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Der Kampf um die Neugründung

Der Putsch vom Juni 2009 hat die anachronistische Struktur des honduranischen Staates bloßgelegt – nun geht es um deren Überwindung

Am 28. Juni 2009 wurde in Honduras der demokratisch gewählte Präsident Manuel „Mel“ Zelaya aus dem Amt geputscht. Dieser Putsch war der erste seiner Art seit geraumer Zeit und rief Erinnerungen an Zeiten wach, in denen zahlreiche unliebsame Regierungen Lateinamerikas mit Unterstützung der USA gewaltsam abgesetzt worden waren. Der Putsch katapultierte Honduras, von den Medien bis dahin eher stiefmütterlich behandelt, ins Zentrum der internationalen Berichterstattung.

Ina Hilse

Honduras hat in Bezug auf Staatstreiche eine lange Tradition. Seit der Unabhängigkeit von Spanien 1821 hat es über 100 Putsche gegeben. Diese Reihe wurde mit der Verfassung von 1982 durchbrochen; die 27 Jahre ihrer Existenz – bis zum Putsch 2009 – stellen den längsten Zeitraum ohne gewaltsamen Regierungswechsel in Honduras dar.

Das honduranische Parteiensystem war bis dahin von den beiden großen Parteien, den Liberalen und Nationalen, dominiert. Die Liberale Partei war traditionell in zahlreiche Strömungen zersplittert, die sehr unterschiedliche Standpunkte einnahmen, von konservativ und religiös-fundamentalistisch bis zu einem kleinen sozialdemokratisch reformerischen Flügel. Die Nationale Partei fungierte in der Vergangenheit häufig als Sprachrohr des Großgrundbesitzes, Unternehmertums und Militärs. In der Nationalen und ebenso in der Liberalen Partei sind die mächtigen Wirtschafts- und Finanzkartelle des Landes vertreten, das heißt, in Honduras sind Wirtschaft und Politik sehr stark miteinander verflochten. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Partei ist dementsprechend keine eigentlich politische Entscheidung eines Individuums, insbesondere da es keine Parteiprogramme im engeren Sinne gibt und die Parteien auch zu vielen Fragen kaum unterschiedliche Positionen hatten, sondern eine Frage der Familientradition. 

Das spiegelt sich in Aussagen wie „Ich wähle Liberal, weil meine Familie Liberal ist“ wider. In schöner Regelmäßigkeit wechselten sich die beiden Parteien an der Regierungsmacht ab, wodurch die Pfründen gesichert an die gleichen 12 Familienclans gingen, die die Wirtschaftsmacht im Land innehaben. Es gab bis zum Putsch noch drei kleinere Parteien. Eine davon, die Unificación Democratica UD, war als ein Zusammenschluss mehrerer linker Gruppen und Parteien gegründet worden und über einige Jahre die einzige Partei, die kritische und inhaltliche Positionen bezog. Durch ihre Teilnahme an den Wahlen im November 2009, wodurch sie diese legitimieren halfen, hat sie ihre politische Glaubwürdigkeit verloren. Während des Wahlkampfs haben zahlreiche linke AktivistInnen die Partei verlassen und zum Wahlboykott aufgerufen.

Seit 2005 war Mel Zelaya als Präsident für die Liberale Partei an der Regierung. Von vornherein ein Minderheitskandidat in seiner eigenen Partei, hatte er keine ausgebaute Machtposition. Während seiner Regierungszeit traf er – obwohl selbst kein Linker – verschiedene Entscheidungen, die ihm die Unterstützung der sozialen Bewegungen einbrachten. Dazu zählen die Erhöhung des Mindestlohns, der Beitritt zu Petrocaribe und dem alternativen Wirtschaftsbündnis ALBA. In seiner eigenen Partei wurde er dadurch hingegen immer stärker isoliert. Die Situation spitzte sich um die Frage einer Verfassungsänderung mit demokratischeren und partizipativen Elementen zu. Im Juni 2009 war eine unverbindliche Konsultation der Bevölkerung geplant, ob ein Plebiszit zu einer Verfassunggebenden Versammlung durchgeführt werden sollte. Die Auseinandersetzung um die Legitimität und Legalität dieser Befragung führte zum Putsch. 

Verfassungsänderung sowie die Befragung selbst wurden von konservativen Kräften als Bedrohung gesehen und vom Obersten Gerichtshof verboten. Ein weiterer Vorwurf war, dass Zelaya in Wirklichkeit nur seine Wiederwahl durchsetzen wolle – nach der honduranischen Verfassung ist eine Wiederwahl weder direkt noch zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Interessantes Detail an diesem Vorwurf ist, dass im Januar 2011 die Verfassung von der amtierenden konservativen Regierung Lobo dahingehend geändert wurde, dass ein Referendum bezüglich der Wiederwahl eines Präsidenten möglich ist.

Am 28. Juni 2009 wurde Mel Zelaya aus seinem Haus entführt und außer Landes gebracht. Der Kongress vereidigte den Kongresspräsidenten Roberto Micheletti – der ebenfalls der Liberalen Partei angehört, aber dem rechten, religiös-fundamentalistischen Flügel zuzurechnen ist – als Interimspräsidenten. Die Oligarchie, Inhaber der großen Medien wie Flores Facusse, die Nationale und Teile der Liberalen Partei, die Spitzen der katholischen und evangelischen Kirche, UnternehmerInnen und der Ombudsmann für Menschenrechte, Ramón Custodio, hatten die Vereidigung von Micheletti begrüßt und anerkannt. Kardinal Rodríguez, Vorsitzender von Caritas International, der sich in Deutschland als Galionsfigur der Erlassjahrkampagne einen Namen gemacht hatte, unterstützte den Putsch als legitime Absetzung eines verfassungsbrüchigen Präsidenten. Zu den eklatanten Menschenrechtsverletzungen seitdem schweigt er eisern. Auch die USA haben sich zunächst positiv auf Micheletti bezogen und ihre Position erst aufgeweicht, als sie mit energischen Reaktionen konfrontiert waren. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Europäische Union (EU) und die Vereinten Nationen (UN) verurteilten den Putsch, Honduras wurde aus der OAS ausgeschlossen und die EU fror ihre Zahlungen an die Putschregierung vorübergehend ein.

In Honduras kam es zu breiten Protesten gegen den Putsch und die Regierung Micheletti. Es entstand die Widerstandsbewegung Frente Nacional de resistencia popular (Nationale Front des Volkswiderstands – FNRP), die von sehr verschiedenen Gruppen getragen wurde, von traditionell gut organisierten Sektoren wie Gewerkschaften, BäuerInnen und LehrerInnen sowie der Frauenbewegung, dem aus dem Widerstand gegen das Freihandelsabkommen hervorgegangenen Bloque popular, aber auch von Sektoren, die bislang nicht so stark auf der politischen Ebene präsent waren, wie KünstlerInnen, Lesben, Schwule, Transsexuelle (LGTB), Studierende, Hausfrauen, Indigene, KünstlerInnen, Arbeiterinnen aus Maquilafabriken. Energisch wehrten sie sich mit täglichen Straßenblockaden, Demonstrationen und Streiks gegen den Putsch. Das Regime reagierte mit Repression: Festnahmen, Ausgangssperren, Zensur, Ansteigen der politischen Morde, die alle straffrei blieben. 

Im November 2009 wurden trotz dieser Situation turnus- mäßig Präsidentschaftswahlen durchgeführt. Weite Teile der Widerstandsbewegung haben die Wahlen boykottiert und für ungültig erklärt, da unter den Bedingungen von Putsch und Repression keine freie Wahlen möglich wären. Dass dennoch alle existierenden Parteien ihre Teilnahme aufrechterhielten (die Christ- und Sozialdemokraten und die oben erwähnte UD, die den Pusch eigentlich alle drei verurteilt hatten, wurden mit Regierungsposten geködert, und gleichzeitig drohte ihnen bei einem Wahlboykott der Verlust ihres Parteienstatus) legitimierte die Wahlen und führte dazu, dass sie früher oder später anerkannt wurden. Wenig überraschender Sieger dieser Wahl war der Kandidat der Nationalen Partei Porfirio „Pepe“ Lobo, der bereits 2005 gegen Mel Zelaya angetreten war und relativ knapp verloren hatte. Das Kabinett von Pepe Lobo, das er in der Woche seines Amtsantritts vorstellte, wurde als „Regierung der Nationalen Einheit“ präsentiert. Die Kandidaten aller Parteien haben einen Posten erhalten: Cesar Ham von der ehemals linken UD das Landwirtschaftsministerium, Francisco Ávila von den Christdemokraten das Arbeitsministerium und Bernardo Martínez von der sozialdemokratischen PINU das Kulturministerium.

Seit dem Amtsantritt von Pepe Lobo wird offziell ein Diskurs der nationalen Versöhnung gepflegt, gleichzeitig ist seine bisherige Regierungszeit von Repression und Menschenrechtsverletzungen geprägt. Alternative Medien, die kritisch über den Putsch oder andere Konflikte berichten, werden bedroht, bereits 17 kritische JournalistInnen wurden ermordet. Auch die LGTB befinden sich in einer starken Bedrohungssituation. Die Zahl der ermordeten LGTB überstieg zeitweise die der Feminicidios, der sytematischen Frauenmorde. Ein weiterer, seit langem schwelender Konflikt, der Landkonflikt im Bajo Aguán, ist während der Regierungszeit Lobo eskaliert. Die Menschenrechtsverletzungen seit der Regierungsübernahme Pepe Lobos übersteigen noch die der sieben Monate des Putschregimes.

Im Rahmen des Versöhnungsdiskurses der Regierung Lobo wurde auch die im Abkommen von San José vereinbarte Einrichtung einer Wahrheitskommission, um die „Ereignisse um den 28. Juni“ – nicht etwa den Putsch – aufzuklären, Makulatur. Ein Mandat zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen, die in diesem Zusammenhang und seitdem geschehen, besteht nicht direkt. Sie sollen gesondert untersucht werden – soweit sie bei einer staatlichen Institution zur Anzeige gekommen sind, was meist nicht der Fall ist. Vielmehr läuft es darauf hinaus, dass mit dieser Kommission die am Putsch beteiligten Institutionen aus dem Justizsystem ihre eigenen Taten untersuchten. Den Vorsitz hatte Eduardo Stein inne, Funktionär der UN und ehemaliger Vizepräsident von Guatemala. Diese offizielle Wahrheitskommission hat ihren Bericht Anfang Juli 2011 veröffentlicht. Der Putsch wird darin überraschenderweise tatsächlich als Putsch qualifiziert – er erfülle alle Kriterien, um Staatsstreich genannt zu werden –, und die sieben Monate der Putschregierung von Micheletti als Diktatur. Es gab auch verschiedene Empfehlungen zur Versöhnung, die aber verpufften.

Als Gegengewicht wurde von zivilgesellschaftlichen Organisationen die alternative Wahrheitskommission comisión de verdad (Wahre Kommission) ins Leben gerufen, deren Untersuchungsgegenstand explizit die Menschenrechtsverletzungen sind und deren Ergebnisse die Grundlage für eine juristische Strafverfolgung bilden sollen. Die fehlende Finanzierung und die Bedrohungen gegenüber Mitgliedern und den Büros erschweren die Arbeit erheblich, so dass bislang kein Bericht vorliegt.

Nachdem der gestürzte Präsident Zelaya von September 2009 bis Januar 2010 in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa Schutz gefunden hatte, entwickelte er sich zum Symbol der Widerstandsbewegung. Nach der Amtsübernahme von Pepe Lobo im Januar 2010 ging Zelaya ins Exil in der Dominikanischen Republik. Im Mai 2011 konnte er ohne Verhaftungsgefahr als Koordinator der Widerstandsbewegung nach Honduras zurückkehren. Er möchte die Bewegung als breite Front, in der Platz für alle Strömungen sei, konzipieren. Er meint damit eine politisch-strategische Allianz und hat eine neue Partei gegründet und sie in semantischer Anlehnung an seine vorherige Partei LIBRE (Partido de Libertad y Refundación) genannt, die bei den nächsten Wahlen 2013 mit der Präsidentschaftskandidatin Xiomara Castro, seiner Ehefrau, antreten wird. Eine weitere neue Partei ist die Acción Patriótica von General Romeo Vásquez Velásquez, derzeitiger Chef der Telefongesellschaft Hondutel und prominenter Unterstützer des Putsches, gegen den ein internationaler Prozess wegen Urheberschaft des Staatsstreiches anhängig ist. Dritte neue Partei ist die von dem schwulen Sportreporter Nasralla gegründete Antikorruptionspartei. Eine weitere neue Partei, die aus der Widerstandsbewegung hervorgehen sollte, die von Andres Pavón gegründete FAPER, konnte nicht genug Unterschriften für den Eintrag ins Parteiregister erzielen.

Das Widerstandsbündnis FNRP definiert sich in seinem Positionspapier als „breit angelegte Organisation des politischen und sozialen Kampfes, antikapitalistisch, antineoliberal, antioligarchisch, antiimperialistisch, antipatriarchal und antirassistisch, die die Transformation der …. Strukturen durch eine Verfassunggebende Versammlung… sucht“. Zentrales Ziel war und ist die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Mit der Frage, welcher Weg dorthin zu beschreiten sei, entstand auch eine Debatte darüber, wie sich die resistencia organisieren will – entweder ein loser Zusammenhang von verschiedenen Gruppen zu bleiben, sich als feste Organisation zu gründen oder gar als Partei, um bei Wahlen anzutreten. Die letztere Option war vor allem für die DissidentInnen der Liberalen Partei wichtig, die Parteipolitik als das Kernstück ihres politischen Engagements begriffen. Mit der Gründung von LIBRE ist dieser Weg geöffnet. 

Dagegen jedoch wehren sich andere Teile der Widerstandsbewegung, die sich nicht auf das diskreditierte politische System einlassen wollen. Der Beschluss der Generalversammlung der FNRP vom 26. Februar 2011, an der 1500 Delegierte teilnahmen, lautet, erst auf einen Wahlprozess zuzugehen, wenn die Konditionen stimmen – das heißt, wenn Zelaya zurückgekehrt ist (was erfolgt ist) und wenn die Justizstrukturen wie Wahlgericht und Oberster Gerichtshof nicht mehr von den gleichen Menschen geleitet werden, die während des Putsches in diesen Positionen waren (was nicht erfolgt ist).

Die der Parteigründung gegenüber kritisch eingestellte Strömung hält an dem Ziel einer selbst einberufenen Verfassunggebenden Versammlung fest, also über die autonomen Strukturen der Widerstandsbewegung. Die Möglichkeit, die Verfassunggebende Versammlung über ein Referendum mit zwei Dritteln der Stimmen der Abgeordneten des Kongresses einzuberufen, wird als „nach den Spielregeln des Feindes spielen“ gewertet, da es damit die den Putsch unterstützenden Abgeordneten sind, die über die Verfassungsgebende Versammlung entscheiden. Ob sich auch die Teile der Widerstandsbewegung, die die Gründung von LIBRE unterstützen, an diese Beschlüsse gebunden fühlen, wird von den Mehrheitsverhältnissen in der FRNP abhängen.