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Die Städte denen, die darin leben

Eine spannende Publikation über urbane soziale Bewegungen in Lateinamerika
Gert Eisenbürger

Die Grundforderung der bäuerlichen und Landlosenbewegungen in Lateinamerika lautet „Das Land denen, die es bebauen“. Analog dazu reklamieren seit einigen Jahren urbane Bewegungen das Recht, ihre Stadt, insbesondere ihr Stadtviertel mitzugestalten, um den Bewohnern und Bewohnerinnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Das Spektrum und Tätigkeitsfeld dieser städtischen Sozialbewegungen ist breit. Darunter fallen Initiativen, die sich für Infrastruktur und kommunale Einrichtungen, wie Wege, öffentliche Plätze, Zugang zu Trinkwasser oder soziale Einrichtungen einsetzen bzw. entsprechende Projekte in Eigenregie organisieren ebenso wie Bürger/innen, die sich in den unterschiedlichen Gremien kommunaler Partizipation engagieren, die in den letzten Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern geschaffen wurden.

Mit dem Buch „Recht auf Stadt – Gemeinwohlorientierte Selbstorganisation in Lateinamerika“ legt das Informationsbüro Nicaragua Wuppertal nun eine Publikation vor, die die Ansätze und Zielsetzungen der städtischen Sozialbewegungen in Lateinamerika an ausgewählten Beispielen darstellen und reflektieren möchte. Grundlage des Buches sind aktuelle Interviews mit lateinamerikanischen AktivistInnen, die mehrheitlich während einer zweimonatigen Recherchereise durch Argentinien, Uruguay, Bolivien, Peru, Ecuador und Venezuela Anfang 2011 entstanden. Dazu kommen Gespräche mit AktivistInnen aus Cuba und Nicaragua, die bei anderen Gelegenheiten geführt wurden.

Im ersten Teil geht es um kommunale Partizipationsprojekte in Venezuela, Uruguay und Nicaragua. In den Interviews und erläuternden Texten wird deutlich, dass Regierungen zwar häufig Dezentralisierung und Einflussmöglichkeiten der BewohnerInnen der barrios postulieren und entsprechende Organe schaffen, tatsächliche Mitbestimmung aber den lokalen Behörden oft mühsam abgetrotzt werden muss. Wenn die Leute Ideen haben und Prioritäten setzen wollen, die von denen der Stadtverwaltungen abweichen, gibt es Konflikte und es bedarf klar umrissener Kompetenzen der Partizipationsorgane, damit sie ihre Vorstellungen durchsetzen können. Gibt es die nicht bzw. werden sie von Behörden ausgehöhlt, haben die Leute schnell das Gefühl, sie könnten doch nichts bewirken und beenden ihr Engagement. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung des uruguayischen Aktivisten und langjährigen Funktionärs der Stadtverwaltung von Montevideo, Walter Cortazzo, dass vor allem die Mittelschichten ihre Interessen artikulierten, während die Reichen und die Bewohner/innen der Armenviertel sich deutlich weniger einbrächten.

Ein zentrales Problem vieler Partizipationsmodelle ist der Versuch der politischen Parteien, Einfluss auf die Mitbestimmungsorgane zu nehmen. Das kann soweit gehen, dass kommunale Selbstverwaltungsstrukturen für Parteiinteressen instrumentalisiert und damit letztlich ad absurdum geführt werden, wie im Falle der von der Regierung Ortega in Nicaragua initiierten CPC (Bürgermachtsräte).

Im zweiten Teil des Buches geht es um drei konkrete Beispiele gemeinwohlorientierter Selbstorganisation in Lateinamerika, nämlich Wohnbaukooperativen in Uruguay und Ecuador, Stadtgärten in Cuba und selbstverwaltete Betriebe in Argentinien. In den Interviews beschreiben die AktivistInnen ihre jeweiligen Projekte und deren Entwicklungen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie von ihren Ansätzen überzeugt sind. Probleme und Rückschläge werden kaum thematisiert. Einzig das Interview zu den Stadtgärten und kommunaler Gemüseproduktion in Cuba stellt das Projekt sehr differenziert dar und reflektiert auch kritisch die Schwierigkeiten und Defizite.

Ein eigenständiges Kapitel ist der Auseinandersetzung um die indigene Autonomie in Bolivien gewidmet. Nach der Verfassung von 2006 können indigene Gemeinschaften diese beantragen. Damit sind sehr weitgehende Selbstverwaltungskompetenzen verbunden, die erheblich über die Partizipationsmodelle in anderen Ländern hinausgehen. Allerdings sind die Hürden zur Erreichung der indigenen Autonomie sehr hoch. Ob Gemeinschaften/Gemeinden diese letztendlich erhalten, entscheiden Gerichte nach der Vorlage entsprechender Unterlagen (Unterschriftenlisten, Ergebnisse von Plebisziten in den Gemeinschaften, Gutachten). Bisher haben erst elf Munizipien (kommunale Verwaltungseinheiten) den Status einer autonomen indigenen Gemeinde beantragt.

Im letzten Abschnitt des Buches kommen städtische Sozialaktivisten aus Wuppertal zu Wort. Sie sprechen über ihre Arbeit und darüber, was sie von den urbanen Bewegungen Lateinamerikas lernen können. Dabei fällt auf, dass sie sehr Spannendes über die sozialen Probleme und Widersprüche hierzulande zu berichten haben und dabei brisante Fragen aufwerfen. Ihre Sichtweise auf Lateinamerika und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Stadtteilarbeit hüben und drüben bleibt dagegen eher blass und teilweise auch etwas schematisch. Ein Beleg mehr dafür, dass es eine ausgesprochen gute Idee war, das Buch „Recht auf Stadt“ zu veröffentlichen und die Diskussionen von der anderen Seite des Atlantiks hier zugänglich zu machen.

Informationsbüro Nicaragua e.V. (Hg.): Recht auf Stadt. Gemeinwohlorientierte Selbstorganisation in Lateinamerika, mit Beiträgen von: Klaus Heß, Ina Hilse, Ralf Ohm, Ulla Sparrer, Basta-Gruppe Wuppertal, Nahua Script 13, Wuppertal 2011, 110 Seiten, 5,- Euro.

Bezug: Informationsbüro Nicaragua, Postfach 10 13 20, 42103 Wuppertal, oder im Buchhandel