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Das berüchtigtste Viertel in Mexiko-Stadt

In Tepito hat sich um den traditionellen Schwarzmarkt eine eigene Kultur entwickelt

Barrio Bravo – das wilde Viertel, so wird der Stadtteil Tepito mitten in Mexiko-Stadt genannt. Meist wird mit Tepito auch der große Markt gemeint, der fast das ganze Viertel umfasst. Rund 10 000 Menschen arbeiten hier täglich auf dem Schwarzmarkt und verkaufen ihre Waren. Ein bekannter Spruch in Mexiko-Stadt lautet: „En Tepito se vende todo, menos la dignidad“ – in Tepito wird alles verkauft, außer der Würde. Wer sich in Tepito auskennt, findet dort tatsächlich fast alles, von gefälschten Unidiplomen über schwere Waffen bis hin zu Drogen. Doch neben dem immensen Markt ist Tepito immer auch ein Stadtteil mit brodelnder Kultur gewesen, der bestimmte Traditionen und trotz der vielen Veränderungen auch seinen Charakter bewahrt hat.

Frederik Caselitz

Als ich während eines Aufenthalts in Mexiko das erste Mal von Tepito hörte, folgte eine Schauergeschichte der nächsten. Man erzählte mir davon, dass Menschen auf offener Straße erschossen würden, nur um an ein Paar Schuhe zu kommen, dass die Taschendiebe bereits an der U-Bahn-Haltestelle auf einen warten würden, kurzum man das Viertel wahrscheinlich nicht mehr lebend verlässt, wenn man es betritt. Auf Nachfrage mussten mir die meisten meiner Bekannten zwar bestätigen, dass sie selbst noch nie in dem Viertel gewesen waren, dennoch schreckte ich zunächst vor einem Besuch Tepitos zurück. Immer wieder stieß ich danach auf den Namen, ob es nun ums Boxen ging, um mexikanische Erzählungen oder den Drogenkrieg. Ich behielt ein offenes Ohr für Erzählungen über das Barrio Bravo und musste mir eingestehen, dass eine ziemliche Faszination von diesem verruchten, aber authentischen Teil von Mexiko-Stadt ausging. Tatsächlich traf ich im Laufe der Zeit auf mehrere MexikanerInnen, die mir erklärten, dass man Tepito unbedingt mal gesehen haben müsste, wenn man denn Mexiko kennenlernen wolle. Gefährlich könne es zwar durchaus sein, aber die meisten Geschichten seien doch maßlos übertrieben. 

Eines Tages überwand ich mich und fuhr zusammen mit einer mexikanischen Freundin aus DF (Mexiko-Stadt) in die angebliche Höhle des Löwen. Als wir aus der U-Bahn stiegen und uns ins Viertel begaben, fühlte ich mich unsicher und blickte permanent über meine Schulter. Nach einer Weile packte mich meine Freundin und sagte: „Jetzt hör mal auf dich immer umzuschauen und entspann dich einfach.“ Ich brauchte ungefähr eine halbe Stunde, ehe ich mich wirklich etwas gelockert hatte. Tatsächlich war Tepito danach für mich eine durchaus interessante Erfahrung. Wir drückten uns in den Seitenstraßen rund um die Haltestelle herum und bummelten von Stand zu Stand. Man fühlte sich nicht, als würde man durch Straßen laufen, sondern eher wie in einer riesigen Halle, da fast alles von Zelten der Verkaufsstände umgeben war. 

Während in ganz Mexiko der Alkoholkonsum auf der Straße verboten ist, liefen in Tepito Straßenhändler mit Einkaufswagen voller Caguamas – den 1,5-Liter-Bierflaschen – herum und es kam mir alles ein wenig wie auf einem Festival vor. In erster Linie wurden um uns herum Piraterieprodukte und billige Markenklamotten verkauft, die wahrscheinlich geklaut waren. Um zu den wirklich kriminellen Händlern zu gelangen, muss man sich wohl auskennen, denn wir sahen nur die normalen Waren, die man auch auf anderen Märkten sieht – allerdings eine riesige Auswahl zu spotbilligen Preisen. Die VerkäuferInnen an den Ständen waren – anders als sonst – kaum aufdringlich, sondern fasziniert davon, einen Europäer zu sehen, der sich in Tepito herumtreibt. Als wir an der Haltestelle zurück waren, merkte ich, dass ich mich auf dem gesamten Rückweg nicht mehr umgedreht hatte. 

Es ist wohl auch die Paranoia des Drogenkrieges, die viele MexikanerInnen glauben lässt, Tepito sei ein Viertel, in dem nur die nackte Gewalt das Überleben garantiert. Oft wird vergessen, dass Tepito ein Wohnviertel ist, wo die meisten BewohnerInnen eher Opfer der Gewalt als TäterInnen sind. Der Stolz der Tepiteños dreht die negativen Klischees um, so lautet der Spruch, für den das Viertel bekannt geworden ist: „Man kann stolz sein, Mexikaner zu sein, aber aus Tepito zu kommen, ist ein Geschenk Gottes.“ Die Symbolik, die das Viertel begleitet, geht auch auf seine lange Geschichte zurück, denn im Unterschied zu vielen anderen Metropolen befindet sich dieses „schlechte“ Viertel inmitten des Zentrums von Mexiko-Stadt und nicht am Rand, wohin man sonst gerne die Armut drängt. 

Die Geschichte von Tepito reicht zurück bis in die vorkoloniale Zeit. Als Fischerdorf wurde es von den Azteken unterworfen, doch durften die BewohnerInnen nicht auf dem nahegelegenen Tlatelolco-Markt handeln. Stattdessen verwandelte sich Tepito in den Ort, wo sich die Lieferanten trafen und nach Unterkunft suchten. Um die Züge mit den Waren herum bildete sich ein Schwarzmarkt. Auch während der Kolonialzeit blieb die Struktur des Viertels ähnlich. HändlerInnen, die aus dem Zentrum der Stadt vertrieben worden waren, wählten in Tepito ihren Alternativstandort und der Schwarzmarkt wurde zum festen Bestandteil des barrios. Durch die Einführung der Eisenbahn wurde Tepito als Unterkunft für die Lieferanten überflüssig, stattdessen etablierte es sich als Wohnviertel. 

1901 verstärkte sich seine Bedeutung, als der letzte tianguis (traditioneller mesoamerikanischer Markt) im Zentrum von Mexiko-Stadt geschlossen wurde. Tepito wurde als Markt für sehr billige Produkte bekannt. Galt Tepito zunächst durchaus noch als Stadtteil für die Mittelschicht, wurde zunehmend die ärmere Bevölkerung dahin umgesiedelt. Der Höhepunkt der Migration wurde durch Flüchtlinge in Folge der Guerra Cristera1 erreicht, die aus dem Norden des Landes in den Stadtteil strömten. Die Häuser verwandelten sich in Massenunterkünfte ohne sanitäre Anlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Mieterhöhungen verboten; bis heute wehren sich die BewohnerInnen gegen Initiativen der Stadt oder der Vermieter, die Mieten zu erhöhen. Die billigen Mieten zogen viele Kleinkriminelle und Prostituierte an, so dass sich die Sozialstruktur des Viertels nachhaltig änderte. Durch das harte Leben im barrio etablierte sich in den 60er-Jahren der Boxsport als fester Bestandteil. Eine Reihe von Weltmeistern lernte in Tepito boxen und gewann Titel für Mexiko, insbesondere bei den Olympischen Spielen 1968. In Mexikos U-Bahn erhält jede Station ein Symbolbild, damit auch AnalphabetInnen wissen, wie sie an ihr Ziel gelangen. In Tepito ist das Logo ein Boxhandschuh.

Eine weitere Migrationswelle erreichte Tepito 1985, als beim Erdbeben von Mexiko-Stadt ein Großteil der chilangos, der BewohnerInnen von Mexiko-Stadt, ihre Wohnungen verloren. In der Folge versuchte die Stadt das Viertel aufzuräumen bzw. die bisherigen BewohnerInnen zu vertreiben. Doch die BewohnerInnen schafften es bisher immer wieder erfolgreich, sich dagegen zu wehren, da das Viertel über eine starke interne Organisation verfügt. Verantwortliche werden von der Basis gewählt und verhandeln mit den Behörden der Stadt. Zur Not greifen die Tepiteños aber auch auf Blockaden und Demonstrationen zurück, um die Hoheit über ihr Viertel zu erhalten.

Die Organisationsformen von Tepito haben auch immer wieder akademisches Interesse geweckt. Der Post-Development-Theoretiker und ila-Autor Gustavo Esteva widmete Tepito im Jahr 1991 eine Hommage mit dem Titel „Tepito: No Thanks, First World – Nein Danke, Erste Welt“. Mit großer Faszination beschreibt Esteva, wie Tepito ohne den Einfluss „moderner“ Institutionen eigene Regelwerke etabliert und sie an die neuen Bedingungen anpasst. Als die MarktverkäuferInnen merkten, wie Taschendiebstähle in Tepito zunahmen, fürchteten sie um ihr Geschäft und schufen einen eigenen Sicherheitsdienst. Wenn ein Taschendieb erwischt wurde, rasierte man ihm den Kopf, nahm ihm die Schuhe ab und ließ ihn laufen. Doch auf seinem Weg durchs Viertel wurde er dann schnell als Taschendieb erkannt, beschimpft und bespuckt. 

Esteva sieht diese Form der Strafe als sozialere Lösung als die Strafsysteme der sog. Ersten Welt. „Als Menschen aus der Ersten Welt wollen wir Kanalsysteme und Gefängnisse. Wir wollen, dass unsere Exkremente und unsere sozialen Fehler gut aus der Sicht verschwinden.“ Doch Esteva bemerkt schon 1991, dass sich die Struktur des Viertels zu verändern droht. Den starken Einfluss von Drogen und Drogenkartellen sieht er mit großer Skepsis und ihn treibt die Sorge um, dass der Stadtteil dadurch seine Identität verlieren und die bloße Gewalt die politischen Organisationsformen ersetzen wird. Eine Initiative der Stadtregierung legte 2007 einen der Hauptumschlagsplätze für Drogen des Viertels lahm – die sog. La Fortaleza – und beschlagnahmte über acht Kilogramm Kokain und über eine halbe Tonne Marihuana. In dem Wohnkomplex befanden sich 411 Personen, die meisten davon ehemalige Gefängnisinsassen oder gesuchte Verbrecher. Der Gebäudekomplex wurde anschließend in staatliche Hände übergeben. 

Dennoch scheint der Drogenkrieg in den letzten Jahren auch vor Tepito keinen Halt zu machen. Fast monatlich kommt es zu Schießereien, Leichen werden am Straßenrand gefunden. Der Tod ist eines der wiederkehrenden Themen in Tepito. Die Santa Muerte wird als Heilige des Viertels verehrt. Es heißt: „Die Santa Muerte wacht über Tepito.“ Etwas befremdlich wirken die vielen PilgerInnen in den Straßen von Mexiko-Stadt, die eine Statue der Santa Muerte um den Hals hängen haben. Die Statuen ähneln den Marienstatuen, doch die Santa Muerte ist ein Skelett. Die Heilige ist kein ausschließlich mexikanisches Phänomen, sondern taucht ebenfalls in Cuba auf und wurde mittlerweile durch viele ImmigrantInnen bis in die Metropolen der USA gebracht.2 Ihr genauer Ursprung ist ungeklärt, doch ist sie eine Mischung aus mesoamerikanischen Traditionen und katholisch-christlichen Ritualen. 

Ähnlich wie beim mexikanischen Volksfest, dem Tag der Toten, liegen die Wurzeln in der Verehrung des Todes. Doch anders als der Tag der Toten wurde der Kult um die Santa Muerte von der katholischen Kirche in Mexiko nie akzeptiert. Von dort heißt es, es handele sich um Satansanbetung, gar um eine Sekte. Dass die Santa Muerte in Tepito auftaucht, ist keinesfalls Zufall. Insbesondere Personen, die nachts arbeiten, sollen von ihr beschützt werden. Der Mythos besagt, Santa Muerte könne Wünsche erfüllen, zu denen sonst keine andere Heilige in der Lage sei. Dafür wird ihr mit durchaus katholischen Gebeten gehuldigt und ihr werden Gaben gebracht, oft Tequila und Zigaretten. Der oder die Betende muss sich allerdings im Recht befinden, denn die Santa Muerte wird nur im Namen der Gerechtigkeit aktiv.

Auch die mexikanische Filmbranche hat das Viertel Tepito für sich entdeckt und wird in einer Fernsehserie die Geschichten aus dem barrio verfilmen. Vor einigen Jahren gab es mit Don de Dios – „Geschenk Gottes“, eine Anspielung auf das eingangs zitierte Sprichwort – bereits einen Kinofilm, der allerdings sehr plakativ den Konflikt zwischen zwei Freunden beschreibt, die ins kriminelle Milieu eintauchten. Die Fernsehserie wird voraussichtlich mit einem höheren Budget von dem renommierten Schauspieler Daniel Giménez Cacho umgesetzt, der damit sein Debüt als Regisseur geben wird. Neben den Erfolgen als Schauspieler mit der Adaption des Buches Arráncame la vida (der mexikanischen Schriftstellerin Angeles Mastretta) tritt Giménez Cacho auch vermehrt politisch in Erscheinung, bei Kampagnen gegen den Krieg gegen Drogen in den USA oder gegen Peña Nieto. 

Das mexikanische Kino ist bekannt für seine kritische Thematisierung von Missständen. Zuletzt sorgte der Kinofilm El Infierno für großes Aufsehen, in dem die Brutalität des Drogenkrieges und die Verwicklung der Politik satirisch dargestellt werden. Giménez Cacho, einer der Hauptdarsteller bei El Infierno, hat hohe Erwartungen an sein Regiedebüt: „Wir möchten nicht die Geschichten aus dem Viertel klauen, sondern wir möchten, dass die Menschen selber auf unsere Serie einwirken“, erklärte er einer mexikanischen Zeitung. Um das zu erreichen, werde er Workshops in Tepito anbieten und auch selber im Viertel präsent sein. „Wir werden alles dort machen, zusammen essen und uns mit den Bewohnern austauschen“, so Giménez Cacho. Die Widersprüche der mexikanischen Gesellschaft finden sich auch in Tepito wieder. „Wir sind damit konfrontiert, dass wir oft nicht unterscheiden können, wer ist die Behörde und wer sind die Kriminellen.“ Man darf hoffen, dass Cacho die Umsetzung der Serie gelingt und sich seine Befürchtungen, mit der PRI kehre die Zensur zurück, als grundlos erweisen. 

P.S.: Irgendwie ist es eine passende Anekdote, dass ich bei meinen Recherchen auf die Internetseite des Centro de Estudios Tepiteños gestoßen bin und Google mich warnte, „diese Website kann ihren Computer schädigen“. Da aber in erster Linie Reportagen aus Tepito verlinkt waren, aktualisierte ich meinen Virenscanner und Browser und klickte trotzdem. Es ist nichts passiert.

  • 1. Konflikt zwischen gläubigen Bauern und der antiklerikalen Regierung
  • 2. Nicht zu verwechseln mit der südamerikanischen San la Muerte. Auch wenn beide ähnliche Züge haben, haben sie doch unterschiedliche Ursprünge.