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Bildungssystem im Übergang

Interview mit Christian Müller, Leiter der DAAD-Außenstelle Brasilien

Das Schwellenland Brasilien ist allein aufgrund seiner Größe ein wichtiger Hochschulstandort. Es befindet sich unter den Top Ten der Länder mit den meisten HochschulabsolventInnen, obwohl insgesamt nur 11 Prozent der Bevölkerung einen Hochschulabschluss haben. Allein die schiere Anzahl von Studierenden ist zwar wenig aussagekräftig, aber in den letzten Jahren hat sich auch einiges hinsichtlich der Qualität der Hochschulbildung getan. Als Konsequenz wird Brasilien zunehmend interessant für ausländische ForscherInnen. Christian Müller, Leiter der Außenstelle des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes (DAAD) in Rio de Janeiro, gibt im Gespräch einen Überblick über die Universitäten und das Studium in Brasilien, über Fortschritte und Mängel im System.

Anne Knab

Was sind die Besonderheiten des brasilianischen Hochschulsystems? Gibt es hervorstechende Unterschiede im Vergleich zu Deutschland?

Ja, die gibt es. Die brasilianische Hochschullandschaft ist sehr stark durch private Universitäten geprägt, viel stärker als Deutschland. Von den ca. 2300 Hochschulen sind über 70 Prozent in privater Hand. Gleichzeitig ist aber die Qualität der Forschung und Lehre in den öffentliche Hochschulen viel höher. Die öffentlichen Hochschulen verfügen beispielsweise über mehr Personal, dort arbeitet die Mehrheit der Promovierten und Post-Docs, die wichtige Forschung findet hier statt. Die privaten Hochschulen konzentrieren sich überwiegend auf die Lehre. 

Die Anzahl der privaten Hochschulen lässt vermuten, dass das Bildungssystem nicht sehr durchlässig ist!?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits muss man sagen: Ja, Studieren in Brasilien kostet meistens Geld, die privaten Hochschulen sind nicht billig. Die Gebühren gehen bis zu 1200 Euro monatlich. Familien, die ihren Kindern eine gute Bildung ermöglichen möchten, richten sich darauf ein und beginnen früh zu sparen, wenn sie können. Aber andererseits wurden in den vergangenen Jahren Reformen eingeleitet, die das Hochschulsystem durchlässiger machen. Unter Präsident Lula wurde beispielsweise ein Stipendienprogramm eingeführt, das sich zum ersten Mal auch an der sozialen Herkunft der Bewerber orientiert. Private Hochschulen können damit ein bestimmtes Kontingent an kostenlosen Plätzen abgeben. Zudem gibt es jetzt ein Quotensystem, das bestimmten Minderheiten, wie Indigenen und Afrobrasilianern, Zugang zur Hochschulbildung garantiert. Das System differenziert sozusagen „nach Hautfarbe“. Die Regelung ist aber, wie jede Quote, umstritten, da sich so manche benachteiligt fühlen. 

Neben der Quotenregelung und den Stipendien hat Lula auch mehrere neue Bundesuniversitäten gegründet, darunter innovative Projekte wie die afrobrasilianische Universität in Redenção. Und viele dieser neuen Unis befinden sich im Landesinnern und nicht, wie die Mehrheit der Hochschulen, in der wirtschaftlich relevanten Küstenregion. Diese Erreichbarkeit macht für zahlreiche junge Leute das Studieren erst möglich. Die neuen Bundesuniversitäten gehören zwar noch nicht zur Spitze, aber ich bin optimistisch, dass sie sich gut etablieren werden. 

Ein viel größeres Problem als die hohen Studienkosten ist die Bildung in der Primar- und Sekundarstufe. Denn die Regierung investiert viel zu wenig in die Schulen. Im OECD-Bildungsbericht von 2011 kann man nachlesen, dass Brasilien in die Primar- und Sekundarstufe rund 2000 US-Dollar pro SchülerIn investiert, damit gehört es zu den Schlusslichtern unter den untersuchten Ländern. Für die Hochschulbildung werden dagegen fast 12 000 US-Dollar pro StudentIn ausgegeben, in keinem anderen Land ist der Unterschied so extrem.1 Die Konsequenz ist, dass die Bildung an den öffentlichen Schulen miserabel ist, was in einem krassen Kontrast zur relativ hohen Qualität an den öffentlichen Hochschulen steht. Um gute Grundlagen für ein Studium zu erwerben, muss man also auf eine Privatschule gehen. Das können sich viele Familien nicht leisten, so dass der Anteil Menschen mit einem Abschluss in der Sekundarstufe II unter 45 Prozent liegt. 

Insgesamt muss ich sagen, dass wir als DAAD natürlich sehr die Reformen im Hochschulwesen begrüßen. Die Regierung hat gerade ein neues Stipendienprogramm zur Internationalisierung der Hochschulen ins Leben gerufen, auch das ist ein wichtiger Schritt und entspricht der Philosophie des DAAD. Aber für die breiten Bevölkerungsschichten wäre es auch wichtig, mehr in die anderen Bildungssektoren zu investieren. 

Wie haben sich die Reformen denn bisher auf das Hochschulsystem ausgewirkt?

Auf jeden Fall positiv. Die Anzahl der Studierenden stieg zwischen 2002 und 2009 von vier auf sechs Millionen. Brasilien ist damit auf einem guten Weg, auch wenn es noch weit unter dem OECD-Durchschnitt von 30 Prozent liegt.

Wie ist die Qualität der Hochschulen? 

Die Qualitätsunterschiede zwischen den mehrheitlich privaten und den öffentlichen Hochschulen hatte ich ja schon angesprochen. Aber die Qualität der Spitzenhochschulen ist auf jeden Fall mit denen in Deutschland vergleichbar. Die Forschung ist besonders stark im Bereich der Biowissenschaften, hier hat Brasilien eine Spitzenposition. Die beste Uni ist nach wie vor die Universidade de São Paulo, die über ein Jahresbudget von mehr als einer Milliarde US-Dollar verfügt.

Und welche Fächer sind besonders beliebt unter den Studierenden? 

Das sind zum einen die Biowissenschaften, aber auch andere typische Fächer wie Ingenieur-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Es gibt aber auch einen leichten Trend in Richtung exotischer Fächer. In Brasilien kann man beispielsweise Gastronomie oder Hotelwirtschaft studieren und auch in diesem Bereich steigen die Studierendenzahlen. Auch Fächer wie Journalismus oder Tourismus erfreuen sich steigender Beliebtheit. Geisteswissenschaftliche Fächer sind dagegen weniger stark nachgefragt als in Deutschland. 

Können Sie uns etwas zum studentischen Leben erzählen? Wo spielt es sich ab und wo leben die Studierenden?

Die Unis in Brasilien haben in der Regel einen Campus, das ist vergleichtbar mit den USA. Dort gibt es alles, was man zum Leben braucht, inklusive Sportanlagen und Räumen, in denen kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Daher spielt sich auf dem Campus auch ein Großteil des studentischen Lebens ab.

In der Regel leben die Studierenden in Brasilien bei ihren Eltern, vor allem, wenn sie in der Stadt wohnen und die Universitäten in der Nähe des Elternhauses liegen. Das ist einfach eine finanzielle Frage. Das hängt natürlich auch davon ab, wie weit die Eltern von der Uni entfernt wohnen. Wer eine der ländlicher gelegenen Universitäten besucht, muss häufiger aufgrund der Entfernung von den Eltern ausziehen.

Arbeiten die Studierenden nebenher und wenn ja, in welchen Jobs?

Die meisten der Studierenden haben Nebenjobs. Aber anders als in Deutschland üben sie selten geringqualifizierte Tätigkeiten aus. Sie arbeiten also nicht als Kellner, Taxifahrer oder Fabrikarbeiter. Das wäre auch nicht gut angesehen, da diese Jobs dringend von anderen Menschen benötigt werden. Die Studierenden hier arbeiten fast immer bereits in ihrem Fachbereich. Und weil sie meist tagsüber arbeiten, gibt es auch viele Kurse im Abendstudium von 19.00 bis 23.00 Uhr. Das ist ein Problem und natürlich ein Nachteil für die Studierenden, da man um diese Uhrzeit und nach dem Arbeitstag einfach nicht mehr so aufnahmefähig ist. Mir ist das als Dozent auch schon selber aufgefallen. 

In Chile demonstrieren die Studierenden seit Monaten für einen kostenlosen Zugang zur Bildung. Wie sieht das in Brasilien aus, sind die Studierenden hier politisch engagiert?

Die Situation ist nicht mit Chile vergleichbar, eine derart große Bewegung gibt es hier im Moment nicht. Die Studierenden sind auch nicht so politisiert und radikal, wie sie es in den sechziger Jahren während der Militärdiktatur waren. Ich vermute, dass das an dem relativ hohen Wohlstand und der politischen Freiheit liegt, die sie mittlerweile haben, so dass der Leidensdruck nicht mehr so hoch ist. Es gibt in Brasilien übrigens auch keine studentische Selbstverwaltung oder Studentenparlamente wie in Deutschland. Ich würde aber trotz allem schon sagen, dass die Studierenden politisch wach und engagiert sind, nur vertreten sie eben eher gemäßigte Positionen. 

Wie sind die beruflichen Perpektiven, wenn man ein Studium in Brasilien abgeschlossen hat?

Die Perspektiven sind hervorragend. HochschulabsolventInnen haben laut dem OECD-Bildungsbericht von 2011 ein über 150 Prozent höheres Einkommen als Nichtgraduierte. Dieser Einkommensunterschied ist in Brasilien sogar höher als in allen anderen aufgeführten Ländern, inklusive den USA. Das ist gut für die Studierenden – weniger gut natürlich für alle, die nicht in einer so komfortablen Lage sind. 

Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Arbeit und die Rolle des DAAD in Brasilien.

Für mich ist es sehr angenehm und eine große Freude, in einem Land wie Brasilien zu arbeiten, in dem gerade so viel in Bewegung ist. Brasilien ist ein Schwellenland mit momentan boomender Wirtschaft; die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 werden nochmals neue Impulse geben. Dadurch eröffnen sich für unsere Arbeit viele Perspektiven. 

Wir haben viel mehr Möglichkeiten, neue Projekte zu initiieren, als das in Ländern mit weniger starker Wirtschaftskraft möglich wäre. Das beste Beispiel dafür sind die zwei Kooperationsverträge, die der DAAD mit der brasilianischen Regierung am 19. September geschlossen hat. Die brasilianische Regierung plant, bis zum Jahr 2014 bis zu 10 000 Stipendien für ein Studienjahr in Deutschland zu vergeben. Deutschland ist damit eines der Schwerpunktländer des Plans, nach dem insgesamt 1,4 Milliarden Euro investiert und 75 000 Stipendien vergeben werden.

Das Telefoninterview führte Anne Knab im September 2011.