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Vom Punk zum Rastafari

Kleine Geschichte des argentinischen Reggae am Beispiel von Fidel Nadal

Angenommen, wir sind gerade in Buenos Aires, haben viel Zeit, ein wenig Geld und möchten gute Bücher und Musik aufstöbern, auf die konservative Art, nämlich in einem Geschäft. Dafür bietet sich der Laden Zivals an, mitten im Zentrum an der Avenida Callao gelegen. Hier gibt es sogar noch CDs zu kaufen und man kann in die Musik reinhören. Angenommen, wir suchen argentinischen Reggae. Bei welcher Abteilung gucken wir nach, bei Música tropical vielleicht? Fehlanzeige. Argentinischer Reggae firmiert unter Rock nacional, ganz klar. Diese für europäische Ohren zunächst merkwürdige Einordnung leuchtet ein, wenn man sich ein wenig mit der Geschichte des Genres in Argentinien beschäftigt, das in den letzten zehn Jahren einen beeindruckenden Boom erlebt hat. Ein Künstler hat die Entwicklung des Reggae in Argentinien fast von Anfang an miterlebt, mitgeprägt und ist einer seiner schillerndsten Repräsentanten: Fidel Nadal.

Britt Weyde

In Argentinien hat Reggae schon richtig Wurzeln geschlagen. Anfang der 80er-Jahre integrierten Rockgruppen wie die Abuelos de la Nada Versatzstücke von dem ursprünglich jamaicanischen Genre in ihre Musik. Letztlich war es jedoch die legendäre Band Sumo, die einen entscheidenden Einfluss bei der Etablierung des Sounds hatte. Sumo begannen in den letzten Jahren der Diktatur die argentinische Rockmusikszene aufzumischen mit einer Mixtur aus Postpunk, Ska und Reggae. Mitunter spielten sie auf ihren Livekonzerten Bob-Marley-Coverversionen. Oder ihr charismatischer Sänger Luca Prodan kündigte einen Song mit den Worten an: „Das folgende Stück ist für alle Hippies, Ex-Hipppies oder zukünftige Hippies – El Reggae de Paz y Amor!“ „Frieden und Liebe“ waren in den wilden Postdiktaturjahren bestimmt nicht vorherrschend.

Waren Sumo noch deutlich subkulturell und punkig, auf jeden Fall aber ironisch, schlugen gegen Ende der 80er-Jahre die Péricos einen anderen Pfad ein und machten den Stil mit ihrem Pop-Spaßreggae und Hits wie „El Ritual de la Banana“ massenkompatibel. Zu der Zeit begannen auch Los Cafres Reggae zu spielen, die ihre erste CD 1994 herausbrachten. Den richtigen Durchbruch hatten sie jedoch zehn Jahre später mit dem Album „Quién da más“ und ihrem Erfolgssong „Si el amor se cae“. Mittlerweile gehören sie zu den Top 5 der argentinischen Reggaeacts. Der jüngste Reggaedurchstarter ist Dread Mar I – mit bürgerlichem Namen Mariano Castro –, der in den letzten fünf Jahren von sich reden machte. 2010 landete er zusammen mit seiner Band Los Guerreros del Rey einen Hit mit der romantischen Reggaeballade „Tú sin mí“.

Einen wahren Boom des Genres samt seiner Subgenres Roots, Dub, Dancehall erlebt Argentinien definitiv seit Anfang des Jahrhunderts. Zu dem Zeitpunkt begann auch Fidel Nadal sich voll und ganz seiner wahren musikalischen Leidenschaft, dem Reggae, zu widmen. Zuvor war Fidel keine unbekannte Größe im argentinischen Musikgeschäft. 14 Jahre lang war er Sänger der Punk-Skaband Todos tus Muertos gewesen. Als die französische Ska-Reggae-Punkband Mano Negra in Lateinamerika anlandete und mit ihrem damals ungewöhnlichen Stilmix nachhaltigen Eindruck bei einer ganze Generation von Musikern hinterließ, war Fidel Nadel sofort mit am Start, als es darum ging, dass lateinamerikanische Gastmusiker bei der Aufnahme des Albums „Casa Babylon“ mitwirken und auch auf Tour durch Lateinamerika gehen sollten. Weitere Kooperationen kamen zustande, zum Beispiel zwischen Todos Tus Muertos und der baskischen Ikone Fermin Muguruza; über dessen baskisches Label Gora Herriak erreichten die argentinischen Punkrocker ein europäisches Publikum, das offen war für die Erweiterung des klassischen Punk um Reggae- und Skaelemente.

Todos tus Muertos trennten sich im Jahr 2000 im Streit, dabei waren nicht nur die verschiedenen Musikerpersönlichkeiten inkompatibel. In einem Interview mit dem US-amerikanischen Webradio NPR erzählt Fidel rückblickend, dass die musikalischen Vorstellungen auseinanderdrifteten: „Der eine wollte mehr Hardcore machen, der andere Salsa, bei mir hingegen war klar, dass Reggae anstand.“ Auf dieser Musikrichtung hatte auch schon der Fokus von Fidels Bandnebenprojekt mit dem symbolträchtigen Namen Lumumba gelegen.

Mit seinem ausladenden Turban und dem charakteristschen Bart erinnert das aktuelle Äußere des 47-Jährigen ein bisschen an einen weltweit gesuchten Islamisten, der letztlich zur Strecke gebracht wurde. Im Hinblick auf diese Ähnlichkeit findet sich manch hämischer Kommentar in den Abgründen des Internet. Aber Fidel Nadal ist kein fanatischer Dschihadist, sondern ganz das Gegenteil, nämlich Rastafari. Und wie: Eines seiner ersten Soloalben trägt den Titel „Repatriación“, meint also die Rückkehr der Nachkommen der SklavInnen nach Afrika, einer der zentralen Grundsätze der Rastafaribewegung. Der argentinischen Tageszeitung Clarín offenbarte Fidel Nadal: „Ich glaube an Rastafari, Haile Selassi, den Kaiser von Äthiopien. Das ist eine Kultur, eine Bewegung und ein Glaube. Ich glaube nicht an einen weißen Jesus, der gekreuzigt wurde und bluten musste. Das ist ein Totenkult. Mein Gott ist Symbol für das Leben.”

Als er seinem Sohn den Namen Tafari geben wollte, stieß er auf Probleme bei den Behörden. „Sie erzählten mir was von ihren Gesetzen, woraufhin ich zu ihnen sagte, dass meine Vorfahren illegal hierher verschleppt wurden und ich deshalb nichts von ihren Gesetzen hören wolle. Die Schwarzen kamen doch auch nicht mit ihren Reisepässen, sondern in Ketten auf Schiffen“, so Fidel Nadal im Interview mit der Tageszeitung Página 12. In seinem Elternhaus war der Sohn einer Anthropologin und eines Filmemachers mit viel schwarzer Musik aufgewachsen. Als er zum ersten Mal Bob Marley und Peter Tosh hörte, war er „total geflasht“. Fidel ist Afroargentinier, Ururenkel von angolanischen Sklaven: „Wir sind die fünfte Generation in Argentinien, die von Afrika nach Retiro gekommen ist.“ Sein Vater führte ihn in die Gedankenwelt von Malcolm X, Martin Luther King und den Black Panthers ein. Enrique Nadal gehörte zudem zu den Gründern des ersten argentinischen Komitees gegen die Apartheid in Südafrika.

Fidels Solokarriere ließ sich zunächst mühselig an. Während er mit Todos Tus Muertos noch vor Tausenden von Leuten gespielt hatte, war seine erste Show ein Fehlschlag. Er trat ohne Band auf, lediglich mit Musik aus der Konserve, vor sage und schreibe 20 Personen. Fidel Nadal musste sich komplett neu erfinden, fast ein bisschen wie das ganze Land Argentinien, das durch die Krise 2001/2002 einen totalen wirtschaftlichen Absturz erlebt hatte. Das Land berappelte sich langsam wieder. Und Fidel rödelte unermüdlich. Seit seinem Neustart hat er 18 Alben aufgenommen (Kooperationen und Remixes nicht mitgerechnet). Vor etwa fünf Jahren zeigten sich die Früchte: Sein Album „International Love“ (2008) war ein Riesenerfolg. Wie der Titel schon zeigt, überwiegen darauf die romantischen Songs.

Zu den Studioproduktionen kamen unzählige Liveauftritte und Tourneen. Nach wie vor zeigt Fidel Nadal keine Berührungsängste mit anderen Genres. So ist er bereits mehrere Male zusammen mit der Cumbia-Villeralegende Pablo Lescano aufgetreten, macht Reggaecoverversionen von Corridos der mexikanischen Tigres del Norte und lädt immer wieder Gastmusiker für seine CD-Aufnamen ein. Sein Album „Forever Together“ aus dem Jahr 2010 brachte ihm zwei Nominierungen für den Latin Grammy 2011 ein.

Dieses Jahr hat Fidel Nadal seine nunmehr 18. Platte aufgenommen: „Llegó el momento“. Ihm war der italienische Reggaeproduzent Alborosie empfohlen worden, um sein Album abzumischen. Der mexikanischen Zeitschrift Revista Kuadro erzählt Fidel Nadal, dass alles übers Internet abgelaufen wäre. Die verschiedenen Parts wären in Buenos Aires und Kingston eingespielt, per Internet verschickt, dann im Kingstoner Studio abgemischt worden.
Neben den unvermeidlichen Liebessongs schlägt Fidel auch wieder nachdenkliche Töne an, so reflektiert er zum Beispiel in „No hay Paz“ über Krieg und Frieden.

Fidel Nadal meinte einmal, sein Ziel sei es, auch Nicht-Reggaefans mit seiner Musik anzusprechen. Das dürfte ihm auf jeden Fall gelungen sein.

Die Zeitschrift Rolling Stone Argentina veröffentlichte 2009 einen Schwerpunkt, Lo Mejor del Reggae, darunter ist auch eine Liste mit den besten 50 Alben des argentinischen Reggae zu finden: www.rollingstone.com.ar/1183639

Fernsehauftritt von Todos Tus Muertos im Jahr 1992, Fidel Nadal als junger Punkrock-Hüpfer in neckischen Shorts: www.youtube.com/watch?v=LrilXnAKX-E

Kleiner Kontrast, Video vom neuen Album „Llegó el momento“ (2013): www.youtube.com/watch?v=5nu-zOpZ4bc