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Neuanfang mit Tèt Kale?

Der Kompa-Musiker Michel Micky wird künftig Haiti regieren

Die „internationale Gemeinschaft“ hat ihn schnell zu ihrem Liebling erkoren: Michel Martelly, Kompa-Musiker mit rechten Verbindungen und neuer Präsident Haitis. Als er nach der Bekanntgabe der Ergebnisse des ersten Wahlgangs nur auf Platz drei landete und damit den Einzug in die Stichwahl verpasst hätte, gab es eine internationale Medienkampagne über einen „Wahlbetrug“, worauf die Ergebnisse korrigiert und Martelly knapp auf den zweiten Plaz gehievt wurde, was ihm den Einzug in die Stichwahl bescherte, wo ihm der Sieg gegen die rechtskonservative Mirlande Manigat relativ sicher war. Weil das mit der Wahlbetrugskampagne schon einmal geklappt hat, zweifelt Martelly nun das Ergebnis der Parlamentswahlen an, die parallel zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 20. März stattfanden. Dabei lag nämlich die Mitte-Links-Partei Inité (Einheit) vorne, die Martelly nun in Kongress und Senat ausbremsen könnte. Und brav wiederholen die internationalen Medien die Geschichte von Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen, während Martellys Sieg bei den Präsidentschaftswahlen natürlich korrekt war.

Hans-Ulrich Dillmann

Nur wenige Tage nachdem das offizielle Ergebnis der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Conseil Électoral Provisoire (CEP) veröffentlicht wurde, zweifelt der neugewählte Staatschef Michel Martelly nun die Rechtmäßigkeit des Urnengangs an: bei den Parlamentswahlen sei es zu Fälschungen gekommen. Sweet Micky, wie der bekannte Kompa-Sänger genannt wird, forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Rechtmäßigkeit der „Wahlen der Legislative abzuerkennen“.

„Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl gibt den Wählerwillen wieder. Aber für die Deputiertenkammer und den Senat scheinen die Stimmen der Wähler nicht respektiert worden zu sein“, sagte Martelly nach der Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse vom 20. März durch den Provisorischen Wahlrat. An der Richtigkeit des Auszählergebnisses für das Präsidentenamt, bei der der 50-Jährige sich mit 67,57 Prozent gegen seine Konkurrentin Mirlande Manigat (31,74 Prozent) in der Stichwahl durchsetzte, äußerte er keine Zweifel.

Inzwischen dämmert dem Kompa-Musiker wohl, dass er zwar in das provisorische Präsidentenpalais einziehen kann, aber weder in der Deputiertenkammer noch im Senat über einen parlamentarischen Rückhalt verfügt. Einen Pyrrhussieg könnte Martelly, den seine Anhänger in Kreyol auch Tèt Kale, Glatzkopf, rufen, errungen haben, den er nun mithilfe der USA und der Vereinten Nationen zu seinen Gunsten revidieren will. Seine Partei, die Partei Repons Peyizan (Partei der Bürgerreaktion), ist mehr ein Präsidentenwahlverein. Ins Parlament zog nur eine Handvoll ein, die vor allem in seiner Hochburg, dem bürgerlichen Petión Ville und in Port-au-Prince, punkten konnte.

Die Mehrheit in beiden Parlamentskammern hat sich die Partei des derzeit noch regierenden Staatspräsidenten René Préval, Inité (Einheit), gesichert. In der Deputiertenkammer stellt sie 46 der 99 Abgeordneten, im Senat verfügt sie mit 17 Mandatsträgern sogar über die absolute Mehrheit. Damit kann sie Gesetze des neuen haitianischen Staatsoberhauptes blockieren oder zu Fall bringen.

Dass es bei den Wahlen, zu denen rund 4,7 Millionen der rund zehn Millionen Haitianerinnen und Haitianer aufgerufen waren und zu denen nur etwas mehr als eine Million überhaupt gingen, zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, wurde schon im ersten Wahlgang im November deutlich. Nachdem die internationale Gemeinschaft jedoch den haitianischen Wahlrat mit „freundlichem Druck“ gezwungen hatte, den zweitplatzierten Kandidaten der Einheitspartei, Jude Celestine, zu disqualifizieren, waren die Fälschungsvorwürfe besonders von Martelly verstummt.

Und nach der Stichwahl im März war von Reklamationen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit und Korrektheit des Urnengangs nichts zu hören. Um so verwunderlicher sind jetzt die Reklamationen, mit denen Sweet Micky das Ergebnis der Parlamentswahlen zu revidieren versucht. Offensichtlich ist, dass der derzeitige Amtsinhaber Préval seinem Nachfolger ein Kuckucksei in den parlamentarischen Ablauf gelegt hat. Martelly und sein Ministerpräsident werden kaum gegen das Parlament regieren können – wenn sie es denn mit ihren vollmundigen Demokratieversprechungen ernst meinen.

Der „Glatzkopf“ tritt zugegebenerweise ein schweres Amt an. Auch fast eineinhalb Jahren nach dem schweren Erdbeben, bei dem wohl rund 300 000 Haitianerinnen und Haitianer umgekommen sind, lebt noch fast eine Million der Erdbebenopfer in provisorischen Zeltlagern. Eine Choleraepidemie hat über 5000 Menschenleben gefordert. Die Hauptstadt des Landes liegt nach wie vor in Schutt. Ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung lebt am Rande der Armutsgrenze, zwei Drittel der Bevölkerung muss sich sogar mit weniger als einem Euro pro Tag durchs Leben schlagen. Gäbe es die etwa zwei Milliarden US-Dollar Überweisungen von Verwandten im Ausland nicht, würden die Menschen verhungern.

Dass mit dem populären Sänger Sweet Micky Michel Martelly eine neue Ära in Haiti begonnen haben könnte, bezweifeln nicht nur die Skeptiker. Die vollmundigen Demokratieversprechungen muss der Kompa-Sänger erst noch einlösen. Zwar trägt Sweet Micky inzwischen feinen Zwirn und Krawatte, ansonsten hat er sich in der Vergangenheit als antibürgerlicher Rechter gebärdet, der zwar bizarre Kostüme liebt und seine Zuhörer mit bösem Spott auf die haitianische Politik begeisterte, aber vor allem enge Kontakte zu rechten Organisationen pflegt.

Er soll zeitweise sogar den Tonton Macoute, der berüchtigten Mördergruppe von Diktator Jean-Claude Duvalier, angehört haben, berichtet die uruguayische Tageszeitung La Diaria unter Berufung auf einen Haitianer, der während der Duvalier-Diktatur in Argentinien exiliert war.

Bekannt ist, dass „Tèt Kale“ in den frühen 90er-Jahren enge Freundschaft zu führenden Mitgliedern der Front für die Weiterentwicklung und Fortschritt in Haiti (FRAPH) pflegte. Die rechtsgerichtete Organisation hat in der Nach-Duvalier-Ära zahlreiche linksgerichtete Oppositionelle ermordet. Und Pazifist ist er sicher nicht. Als am Wahltag im November der Vater von vier Kindern Manipulationen bei der Abstimmung beklagte, randalierten bereits kurze Zeit später seine Anhänger auf den Straßen und verwüsteten Wahllokale. Immer wieder drohte er, Forderung durch den „Druck der Straße“ umsetzen zu lassen.

Zwar kann sich Martelly mit den noch nicht mal 800 000 Stimmzetteln auf nicht einmal ein Zehntel der haitianischen Bevölkerung berufen. Ohne Zweifel ist der Karnevalssänger der Liebling der internationalen Gemeinschaft, die ihn hofiert und mit der Freigabe von Milliarden US-Dollar Aufbauhilfe winkt. Beliebt ist der Chef der Repons Peyizan aber auch in Haiti: Die 15- bis 25-jährigen Jugendlichen, die keinen Bock mehr auf greise Politiker haben, die sich nur um die Mehrung ihres Reichtums kümmern, lieben seine frechen Texte und antibürgerlichen Attitüden. Dass sich der „Glatzkopf“ „zu seinem Schutz“ mit muskelbetonten Gefolgsleuten umgibt und seine Anhänger zu militanten Demos während des Wahlkampfes auf die Straße geschickt hat, lässt allerdings nichts Gutes erahnen in einem Land, in dem die Tonton Macoutes von Duvalier die Bevölkerung terrorisierten und selbst der Ex-Armenpriesters Jean-Bertrand Aristide während seiner Präsidentschaft seine militanten Schimären gegen Kritiker hetzte.