ist es eines der dringlichsten Anliegen, denn im gesamten mexikanischen Territorium gibt es Hunderte von Bevölkerungsgruppen und Gemeinden und auch Organisationen, die sich gegen unzählige Rückschritte zu verteidigen versuchen. Der Prozess des Tribunals hat die Möglichkeit eröffnet, dass diese Kämpfe bekannt werden, dass sie sich untereinander kennen lernen und dass eine öffentliche Diskussion über die gravierenden Umweltprobleme in Mexiko beginnt.

Von den verschiedenen Zerstörungskategorien ist der Bergbau vielleicht am bekanntesten. Welche Kategorien sind darüber hinaus wichtig?

Über den Bergbau ist bisher am meisten berichtet worden, vor allem seitdem bekannt geworden ist, dass die transnationalen Bergbauunternehmen für ihre Projekte in Mexiko praktisch keine Abgaben zahlen und auch nicht strafrechtlich belangt werden. Das bedeutet auch einen Einnahmeverlust für den mexikanischen Staat selbst. Das wird mittlerweile zur Kenntnis genommen, doch damit wird die Plünderung im Zuge von Bergbauprojekten nicht aufgehalten. Es gibt aber auch andere schwerwiegende Bereiche, vor kurzem waren wir in der Region von Coatzacoalcos im Bundesstaat Veracruz. Einer der Aspekte, der am wenigsten wahrgenommen wird, sind die Umweltzerstörungen, die die mexikanische Erdölindustrie dort verursacht. In Städten wie Coatzacoalcos ist die Luftqualität höchst schädlich für alle EinwohnerInnen. Die mexikanische Erdölindustrie produziert allein in der Gegend von Coatzacoalcos, Minatitlán und Ixhuatlán jährlich 90 kg schädliche Abfallsubstanzen pro Kopf – in einer Region mit etwa 700 000 EinwohnerInnen.

Meiner Meinung nach gibt es noch drei weitere wichtige Umweltproblematiken im Land. Eine davon ist die Hausmüllproduktion und der absolut unverantwortliche Umgang damit – in der Hinsicht erleben wir eine wirkliche Krise im Land. In Mexiko funktionieren die geschlossenen, kontrollierten Mülldeponien (rellenos sanitarios) nicht. Es gibt zwar Bestimmungen für die Errichtung dieser Mülldeponien, doch in der Praxis wird sich nicht daran gehalten. Außerdem steigt das Müllaufkommen in den städtischen Gebieten dramatisch an. Schließlich landet der Großteil des Hausmülls auf wilden Müllkippen am Wegesrand oder sogar in Flüssen.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Entwaldung, die in einem brutalen Tempo voranschreitet. Jedes Jahr gehen Waldflächen in der Größe der beiden Bundesstaaten San Luis Potosí und Querétaro (zusammen knapp 75 000 Quadratkilometer, d. Red.) verloren. Das bedeutet nicht nur die Beschleunigung des Klimawandels – und Mexiko ist eines der Länder, das die Auswirkungen des Klimawandels am stärksten zu spüren bekommt, zum Teil aufgrund der illegalen Abforstungen, die von der mexikanischen Bundesregierung selbst zugelassen wird. Die betroffenen Gemeinden müssen gegen die Folgen kämpfen und können dabei auf keinerlei Unterstützung von Seiten des Staates zählen.

Die dritte Umweltproblematik in Mexiko, die fast schon katastrophale Ausmaße annimmt, ist der Umgang mit dem Wasser. In Mexiko ist die Verfügbarkeit von Trinkwasser pro Kopf in den letzten 60 Jahren um 75 Prozent gesunken, von knapp 16 000 Kubikmetern pro EinwohnerIn auf ca. 3500 Kubikmeter vor etwa vier Jahren. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie der Auditoría Superior de la Federación (Fachorgan der mexikanischen Abgeordnetenkammer, in Ansätzen dem Bundesrechnungshof vergleichbar – die Red.) prognostiziert, dass sich diese Menge bis zum Jahr 2030 nochmals um 75 Prozent reduzieren wird. Innerhalb von 30 Jahren hat sich die Anzahl der Grundwasserspeicher, die übermäßig genutzt werden, verdreifacht – von 30, 35 auf über 100. Das hat die Nationale Wasserkommission Conagua im Jahr 2010 eingestanden.

Doch im Jahr 2011 hat die Auditoría Superior de la Federación die Angaben der Conagua untersucht und herausgefunden, dass es in Mexiko sogar 170 übernutzte Grundwasserspeicher gibt. Die Trinkwasservorkommen für die Bevölkerung nehmen also dramatisch ab und gleichzeitig nimmt die Ausplünderung zu, auf unterschiedliche Art und Weise, über die Privatisierung, z.B. der lokalen Wasserversorger, aber vor allem über die Privatisierung, die sich durch die Vermarktung von abgefülltem Trinkwasser ergibt: Weltweit ist Mexiko das Land mit dem größten Konsum von abgefülltem Trinkwasser! Hinzu kommt die Plünderung ländlicher Wasserressourcen, die in die städtischen Zentren geleitet werden, aber noch nicht einmal, um die städtische Bevölkerung zu versorgen, sondern die in den Städten angesiedelte Industrie. Das sehen wir z.B. bei dem Aquädukt Independencia in Sonora oder dem Atoyac-Fluss, dessen gesamter Wasserlauf in die Stadt Córdoba geleitet werden soll. Córdoba im Bundesstaat Veracruz ist eine Stadt mit 200 000 EinwohnerInnen, konsumiert aber so viel Wasser, als ob sie die Größe von Guadalajara hätte, also einer Stadt mit 6 Millionen EinwohnerInnen.

Lediglich 3 Prozent des Wasserverbrauchs der Stadt Córdoba wird von der Bevölkerung konsumiert, die restlichen 97 Prozent werden von der Industrie verbraucht. Es gibt also eine destruktive Dynamik, die die ganze Natur sowie die zukünftigen Reproduktionsbedingungen sowohl auf dem Land als auch in der Stadt betrifft und die der mexikanische Staat einfach toleriert und erlaubt. Er treibt sie im Rahmen bestimmter Infrastrukturprojekte sogar voran. Für den mexikanischen Staat besteht die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen bzw. zu zeigen, dass er etwas tut, im Bau von Infrastruktur – ganz egal, ob sie schädliche Auswirkungen für die Umwelt und die Gesundheit der BürgerInnen hat.

Wie bewertest du angesichts dieser Situation die Erfolgsmöglichkeiten sozialer Widerstandsbewegungen? Bei Abforstungen oder auch Bergbauprojekten gibt es zuweilen Absprachen zwischen den Unternehmen und den Drogenkartellen oder zwischen den Unternehmen und dem Staat – und den Drogenkartellen. Vor dem Hintergrund hat das Permanente Völkertribunal (TPP) bestimmt dazu beigetragen, dass sich die verschiedenen Kämpfe untereinander austauschen konnten. Besteht die Gefahr, dass diese Dynamik nach Abschluss des TPP in den nächsten Monaten wieder abflaut?

Nein. Ich glaube, für die Leute, die wir an dem Prozess des TPP teilnehmen, und auch für die unterschiedlichen Kämpfe, die in der Nationalen Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen (ANAA) vertreten sind, ist dies ein wichtiger Lernprozess gewesen. Die Umweltkämpfe setzten auf das TPP, weil wir einerseits noch üben: Wie verteidigen wir uns, wie argumentieren wir angesichts der stattfindenden Zerstörungen? Und wie weisen wir alle die Mechanismen nach, mit denen der mexikanische Staat die individuellen und kollektiven Rechte der Bevölkerung verletzt? Das bedeutet für die meisten, die an dem Prozess teilgenommen haben, dass sie sehr viele Informationen, die verstreut waren, zusammentragen und systematisieren mussten, um sie präsentieren zu können. Das ist ein Schritt vorwärts, denn das bedeutet, dass in Zukunft die Bevölkerung in die Diskussion darüber einbezogen werden kann, welche Art von Politik sie braucht und welche Allianzen sie mit anderen Kämpfen und anderen Organisationen eingehen möchte.

Es hat auch dazu beigetragen, dass wir alle im Hinblick auf die sehr große Anzahl von Beeinträchtigungen sensibilisiert worden sind, die es im ganzen Land gibt. Die mexikanische Bevölkerung hat einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie Informationen zum Beispiel über die sozialen und Umweltzerstörungen der letzten 30 Jahre zusammengetragen hat, hervorgerufen durch die Komplizenschaft zwischen dem Staat, der kriminellen Wirtschaft und der formalen Unternehmenswirtschaft. Dadurch steigen nicht nur Armut und Marginalisierung sowie die Migration vom Land in die Stadt und von Mexiko in die USA, Mexikos zukünftige Grundlagen als Nation werden auch zerstört.

Sowohl die Versammlung der von Umweltschäden Betroffenen als auch das Permanente Völkertribunal begannen unter den konservativen PAN-Regierungen, die sich bei der Plünderung der Ressourcen besonders hervortaten. Bleibt der Kurs unter einer PRI-Regierung gleich oder siehst du Veränderungen?

Meiner Meinung nach wird die Situation im Moment eher noch schlimmer. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen werden die Reformen, die die mexikanische Regierung vorhat und die sehr wahrscheinlich vom Parlament abgesegnet werden, die Umwelt langfristig noch viel mehr schädigen. Nehmen wir die Reform im Energiesektor und übertragen sie auf den lokalen Maßstab, etwa auf die Region von Coatzacoalcos: Das ist eine Region, die von einer Industrie zerstört worden ist, die dem mexikanischen Staat gehört und die 80 Jahre lang gemolken worden ist – aufgrund der Korruption der Regierung, der leitenden Angestellten des Erdölunternehmens selbst und der Gewerkschaft der Erdölarbeiter. Wenn jetzt das eintritt, was die Reform der Regierung von Peña Nieto vorsieht, wenn also viele der Aktivitäten, die im Moment noch die staatliche PEMEX betreibt, von transnationalen Unternehmen übernommen werden, dann werden diese Unternehmen nicht nur ihren Anteil an den Gewinnen einfordern, sondern auch rechtliche Bedingungen, um ihre Geschäfte zu tätigen. Und das bedeutet, dass es viel mehr Kontrolle und Repression für die jeweils betroffene Bevölkerung geben wird.

Im Fall der industriellen Viehzucht wird die Rolle des mexikanischen Staates besonders deutlich: Das Unternehmen, das für die Schweinegrippenpandemie verantwortlich war, also für die Ausbreitung des berühmten AH1N1-Virus, dem in der ganzen Welt Angaben der WHO zufolge 14 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, wurde vom mexikanischen Staat geschützt.

Insgesamt sehen wir also eine Verschlechterung sowie zunehmende Kriminalisierung und Repression gegenüber sozialen Protesten. Das bedeutet die Rückkehr der PRI an die Macht: Die Mechanismen der autoritären und antidemokratischen Kontrolle, die während der 70 Jahre langen Herrschaft der PRI angewandt wurden, sind nun zurückgekehrt, aber viel gewaltsamer als früher, weil die heutigen Regierenden der PRI von der gleichen Sorte wie die PAN sind. Die Spielregeln für die Bevölkerung haben sich jedoch zum Schlechteren gewandelt.

Was erwartest du vor diesem Hintergrund von der Schlussanhörung des TPP im Umweltbereich? Und was wäre für dich bzw. die ANAA am wichtigsten hervorzuheben?

Da gibt es viele wichtige Punkte. Ich glaube, dass in dem Prozess des Tribunals sehr viele Anstrengungen zusammengekommen sind. In den letzten zwei Jahren hat es vor der Anhörung zu Umweltschäden und den Rechten der Völker 15 Voranhörungen gegeben. Insgesamt sind Informationen zu 150 verschiedenen Fällen von Umweltzerstörung zusammengetragen worden. Das ist für uns eine völlig neue Erfahrung, ich glaube, dass nirgendwo sonst auf der Welt so viele Informationen, Beweise und Zeugenaussagen von Bevölkerungsgruppen, Gemeinden und Organisationen über die Umweltsituation des Landes zusammengetragen worden sind. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass viele Probleme endlich sichtbar geworden sind, wobei in der Hinsicht noch viel getan werden muss.

Von der thematischen Schlussanhörung erwarten wir, dass wir alle Fälle, alle Argumente zusammenbringen, die im Lauf der vergangenen zwei Jahre deutlich geworden sind und an denen Persönlichkeiten aus der Wissenschaft in den Gutachterkomitees aller Voranhörungen mitgewirkt haben. Damit ist ein Dialog zustande gekommen, der zwischenzeitlich zwischen den AkademikerInnen und den Leuten aus den Gemeinden unterbrochen worden war. Das hat eine Tür geöffnet, um den Dialog wieder aufzunehmen, denn zuvor hatte sich die Wissenschaft sehr weit von den Leuten entfernt. Wir hoffen, dass das Ausmaß der Probleme gesehen wird und dass die Leute aus den Gemeinden, die zu der Anhörung kommen, nicht nur vor und für sich selbst, sondern auch vor den anderen ihre gerechten Forderungen vorbringen können. Schließlich wollen wir, dass uns das Tribunal Recht gibt und aufzeigt, dass die neoliberale Freihandelspolitik der letzten 30 Jahre in Mexiko und die Unterschriften unter alle Freihandelsabkommen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden müssen – dass es sich um einen Genozid handelt, ein stilles Verbrechen, das in Zeitlupe abläuft.

In den alternativen Medien wurde ausführlich über das TPP berichtet, in den Massenmedien hat es jedoch keine gebührende Aufmerksamkeit bekommen. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Man hätte schon mehr unternehmen können, um auch die großen Medien zu erreichen. Aber aufgrund der starken Beteiligung der Leute, die durch das TPP mobilisiert wurden, fiel unglaublich viel Arbeit an, wodurch unsere Öffentlichkeits- und Pressearbeit etwas zu kurz kam. Gleichzeitig gibt es natürlich eine politische Linie, unsere Themen unsichtbar zu machen. Für das mexikanische Fernsehen zum Beispiel existieren keine Betroffenen von Umweltschäden, es gibt uns einfach nicht! Und wenn doch, dann lediglich als Opfer, die über kurz oder lang Hilfe vom Staat bekommen werden und deren Leid einzig und allein durch sogenannte Naturphänomene verursacht wird.

Das Interview führte Gerold Schmidt im November 2013 in Mexiko-Stadt.

Bearbeitung und Übersetzung: Britt Weyde