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Alles ist möglich und nichts ist sicher

Die zwei Welten der StraßenkünstlerInnen von La Paz

Täglich stehen sie auf der Straße, um sich ihre Mahlzeiten zu verdienen. Die StraßenkünstlerInnen von La Paz sind oft noch sehr junge Menschen, die versuchen, mit ihrer Kunst die Aufmerksamkeit der ausländischen TouristInnen zu wecken. Sie jonglieren auf Straßenkreuzungen oder zaubern den vorbeifahrenden Autofahrern mit ihren akrobatischen Kunststücken ein Lächeln ins Gesicht. „Sie wollen, dass die Menschen Spaß haben, sich inspiriert fühlen und mit einem Grinsen weiterziehen.“ Den StraßenkünstlerInnen geht es nicht nur um Geld, sondern auch um ein „selbstbestimmtes Leben und um einen eigenen Rhythmus.“ Zu einem solchen Leben zählt aber auch, dass einige von ihnen noch nie das Innere einer Schule gesehen haben.

Valentin Senft

Sonntag! Auf jeden Fall Sonntag, da sind die Familien unterwegs und alle Leute ein bisschen lässiger drauf. Oh Moment, rot!“ Neri greift sich seine Jonglierkeulen und betritt seine Bühne. Wir befinden uns an einer Ecke der Plaza Avaroa in der Innenstadt von La Paz, dem Regierungssitz von Bolivien. Neri, 24 Jahre alt, aus Argentinien und seit ca. drei Jahren unterwegs, steht mittlerweile vor mehr als zehn wartenden Autos mitten auf der Kreuzung. In seinen Schuhen aus alten Autoreifen behält er trotz Lärm und blendender Sonne die Kontrolle über vier Jonglierkeulen, die heftig rotierend über seinem Kopf ihre Bahnen ziehen. Hinter ihm überqueren massenhaft Autos die Kreuzung. In immer neuen Mustern und Höhen bieten die Keulen ein beeindruckendes Schauspiel. Dann wird es grün. Neri hat sich in der Zeit verschätzt und jetzt fahren rechts und links hupende Autos an ihm vorbei. Manche Fenster sind jedoch heruntergekurbelt und die eine oder andere Hand wird in seine Richtung gestreckt. Als er zurück auf die Wiese kommt, präsentiert er stolz einen 20-Boliviano-Schein (ca. 2 Euro).

Mittlerweile sind sie nicht mehr aus dem Stadtbild von La Paz wegzudenken: ArtistInnen, MusikerInnen und JongleurInnen an den meisten der Ampeln und Plätze der Innenstadt. Die Bedingungen in La Paz sind perfekt: eine Stadt voller TouristInnen, die aber dennoch eine der kostengünstigsten in ganz Südamerika ist. Eine gute Backpackerherberge findet man ab 20 Bolivianos die Nacht, eine der bekanntesten unter ihnen: Alojamiento Paris, mit Gemeinschaftsküche (für StraßenkünstlerInnen ein Muss). 

Früher saß Neri oft den ganzen Tag am Straßenrand und hat selbstgefertigten Schmuck, wie Armbänder oder Anhänger, an TouristInnen verkauft. Auf Dauer war ihm das jedoch zu langweilig. Jonglieren sei gut für den Körper und den Kopf, man würde jeden Tag besser und mittlerweile mache er sogar mehr Geld damit als vorher am Straßenrand. In Chile hat er sich vor einem Jahr ein Hochrad besorgt und seit ein paar Monaten überblickt er mehr Autos denn je, wenn er seine Keulen in die Lüfte entlässt. „Klar, man befindet sich an einer Ampel, die vielleicht 30 Sekunden auf rot steht, und viele Autofahrer sind genervt. Dennoch: Das Wichtigste ist, mit seinem Publikum zu sprechen. Nach einer freundlichen Begrüßung folgt jede Menge verbale und nonverbale Kommunikation und am Schluss wird sich selbstredend tief verbeugt“, erzählt Neri. So könne man an Wochentagen gut zwischen 30 und 50 Bolivianos (zwischen 3 und 5 Euro) die Stunde machen und am Wochenende sogar das Doppelte.

Eins fällt dabei auf: Unter den Straßenkünstlern von La Paz findet sich so gut wie kein einziger Bolivianer. Bolivien gehört zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas und die Stadt El Alto, die in La Paz übergeht, ist eine der ärmsten Städte des Kontinents. Zeit und Raum, um künstlerisches Handwerk zu erlernen, sind hier schlicht knapp.

In dieser Realität schlägt einer der wenigen Bolivianer seine Räder. Alexander ist eines von vielen Kindern, die in La Paz versuchen, auf den Straßen ihr Auskommen zu verdienen. Seine beiden Brüder putzen Schuhe, seine Schwester verkauft Kaugummis auf der Straße. Sie wohnen zusammen bei ihrer 58-jährigen Großmutter in El Alto, da sich ihre Eltern aus dem Staub gemacht haben. Von klein auf hat Alexander, der heute neun Jahre alt ist, immer schon gerne den Straßenkünstlern zugesehen. 

Wenn er selbst auf die Kreuzung tritt, pfeift er einmal laut und lang und fängt dann an, ein Rad nach dem anderen zu schlagen, steht am Schluss auf seinen Händen, kurz nur auf einer, dann läuft er zwischen den Autos her und verdient neben Bolivianos auch dann und wann ein nettes Lächeln. Stolz erzählt er, dass er meist sogar mehr mit nach Hause bringt als seine Brüder. Heute, es ist Sonntag, hat er nach einer Stunde 28 Bolivianos (ca 2,80 Euro) im Rucksack; er lächelt zufrieden.

Auch Tuérk (25) ist kein Bolivianer. Er kommt aus Guatemala und ist seit 2008 auf Achse. Er nennt sich selbst El loco de Guatemala („der Verrückte aus Guatemala“). Seit er in La Paz ist, sind sie zu dritt – er selbst und die beiden Franzosen Emilio (22) und Matu (19), die seit knapp zehn Monaten Südamerika bereisen. Die drei haben sich auf der Straße kennengelernt und beschlossen, „zusammen die Plätze von La Paz zu bespielen“. Dass sie Geld und Essen durch drei teilen, ist selbstverständlich. Dazu sagt Emilio nur: „Wir essen von einem Teller.“ Bei ihrer Show geht es ihnen natürlich auch darum, davon leben zu können, aber eben auch um die Möglichkeit, den Leuten eine der schönen Seiten des Lebens nahezubringen. Sie wollen, dass die Menschen Spaß haben, sich inspiriert fühlen und mit einem Grinsen weiterziehen. Macht es den Leuten Spaß, macht es den dreien Spaß und sie fühlen sich lebendig. 

El loco de Guatemala wirft auf einem Platz am Prado (Einkaufsstraße in La Paz) zwei Diabolos mit seiner Schnur und seinen beiden Holzstäben meterweit in die Luft, macht einen Salto rückwärts und fängt dann beide mit spielerischer Leichtigkeit ganz gelassen wieder auf. Kurz darauf wird Clownerie und Akrobatik aus Frankreich präsentiert, bei der mit viel Witz „der Europäer“ hochgenommen wird. Es folgt der Applaus einer mittlerweile hundertköpfigen Menschenmenge, der Hut geht rum und nach etwa 20 Minuten ist das Abendessen für alle drei gesichert.

„Es ist schon komisch“, so Matu, „Europäer reisen entweder mit einer Menge Geld oder gar nicht; uns hier ist das gleich. Wenn wir normalerweise ans Reisen denken, denken wir an das Geld, das es kosten könnte, und wie viel wir vorher dafür arbeiten müssen. Wir verreisen also mit Geld oder eben nicht. Mit den Leuten, die wir hier treffen, ist das was anderes. Sie verreisen einfach und verdienen das Geld, das sie brauchen, mit dem, was sie gerne machen, einfach beim Reisen selbst.“ Für alle Fälle haben die beiden natürlich immer ein bisschen Geld in den Taschen und wenn alles schief geht, fragen sie einfach bei einem Restaurant nach, ob es noch Reste gibt oder ob man wenigstens jede Menge Kleingeld gegen Essen tauschen könnte. „Und trifft man einen netten Koch, isst man besser als alle Gäste!“ Scherzhaft erklären die drei, dass sie in La Paz – in immerhin fast 4000 Meter Höhe – ihr Höhentraining für Artisten absolvieren, da sie überlegen, später in Peru und Frankreich auf Artistenschulen zu gehen.

Als bei einer ihrer Shows neben ihnen auf der Straße zwei Autos ineinanderkrachen, brechen sie ab und packen schnell ihre Sachen. Für solche Zwischenfälle im Verkehr wollen sie keinen Ärger bekommen. Als ich nachfrage, erzählt mir Tuérk eine Geschichte: Er sei schon das zweite Mal in La Paz. Das erste Mal war vor einem Jahr und hatte unschön geendet. Ohne teure Lizenz sei es nämlich eigentlich für Ausländer verboten, in Bolivien zu arbeiten. Die normale Polizei störe sich nicht sonderlich daran, aber die Migrationspolizei schon. Sie würde nur La Migración genannt, und wenn sich jemand bei ihnen beschwert, dann kommen sie. Als Tuérk sie vor einem Jahr kennenlernen durfte, haben sie ihn mit seinen Sachen zum Hostal gefahren, seinen Pass als in Bolivien ungültig gestempelt und ihn mit all seinen Sachen an die peruanische Grenze gefahren; alles an einem Tag. Er hatte ein Jahr Einreiseverbot, aber noch Glück, weil er nicht zahlen musste. Hätte man ihn vor Ablauf des einen Jahres wiedergesehen, wäre er ins bolivianische Gefängnis gekommen. Seit dieser Geschichte hat Tuérk ein Motto: „Bolivia, todo posible, nada seguro!“ („Bolivien: Alles ist möglich, nichts ist sicher!“)

Eine Ecke weiter sitzt Laura mit ihrer Gitarre. Das Lebensgefühl als Straßenkünstlerin bringt sie wie folgt auf den Punkt: „Es geht bei dem Ganzen ja nicht um das Geld oder darum, etwas zu sparen; es geht um ein selbstbestimmtes Leben, um deinen eigenen persönlichen Rhythmus, du entscheidest wohin und wann. Man lernt immer jemanden kennen, kocht, singt, jongliert und tanzt zusammen in einer Küche eines Hostels. Die Begegnungen zählen, die wundervollen Orte und die fantastische Natur. Wir sind Reisende, die das Leben studieren, man lässt sich inspirieren für das, was noch im Leben folgt.“ 

Laura ist 26 Jahre alt und hat gerade ihren Abschluss an einer Musikschule ihrer Heimatstadt in Argentinien gemacht. Jetzt ist sie seit fast acht Monaten mit ihrer Gitarre auf Reisen. Die Menschen, die sie traf, und ihre Reise inspirierten sie zu einem Lied über das Reisen und Leben durch die Kunst. Ihr Lied endet mit dem Satz: „Y siempre atento a lo simple de la vida“ („Und stets aufmerksam für das Einfache im Leben“).Ungefähr einen Monat lang war ich mit den KünstlerInnen auf der Straße und jeden Tag wurden mir die zwei Welten der Straßenkunst bewusster. An der einen Ampel stehen die ausländischen Reisenden, die es sich ausgesucht haben, um mit etwas, das ihnen Spaß macht, auf der Straße die Menschen zu erfreuen und sich so ihr Geld zum Reisen und Leben zu verdienen. Manche von ihnen wollen auf die Artistenschule, manche nur die Welt sehen und eine Pause einlegen. An der anderen Ampel steht ein kleiner neunjähriger Junge. Er hat einen zerfledderten Rucksack dabei und alte, verbrauchte Klamotten an. Sein Geld fließt in die Familienkasse und noch keine Schule in La Paz hat ihn je gesehen.