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Die Schlacht um Chile

Patricio Guzmáns monumentales Filmepos in der „Bibliothek des Widerstands“ des LAIKA-Verlags
Gert Eisenbürger

Im Oktober 2010 startete der neu gegründete LAIKA-Verlag seine „Bibliothek des Widerstands“. Darin sind bisher elf kombinierte Buch-DVD-Editionen erschienen. Die Filme sind ältere Dokumentationen, die fürs Kino oder Fernsehen entstanden sind, die Bücher sind Neuveröffentlichungen. Das Themenspektrum ist breit, es finden sich Titel zur westdeutschen und US-amerikanischen Studentenbewegung, zu Angela Davis, zur Stadtguerilla in den USA, zur Jugendrebellion in Griechenland oder zu attac.

Vier Bücher/Filme beschäftigen sich mit Lateinamerika, konkret den Militärdiktaturen in Argentinien und Chile (vgl. auch Seite 56 in dieser ila). Das filmische highlight ist dabei Patricio Guzmáns viereinhalbstündiges Dokumentarfilmepos „Die Schlacht um Chile“, das jüngst auf zwei DVDs mit einem dreihundertseitigen Begleitbuch erschienen ist – in diesem Fall ist der Terminus „Begleitbuch“ angemessen, bei anderen Titeln der „Bibliothek des Widerstands“ sind die Bücher durchaus eigenständige Publikationen.

Der 1941 geborene Patricio Guzmán begann nach dem Amtsantritt der Regierung der Unidad Popular (UP) im Oktober 1970, deren Politik filmisch zu dokumentieren. 1971 stellte er „El primer año“ (Das erste Jahr) als ersten Film dieses Projekts vor. Ende 1972 folgte „La respuesta del octubre“ (Die Antwort im Oktober) über den Widerstand der organisierten ArbeiterInnen gegen den Unternehmerstreik, mit dem die Regierung Allende zu Fall gebracht werden sollte. Die Belegschaften besetzten die Betriebe und hielten die Produktion aufrecht, der Boykott der Bosse endete mit einer Niederlage. Doch ihre aggressive Destabilisierungspolitik gegen die Regierung Allende ging weiter, bis im September 1973 die Lage reif war für den Putsch. Dies alles haben Guzmán und sein Team mit der Kamera dokumentiert, sie filmten die Veranstaltungen der Rechten und der Linken, drehten im Kongress, interviewten Leute auf der Straße, vor allem aber die organisierten AnhängerInnen der Unidad Popular in den Fabriken und den Armenvierteln.
Natürlich waren sie auch bei Massendemonstrationen und Protestaktionen dabei. Nach dem Putsch wurde Patricio Guzmán festgenommen. Da er neben der chilenischen die spanische Staatsangehörigkeit besaß, wurde er, wie viele andere „Ausländer“, nach einigen Wochen entlassen, musste aber aus Chile ausreisen. Sein filmisches Material konnte er mitnehmen. Daraus erstellte das Team zwischen 1974 und 1978 in Cuba und Frankreich die dreiteilige Filmdokumentation „Die Schlacht um Chile“.

Der erste Teil „Aufstand der Bourgeoisie“ beschreibt die Mobilisierung der rechten Parteien und Unternehmerverbände gegen die UP-Regierung. Bis zu den Parlamentswahlen am 4. März 1973 setzte sie auf eine politische Strategie zum Sturz Allendes. Weil dieser 1970 mit nur 36,3 Prozent der Stimmen stärkster Kandidat geworden war, hofften die rechte Nationalpartei und die ins rechte Lager übergelaufene Christdemokratische Partei (PDC), die Allende 1970 noch im Kongress unterstützt hatte, bei den März-Wahlen in Zeiten der Krise eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Damit hätten sie den Präsidenten im Kongress abwählen können. Doch entgegen den Erwartungen der Opposition verlor die UP keine Stimmen, sondern gewann fast acht Prozent hinzu und erreichte knapp 44 Prozent. Da damit eine legale Möglichkeit, Allende aus dem Amt zu drängen, für die nächsten drei Jahre ausgeschlossen war, setzte die Rechte nun auf seinen gewaltsamen Sturz.

In „Aufstand der Bourgeoisie“ kommen in den Interviews, stärker als in den beiden anderen Teilen, auch AktivistInnen der Rechten zu Wort. Ihre Aussagen und die Reden ihrer FührerInnen auf Versammlungen und Kundgebungen belegen das vollständig instrumentelle Verhältnis dieser Leute zur Demokratie. Sobald sie ihre Interessen bedroht sahen, wurden ihnen demokratische Spielregeln egal. Die verschiedenen Filmsequenzen machen deutlich, wie stark sich Nationalpartei und Christdemokraten 1973 radikalisierten und in den Monaten vor dem 11. September 1973 nur noch auf die politische Vorbereitung eines Militärputschs setzten, während Allende verzweifelt versuchte, eben den zu verhindern und die Christdemokraten durch politische Zugeständnisse von ihrer putschistischen Linie abzubringen.

Der zweite Teil, „Der Staatsstreich“, beginnt dort, wo der erste endet, nämlich mit dem ersten – noch von loyalen Militärs zurückgeschlagenen – Putschversuch am 29. Juni. Er rekapituliert die zehn Wochen zwischen dem 29. Juni und dem 11. September, als das Militär erfolgreich putschte. Durch die Zuspitzung ihrer wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen suchten die Unternehmerverbände die wirtschaftliche Krise zu vertiefen, während die von US-Agenten finanzierte und ausgebildete rechtsextreme Terrororganisation Patria y Libertad UP-AnhängerInnen angriff und Sabotageaktionen durchführte. Im Militär wurde der Putsch systematisch vorbereitet. Die verfassungstreuen Militärs wurden isoliert oder wie im Falle des Admirals Arturo Araya Peters ermordet. Um die einfachen Soldaten auf den Einsatz gegen linke ZivilistInnen vorzubereiten, besetzten Militäreinheiten im Juli und August 1973 fast täglich kämpferische Betriebe, angeblich um sie nach Waffen zu durchsuchen.

Ein einziger Querschuss aus dem bürgerlichen Lager kam im Juli von der katholischen Kirche. Auf Initiative des aufgeklärten Erzbischofs von Santiago, Silva Henríquez (der nach dem Putsch eine wichtige Rolle als Verteidiger der Menschenrechte spielen sollte), rief die Kirche am 20. Juli zu Gottesdiensten für den Frieden auf und forderte ein Ende der politischen Polarisierung. Dies brachte die Christdemokratische Partei kurzfristig unter Druck. Denn die PDC war in gewisser Weise der politische Arm der Katholischen Kirche und konnte es sich daher nicht leisten, deren Appell einfach zu ignorieren. Andererseits aber wollte die PDC-Führung um Frei und Aylwin den Putsch. Um der Aufforderung der Kirche Genüge zu tun, trafen sie sich mit Allende zum „Dialog“. Für ein Übereinkommen stellten sie ihm allerdings Forderungen, die auf die Rücknahme fast aller seit 1970 von der UP-Regierung ergriffenen Maßnahmen hinausliefen.

Natürlich konnte Allende dies nicht akzeptieren, woraufhin die PDC das Ende des „Dialogs“ verkünden und den Putsch mit vorbereiten konnte. Was der Film nicht zeigt, ist, dass sich die chilenischen Christdemokraten, eine von ihrem Charakter eher reformistische Partei sozialdemokratischen Zuschnitts, bezüglich ihrer politischen Möglichkeiten für die Zeit nach dem Putsch völlig verkalkuliert hatten. Sie hatten gehofft, nach Allendes Sturz und einem kurzen militärischen Zwischenspiel als Kraft der „Mitte“ die Macht übernehmen zu können. Stattdessen fanden sie sich nach dem 11. September 1973 in der Illegalität wieder und etliche Mitglieder ihres linken Flügels sogar in den Kerkern der Diktatur. Die Christdemokraten waren für die Rechte nichts Anderes als nützliche Idioten im Kampf gegen Allende gewesen.

Während die Rechte und das Militär den Putsch vorbereiteten, versuchte die Linke ihre AnhängerInnen zur Verteidigung des Veränderungsprozesses zu mobilisieren. Am 4. September 1973 demonstrierte fast eine Million Menschen für die Regierung. Allende, Allende – El Pueblo te defiende (Allende, Allende – das Volk verteidigt dich) intonierte ein riesiger Chor von Hunderttausenden. Ich fand diese Bilder der entschlossenen Menschen – die meisten aus den Arbeiter- und Armenvierteln – und von der Rede Salvador Allendes extrem berührend. Wenige Tage später war Allende tot und viele DemonstrantInnen in den Folterkammern und Konzentrationslagern der Diktatur. Der Film endet am 11. September 1973!

Während der erste und zweite Teil der Trilogie „Die Schlacht um Chile“ eine Einheit sind, ist der dritte Teil „Die Macht des Volkes“ (span. Poder Popular, also Volksmacht) ein eigenständiger Film. Darin geht es um die Selbstorganisation der ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Armenviertel nach dem Oktober 1972. Wie oben dargestellt, hatten viele Belegschaften während des Unternehmerstreiks im Oktober 1972 die Betriebe übernommen. Dieses selbstbestimmte Arbeiten setzen sie auch nach dem Ende des Ausstandes fort. Um die erforderlichen Vorprodukte und Ersatzteile zu bekommen, schlossen sie sich mit den KollegInnen der Fabriken zusammen, die eben diese Teile herstellten. So entstanden die Cordones Industriales, Netze selbst verwalteter Betriebe. Weil die Geschäfte und Händler ihre Waren zurückhielten oder nur zu erhöhten Preisen über den Schwarzmarkt verkauften, organisierten die Leute in den Armenvierteln ein System von „Direktversorgung“, Verteilungsstellen unter der Kontrolle gewählter Stadtteilkomitees. Während in den Betrieben vor allem Männer aktiv waren, engagierten sich in den Comandos Comunales in den Vierteln viele Frauen. 

Der Film „Die Macht des Volkes“ zeigt fast ausschließlich Interviews mit AktivistInnen aus den Parteien der UP bzw. Aufnahmen von Diskussionen in Betrieben und Kooperativen. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, was sich die Kollegen zutrauten. Jenseits der Aktivitäten einer linken Regierung hatten in Chile 1972/73 die ArbeiterInnen und Menschen in den Armenvierteln begonnen, ihre Geschichte selbst in die Hand zu nehmen (vgl. dazu auch den Beitrag „Sie mussten alles selber machen“ in dieser ila). Trotz des ideologischen Geschwätzes von der „kommunistischen Gefahr“ lag in dieser entschlossenen Selbstorganisation die eigentliche Bedrohung der bürgerlichen Herrschaft.

Die Trilogie „Die Schlacht um Chile“ ist ein einzigartiges filmisches Dokument. Ich hatte vorher vermutet, dass ein Film, der in den Jahren nach 1973 fertiggestellt wurde, als Zeitdokument gesehen werden müsste und aus heutiger Sicht ideologischen Ballast enthalten würde. Weit gefehlt! Lediglich mit der häufig verwendeten Charakterisierung „faschistisch“ für die Strategie der Rechten hatte ich meine Probleme, weil es in Chile zwar eine rechte, teilweise terroristische Mobilisierung gegen die UP-Regierung gab, aber keine faschistische Massenbewegung existierte – weder vor und erst recht nicht nach dem Putsch.
Verstörend an dem Film ist jedoch, dass er erschreckend aktuell ist. Es braucht kaum Phantasie, um sich vorzustellen, dass die rechten Kräfte heute keinen Deut anders reagieren würden, sollten sie ihre Macht in Gefahr sehen. Und der Film verstört auch, weil er zeigt, was möglich ist, wenn Menschen kollektiv beginnen, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen.

Das begleitende Buch enthält neben dem kompletten Text des Films Aufsätze von Francisco Letelier, dem Sohn des 1976 in Washington ermodeten UP-Ministers Orlando Letelier, über die Rolle der USA (insbesondere Henry Kissingers) bei der Destabilisierung und dem Sturz der UP-Regierung, einen „Nachruf auf Salvador Allende“ von Tomás Moulián, der darin die These vertritt, Allende hätte, um politisch zu überleben, in die Rolle des starken Präsidenten schlüpfen und zugleich gegen die Sabotage der Rechten und die Selbstorganisation von unten vorgehen müssen, sowie einen Text von Régis Debray aus dem Jahr 1974 über die Frage Reform versus Revolution bzw. warum diese Frage unsinnig ist, weil gerade die reformistische Allende-Regierung revolutionäre Veränderungen eingeleitet habe, die sie dann freilich nicht verteidigen konnte, weil ihr eine revolutionäre Strategie fehlte.
Dem LAIKA-Verlag kommt das große Verdienst zu, „Die Schlacht um Chile“ neu veröffentlicht und der linken Debatte zugänglich gemacht zu haben! (vgl. auch Besprechung in ila 368)

Die Schlacht um Chile. Der Kampf eines Volkes ohne Waffen, LAIKA-Verlag, Hamburg 2011, 300 Seiten geb. und 2 DVDs mit den Filmen „Aufstand der Bourgeoisie“ (90 Minuten), Der Staatsstreich (90 Minuten), „Die Macht des Volkes“ (83 Minuten), 29,90 Euro