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Aktualität von Arbeiterkontrolle und Rätebewegungen

Buchbesprechung: Die endlich entdeckte politische Form
Christian Frings

Die letzten beiden umfassenden Darstellungen von Arbeiterräten und Arbeiterselbstverwaltung stammen aus den Jahren 1971 und 1991. Ernest Mandel gab 1971 die Anthologie Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung heraus, die auch weniger bekannte Beispiele wie Seattle 1919, Bolivien 1953-1963, Algerien und Indonesien berücksichtigte. 1991 legte der Iraner Assef Bayat die Studie Work, Politics and Power – an international perspective on workers' control and self-management vor, die insbesondere den globalen Süden in den Blick nahm. Angeregt dazu hatte ihn die hier kaum wahrgenommene Arbeiterrätebewegung während der iranischen Revolution von 1979, die er in Workers and Revolution in Iran analysiert hatte. Dass nun auf Englisch und Deutsch eine weitere breit angelegte Textsammlung zu Fabrikräten und Selbstverwaltung erschienen ist, deutet auf das in der tiefen Jahrhundertkrise des Kapitalismus wiedererwachte Interesse an Alternativen zur profitorientierten Produktion hin, und es scheint auch kein Zufall zu sein, dass im letzten Teil des Buches zu Erfahrungen aus der Zeit 1990 bis 2010 die Beispiele aus Lateinamerika im Mittelpunkt stehen. Vor allem die praktischen Versuche der Übernahme der Produktion durch ArbeiterInnen in Argentinien sind – nicht erst durch Naomi Kleins Film The Take – weltweit zu einem Symbol für die Möglichkeit von Arbeiterselbstverwaltung geworden. Auf der großen Demonstration im belgischen Genk gegen die Schließung der dortigen Ford-Werke im letzten November kursierten Flugblätter, die eine Fortführung der Produktion in Eigenregie vorschlugen und dabei ganz selbstverständlich auf die Erfahrungen aus Argentinien hinwiesen.

Der vorliegende Sammelband, für dessen deutsche Ausgabe Marx' positive Beurteilung der Pariser Kommune von 1871 als Titel gewählt wurde – „Die endlich entdeckte politische Form“ – trägt eine ganze Reihe von gut bekannten, aber auch weniger bekannten Beispielen für die Kontrolle von ArbeiterInnen über die Produktion im 20. und 21. Jahrhundert zusammen. Die Herausgeber erwähnen ausdrücklich, dass sie keine Vollständigkeit beanspruchten, weshalb gerade für den lateinamerikanischen Kontext zentrale Beispiele wie die Bewegung der Cordones Industriales während der Regierungszeit Salvador Allendes 1970 bis 1973 in Chile oder der mit Rätestrukturen verbundene Arbeiteraufstand in der argentinischen Fabrikstadt Córdoba von 1969 fehlen (siehe zu diesen beiden Bewegungen die Artikel von Alix Arnold in ila 345 und 325). Die Herausgeber halten das Interesse am Thema aber für groß genug, um an einem zweiten Band zu arbeiten, der solche Lücken sicher schließen wird.

Die vorliegenden Beiträge im Buch sind auf sechs Teile verteilt. Im ersten behandeln vier Texte, die sicherlich zu den stärksten im Buch zählen, die historische und politische Bedeutung der Phänomene Arbeiterräte und Selbstverwaltung im Zusammenhang mit der Frage nach einer revolutionären Transformation der Gesellschaft. Der zweite Teil behandelt ihre Bedeutung „im Verlauf von Revolutionen“ im frühen 20. Jahrhundert (Novemberrevolution in Deutschland, Fabrikkomitees in der Russischen Revolution, Fabrikräte in Turin 1919/1920 und die spanische Revolution 1936/37). Zwei Beiträge zu Jugoslawien und Polen bilden den dritten Teil „Arbeiterkontrolle im Staatssozialismus“. Im vierten Teil werden Indonesien 1945/1946, Algerien, Mendoza (Argentinien) 1973 und Portugal 1974/1975 unter dem etwas unscharfen Titel „Antikolonialer Kampf und demokratische Revolution“ zusammengestellt. Der fünfte Teil besteht aus Beispielen, bei denen die Besetzung vor allem eine Kampfform und weniger den Versuch, die Produktion zu übernehmen, bildete: Großbritannien in den 70er-Jahren, die großen Sit-Down-Streiks Mitte der 30er-Jahre in den USA, der italienische „Heiße Herbst“ 1969 und ein spektakulärer Kampf von TelefonarbeiterInnen in Kanada 1981. Der letzte Teil „Arbeiterkontrolle 1990-2010“ besteht aus vier Beiträgen zu Indiens kommunistisch regiertem Bundesstaat Westbengalen, zu den besetzten Fabriken in Argentinien, der Arbeiterkontrolle in Venezuela im Rahmen der „Bolivarianischen Revolution“ und selbstverwalteten Betrieben in Brasilien. Da die Versuche in Argentinien und Venezuela auch im deutschsprachigen Raum breit diskutiert werden (siehe auch die Artikel in diesem Schwerpunkt), soll sich im Folgenden auf eine Wiedergabe der brasilianischen Erfahrungen beschränkt werden.

In Brasilien beginnt die Geschichte von Versuchen der Selbstverwaltung schon in den 80er-Jahren mit „einer Reihe isolierter Experimente“, wie Maurício Sardá de Faria und Henrique T. Novaes in ihrem Beitrag „Die Zwänge der Arbeiterkontrolle bei besetzten und selbstverwalteten brasilianischen Fabriken“ schreiben. In den 90er-Jahren versuchen immer öfter ArbeiterInnen, vor allem in Familienbetrieben, die in die Insolvenz geraten, sie selbst weiterzuführen. In Brasilien wird diese Tendenz auch vom neuen Gewerkschaftsverband CUT unterstützt, der sich im Unterschied zum gewerkschaftlichen Verhalten in anderen Ländern solchen Versuchen der genossenschaftlichen Produktion öffnet, statt nur um Abfindungen zu kämpfen. Als die mit dem CUT verbundene Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) unter Lula 2003 die Regierung bildet, erfährt dieser Prozess eine institutionelle Förderung durch die Einrichtung des Nationalen Büros für Solidarische Ökonomie (Secretaria Nacional de Economia Solidária – SENAES) beim Arbeitsministerium, deren heutiger Direktor der erste Autor dieses Buchbeitrags ist.

Ende der 90er-Jahre hatten sich die verschiedenen genossenschaftlichen Versuche, deren Schwerpunkt im industrialisierten Süden und Südosten Brasiliens liegt, in einem Verband der Kooperativen und Solidaritätsunternehmen zusammengeschlossen (União e Solidariedade das Cooperativas – UNISOL). Damit sollte u.a. das Unwesen der sogenannten Coopergatos bekämpft werden – Scheinkooperativen, die von den Unternehmern benutzt werden, um die Arbeitsverhältnisse zu prekarisieren. Dem Verband gehören heute etwa 280 Genossenschaften an, von denen zwar nur 25 selbstverwaltete Betriebe sind, die aber für 75 Prozent der Umsätze stehen. Es gibt zwar keine genauen Statistiken zu den besetzten und selbstverwalteten Betrieben, aber in einer Studie von 2005 wurden bereits 65 solcher Experimente mit 12 070 ArbeiterInnen untersucht. Wie auch in anderen Ländern hängt das Ausmaß der Demokratisierung und der Veränderung der Produktionsstrukturen stark davon ab, ob die Selbstverwaltung aus aktiven Kämpfen gegen die alten Unternehmer hervorgegangen ist und in welchem Maße diese Versuche mit breiteren gesellschaftlichen Bewegungen verbunden waren. Insgesamt sehen die Autoren heute einen „Degenerationsprozess“ der genossenschaftlichen Bewegung, weil sich die Experimente zunehmend bürokratisieren. Die breiten gesellschaftlichen Kämpfe fehlen und auch in den aus heftigen Konflikten entstandenen selbstverwalteten Betrieben wird das Wissen um diese Kämpfe nicht an die Jüngeren weitergegeben. Es bleibe aber die Hoffnung, dass die Kooperativenbewegung in Brasilien im Zuge der neuen sozialen Auseinandersetzungen in der Krise und auch unter dem Eindruck der Versuche in Nachbarländern wie Argentinien mit neuem Leben gefüllt werde. Zur Veranschaulichung behandeln sie ausführlicher die zwei Betriebe Cooperminas und Catende Harmonia, die schon aufgrund ihrer Größe, aber auch wegen der um sie geführten Kämpfe „Sonderfälle“ bilden.

Die Minengesellschaft CBCA hatte 1917 die Kohleförderung in Criciúma aufgenommen und war Mitte der 80er-Jahre in die Krise geraten. Jahrelang kämpften die Bergarbeiter mit teilweise heftigen Aktionsformen, wie der Drohung, sich mit Dynamitstangen in die Luft zu sprengen, gegen die Schließung und Zwangsversteigerung der Mine. Sie erreichten schließlich 1997 die Übergabe des Betriebs und gründeten ihre Genossenschaft Cooperminas. In den ersten Jahren gab es eine funktionierende Versammlungsstruktur, an der sich fast alle der 1200 Bergarbeiter beteiligten, und sie führten deutliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen unter Tage ein. Aber auch hier setzt heute ein Bürokratisierungsprozess ein, weil viele von denen, die um die Eroberung des Betriebs gekämpft haben, bereits in Rente gegangen sind.

An dem Projekt Catende Harmonia ist vor allem interessant, dass es einen Land und Stadt verbindenden Versuch von „solidarischer Ökonomie“ darstellt. Im Bundesstaat Pernambuco hatte sich die 1829 gegründete Zuckermühle Milagre da Conceição in den 50er-Jahren zur größten Zuckerfabrik Lateinamerikas entwickelt – mit eigener Eisenbahnlinie, einem Wasserkraftwerk und ausgedehnten Zuckerrohrfeldern. Ende der 80er-Jahre geriet das Unternehmen in die Krise, 1993 sollten 2300 ZuckermühlenarbeiterInnen entlassen werden. Zusammen mit den LandarbeiterInnen entwickelte sich dagegen ein breiter Kampf, und als 1995 die Insolvenz der Firma beantragt wurde, übernahmen die ArbeiterInnen die Kontrolle und starteten ihr Projekt Catende Harmonia, das etwa 4000 Familien mit 20 000 Personen umfasst. Neben 48 Zuckermühlen und der Zuckerfabrik gehören dazu noch ein Wasserkraftwerk, eine Töpferei, eine Schreinerei, ein Krankenhaus, Staudämme und Bewässerungskanäle und eine große Fahrzeugflotte sowie mehrere der ehemaligen Herrenhäuser, von denen eines in ein Bildungszentrum umgebaut wurde. Nach sieben Jahren Projektarbeit konnte die Analphabetenrate von 82 auf 16,7 Prozent gesenkt werden. Auch wenn dieses Projekt heute unter gewissen Bürokratisierungstendenzen leidet, betonen die Autoren, dass es einen radikalen Wandel für den von der Zucker- und Alkoholproduktion geprägten Nordosten Brasiliens bedeutet, der immer noch starke Spuren von Zwangs- oder gar Sklavenarbeit aufweist. (zu Catende vgl. auch die Beiträge von Gert Eisenbürger in der ila 255 und von Astrid Schäfers in der ila 304).

Trotz seiner Unvollständigkeit und mancher Mängel in den einzelnen Darstellungen bietet das Buch umfassendes Material und viele theoretische Anstöße für die heute wieder aktuell gewordene Debatte um eine andere Welt und eine andere Produktion. Im Vergleich zu hiesigen Debatten um „solidarische Ökonomie“ ist vor allem begrüßenswert, dass die ArbeiterInnen und ihre Kämpfe hier als die eigentlichen Subjekte einer solchen Veränderung in den Mittelpunkt treten.