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Denkmal für Straflosigkeit und Staatsterrorismus

Die Rückkehr des Verschwindenlassens in Mexiko

Noch in den letzten Wochen seiner Amtszeit ließ Mexikos Präsident Caldéron ein Denkmal in Gedenken an die Tausende Gewaltopfer der letzten Jahre errichten – sinnigerweise neben dem Campo Marte, einer Militäreinrichtung im Zentrum der Hauptstadt. Während Caldérons Präsidentschaft (Dezember 2006-November 2012) sind über 70.000 Ermordete zu beklagen, mehr als 20.000 Menschen gelten als verschwunden, über 250.000 haben ihr Zuhause verlassen müssen.

Christiane Schulz

Familienangehörige von Ermordeten oder Verschwundenen bezeichnen das Monument als Symbol der Straflosigkeit. Die nationale Bewegung für Frieden in Gerechtigkeit und Würde (Movimiento por la Paz con Justicia y Dignidad) hatte bereits im Vorfeld sowohl den Entscheidungsprozess, der zum Bau der Gedenkstätte geführt hatte, als auch den Ort des Gedenkens als weitere zynische öffentlichkeitswirksame Rechtfertigungsstrategie des Präsidenten bezeichnet, mit der er sich der Aufarbeitung der Verbrechen während seiner Amtszeit entgegenstelle. Denn erst unter der Regierung Calderón hat die Gewalteskalation im Zuge der sicherheitspolitischen Entscheidungen und dem Einsatz des Militärs zur Bekämpfung der Drogenkriminalität – bei anhaltenden strukturellen Rechtsstaatsdefiziten – solche Ausmaße erreicht. Die Verantwortung des Staates für die Menschenrechtsverbrechen und dessen Weigerung, diese zu übernehmen, zeigen sich deutlich an den Fällen von „gewaltsamem Verschwindenlassen“.

Levantones, extraviados oder Entführungen, diese in den Mainstreammedien ebenso wie von VertreterInnen der Regierung oder des Justizwesens gebräuchliche Wortwahl verschleiert die Hintergründe dieser Verbrechen, erschwert die Dokumentation und verharmlost die politischen und sozialen Folgen des gewaltsamem Verschwindenlassens. Ein nationales Register, das diese Fälle dokumentiert, gibt es nicht. Die staatliche Menschenrechtskommission CNDH (Comisión Nacional de los Derechos Humanos) hat von 2006 bis 2012 5397 Personen als „abwesend“ registriert. Offizielle Zahlen wie beispielsweise vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit oder der Generalstaatsanwaltschaft schwanken zwischen 2044 bis 5229 Fällen während Calderóns Präsidentschaft.

Noch 2009 behauptete die Menschenrechtskommission CNDH, dass in den vorausgegangenen zehn Jahren an keinem der ihr vorliegenden Fälle von Verschwindenlassen oder extraviados staatliche Akteure direkt beteiligt gewesen seien. Mit dem Einsatz des Militärs zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens nach 2007 stieg aber die Zahl der Opfer von Verschwindenlassen deutlich. Berichte nationaler wie internationaler Menschenrechtsorganisationen belegen, dass Mitglieder der staatlichen Sicherheitskräfte, darunter Militär, Marine, militärischer Geheimdienst, Gemeindepolizei, bundesstaatliche Polizei und föderale Polizei direkt in Fälle von „gewaltsamen Verschwindenlassen“ involviert sind.

Die Hintergründe sind vielschichtig und regional verschieden. In einigen Fällen ist das „gewaltsame Verschwindenlassen“ ein Instrument politischer Repression. Dokumentiert ist dies im Fall der beiden Mitglieder der Guerillagruppe EPR (Ejército Popular Revolucionario) Gabriel Alberto Cruz Sánchez und Edmundo Reyes Amaya, die im Mai 2007 von Mitgliedern des staatlichen Sicherheitsapparates entführt und „verschwinden gelassen“ wurden.

Auch in den Fällen verschwundener MenschenrechtsverteidigerInnen und JournalistInnen könnte Repression das Motiv für ihr Verschwinden sein. Die Menschenrechtskommission CNDH hat zwischen 2005 und 2011 acht Anzeigen wegen Verschwindenlassens von MenschenrechtsverteidigerInnen aufgenommen. Die internationale Nichtregierungsorganisation Article 19 hat seit 2003 13 Fälle von verschwundenen JournalistInnen in Mexiko dokumentiert. Doch werden solche Fälle von der mexikanischen Justiz kaum verfolgt. Die tatsächlichen Hintergründe des Verschwindenlassen sind so kaum zu klären.

Es liegen allerdings ausreichend Zeugenaussagen vor, denen zufolge sich auch die Entführungen mit Lösegeldforderungen als Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens herausstellen. Der Menschenhandel ist ein lukratives Geschäft und die Komplizenschaft zwischen staatlichen Akteuren und dem organisierten Verbrechen liegt auf der Hand. Nicht nur die Sicherheitskräfte sind Teil dieser Kooperation, sondern auch Beamte anderer staatlicher Institutionen. MigrantInnen stellen hier die meisten Opfer. Seit 2008 hat sich die Anzahl der in Mexiko entführten MigrantInnen mehr als verdoppelt. Nach Angaben der CNDH wurden jährlich 22 666 MigrantInnen auf ihrem Weg durch Mexiko Opfer von Entführungen. „Die menschliche Person, das menschliche Wesen wird zu einer Handelsware gemacht“, so Bischof Raúl Vera in einem Interview. Wenige Monate zuvor war bekannt geworden, dass nicht nur die Mitglieder der staatlichen Sicherheitskräfte MigrantInnen an Banden der organisierten Kriminalität verkauften, sondern auch Beamte der Staatlichen Behörde für Migration, also genau jener Behörde, die eigentlich damit beauftragt ist, MigrantInnen zu schützen. 

Die entführten MigrantInnen werden für die Erpressung von Lösegeld sowie in der Zwangsprostitution oder als Arbeitssklaven ausgebeutet. Wie viele der entführten MigrantInnen weitergehenden Verbrechen zum Opfer fallen, ist unklar. Das Massaker von San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas, bei dem im August 2010 72 Menschen gefoltert und massakriert aufgefunden wurden, ist weithin bekannt. Dass diese Bluttat kein Einzelfall war, belegen weitere 47 Massengräber mit 196 Leichen, die 2011 entdeckt wurden. Das Netzwerk Foro Nacional para las Migraciones de Honduras (FONAMIH) hat die Fälle von 200 in Mexiko verschwundenen honduranischen MigrantInnen dokumentiert; in El Salvador haben die Familienangehörigen vom Comité de Familiares de Migrantes Fallecidos y Desaparecidos (COFAMIDE) 317 Fälle Verschwundener dokumentiert.

Internationalen Normen zufolge sind im Fall von gewaltsamem Verschwindenlassen Familienangehörige, enge FreundInnen oder KollegInnen über den gesamten Zeitraum des Verschwindenlassens als Folteropfer zu betrachten. Denn das Verschwindenlassen eines Menschen bedeutet für die Angehörigen schwere psychische, soziale sowie wirtschaftliche Belastungen. Neben Angstzuständen, Unsicherheit und Depressionen, die den Alltag vieler prägen, berichten Betroffene von der Zerstörung des sozialen Zusammenhaltes innerhalb der Familie oder zwischen KollegInnen. Ebenso bedeutsam sind die wirtschaftlichen Probleme. In vielen Fällen sind die Familienmitglieder auf das Einkommen des Verschwundenen angewiesen. Außerdem können bestimmte Leistungen, beispielsweise Sozialhilfen, nicht mehr in Anspruch genommen werden, wenn die unterschriftsberechtigte Person verschwunden ist.

Zusätzlich ist die Suche nach dem oder der Verschwundenen ein Prozess sich wiederholender Traumaerfahrungen und Viktimisierung, der meist mit dem Gang zur Polizeistation beginnt. Die Polizei erstellt dann entweder nur eine Aktennotiz und verhindert damit polizeiliche Untersuchungen oder sie weigert sich, das Verschwindenlassen als Anzeige aufzunehmen. Auch direkte Drohungen gegenüber den Familienangehörigen seitens der Beamten sind keine Ausnahme. Selbst in speziell geschaffenen staatlichen Institutionen, die Betroffene auf der Suche begleiten sollten, finden diese kaum geeignete Unterstützung. So mussten Familienangehörige, die die Unterstützung des erst 2011 eingerichteten Amtes für Opferbetreuung Províctima (Procuraduría Social de Atención a Víctimas de Delitos) erhalten wollten, folgenden Satz unterschreiben: „Es wird anerkannt, dass in dem vorliegenden Fall keine illegale Inhaftierung stattfand.“ Außerdem ist es insbesondere für Familienangehörige, wo Militärs oder Polizisten beim Verschwinden ihrer Angehörigen beteiligt waren, unzumutbar, dass Militärangehörige das Schlüsselpersonal bei Províctima stellen.

Dieser Leidensweg endet nicht, wenn vormals „Verschwundene“ tot aufgefunden werden. Bereits an der Identifizierung scheitert meist die Aufklärung über die Opfer. Gerichtsmedizin und Polizei fehlt es an Fachwissen und Personal oder sie behindern in Einzelfällen aktiv die Aufklärung. So wurden im Fall der 72 ermordeten MigrantInnen von San Fernando nur einzelne Leichen identifiziert und die sterblichen Überreste an die Familien überführt. Für zwei Familien in Honduras brachte dies weiteren Schmerz mit sich: In den Särgen lagen die Leichen von Unbekannten.

Für die Regierung Calderón mag das Monument auf dem Campo Marte dazu gedacht sein, die Hintergründe der Verbrechen zu verschleiern, diese nachträglich im Kampf gegen die Drogenmafia zu legitimieren und jede weitere Aufklärung über die Gewaltexzesse zu unterbinden. „Monument für Straflosigkeit und Staatsterrorismus“ nennen Opferorganisationen, darunter Fuundec-Fundem, Hasta Encontrarlos, El Comité de Familiares y Amigos de Guerrero und H.I.J.O.S., das Denkmal. Sie werden weiterhin ihre Familienangehörigen suchen, Fälle dokumentieren, Informationen systematisieren und Aufklärung einfordern. Außerdem beschäftigt sich das Permanente Völkertribunal (Tribunal Permanente de los Pueblos) seit einem Jahr explizit mit den Menschenrechtsverbrechen.

In sieben Schwerpunktbereichen werden Menschenrechtsverletzungen thematisiert: 1. Schmutziger Krieg und fehlender Zugang zur Justiz, 2. Migration, Flucht und Vertreibung, 3. Feminizide und Gendergewalt, 4. Gewalt im Arbeitssektor und Verletzung kollektiver Arbeitsrechte, 5. Gewalt gegen die Ernährungssouveränität, 6. Umweltzerstörung, 7. Falschinformation, Zensur und Gewalt gegen Medienschaffende. Ziel ist es, sowohl die strukturellen Ursachen der Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen, als auch der Straflosigkeit symbolisch ein Ende zu bereiten. Nicht nur Expräsident Felipe Calderón, auch die neue Regierung unter Präsident Peña Nieto wird sich der Verantwortung staatlicher Akteure für die systematischen Menschenrechtsverletzungen stellen müssen.