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Calderóns Rache am rebellischen Oaxaca

Neue Angriffe auf die sozialen Bewegungen

Während sich in Oaxaca nach den ersten Monaten mit einer nicht von der PRI gestellten Regierung erste Ernüchterung einstellt, intensiviert Mexikos Präsident Calderón die Angriffe auf die soziale Bewegung, insbesondere die Gewerkschaften. Oaxaca droht erneut die Unregierbarkeit.

Philipp Gerber

Die Flitterwochen der Bevölkerung mit dem neuen Gouverneur Gabino Cué waren rasch vorbei: Am 15. Februar 2011, nur zweieinhalb Monate nach Amtsantritt Cués, erwachte Oaxaca brutal aus dem süßen Traum von einem schnellen und grundsätzlichen Politikwechsel. Stattdessen Polizei, die mit Tränengas, Knüppeln und teils scharfer Munition gegen eine protestierende Menschenmenge vorgeht; DemonstrantInnen, die sich mit Steinwürfen wehren; beißende Tränengaswolken über dem historischen Zentrum der Stadt. Anlass war der Besuch von Mexikos rechtem Präsidenten Felipe Calderón. Spontan beschloss ein Grüppchen der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft, eine kleine, friedliche Protestkundgebung gegen den Präsidentenbesuch durchzuführen. Die kaum 100 LehrerInnen wurden jedoch nicht auf den Hauptplatz von Oaxaca-Stadt vorgelassen, die Bundespolizei griff die Protestierenden an und verletzte einen Sprecher der Lehrerinnen schwer. Die daraufhin folgende stundenlange Auseinandersetzung auf der Straße und deren politische Folgen offenbarten die Fragilität des regierenden Zweckbündnisses aus linken Parteien und der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN), das mit dem Wahlversprechen „Frieden und Fortschritt“ die PRI nach 80 Jahren ununterbrochener Herrschaft ablöste.

 Der 15. Februar mit seiner siebenstündigen Straßenschlacht erinnerte stark an das Jahr 2006, als ein brutaler Polizeiseinsatz gegen einen Lehrerstreik einen Volksaufstand gegen die Bundesstaatsregierung initiierte und Oaxaca für ein halbes Jahr unregierbar machte. Allerdings war dieses Mal die Gewalt von Seiten der Uniformierten, insbesondere der Bundespolizei, noch massiver als 2006: Drei Schussverletzungen wurden dokumentiert und „weniger tödliche“ Waffen regelwidrig angewandt – mit verheerenden Konsequenzen. Marcelino Coache, Aktivist der Gewerkschaft der Beamten der Hauptstadt und ehemaliger Sprecher des Protestbündnisses „Volksversammlung der Völker Oaxacas“ (APPO), erlitt einen komplizierten Schädelbruch und innere Blutungen. Auch ein Journalist musste mit einer Splitterverletzung durch eine aus nächster Nähe auf den Boden geschossene Tränengasgranate ins Krankenhaus gebracht werden. Rund 50 Verletzte, über ein Dutzend von ihnen schwer, waren das Ergebnis des Polizeieinsatzes. 

Die Auseinandersetzung vom 15. Februar erweist sich beim genaueren Hinsehen als Teil eines breiten Angriffs auf die sozialen Bewegungen, insbesondere auf die Gewerkschaften. Seit Jahresbeginn findet eine „Kampagne der medialen Verunglimpfung und des Terrors“ statt, wie die Sektion 22 Mitte März schreibt. Hier eine unvollständige Chronologie: Im Januar beschossen Unbekannte das zentrale Gewerkschaftsgebäude der Sektion, bald darauf wurde der Lehrer und Linkspolitiker Ángel Renato Jara Gallegos ermordet. In der Folge des unterdrückten Protests vom 15. Februar diffamierten die Medien die LehrerInnen in einer medialen Rufmordkampagne als Gewalttäter. Wahr ist, dass auch Gewerkschafter im Verlaufe der Auseinandersetzung zuschlugen und der Polizeipräsident Oaxacas bei einem Verhandlungsversuch verprügelt wurde. Doch Azael Santiago Chepi, Generalsekretär der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft, betonte, die Auseinandersetzung sei von „Gruppen von Provokateuren” gezielt angeheizt worden. Insbesondere die PRI spiele dabei wahrscheinlich eine Schlüsselrolle. Bald darauf kam ein weiterer Beweis hinzu: Als wenige Tage später die Präsidentengattin Margarita Zavala in einer indigenen Gemeinde Oaxacas zu Besuch war, protestierte ein mutiger ortsansässiger Lehrer allein, aber lautstark gegen den hohen Besuch. Kurz darauf stürzten sich zivil gekleidete Militärs vom Estado Mayor Presidencial auf ihn. Ein Befehlshaber dieser Präsdentenschutzgarde, auf Fotos klar als Schläger zu erkennen, taucht ebenfalls auf Bildern vom 15. Februar auf, wo er laut Zeugenaussagen die erste Konfrontation provoziert hat. 

Die Reihe der Angriffe gegen die LehrerInnen findet ihren vorläufigen traurigen Höhepunkt in der Entführung des Lehrers Carlos René Román Salazar. Seit dem Abend des 14. März fehlt von Salazar jede Spur. Als sein Auto gefunden wurde, befanden sich Computer und Beamer unberührt im Innenraum, was die vage „Hoffnung“, dass es sich um eine normale Entführung zwecks Lösegeldforderung handeln könnte, schwinden ließ. Salazar gehört einer libertär-magonistischen Strömung an und arbeitete als Gewerkschafter zuletzt an der alternativen Schulreform, die sich die Sektion 22 im Gegensatz zur neoliberalen „Qualitätssteigerungsallianz“ im restlichen Mexiko erkämpfen konnte. Die LehrerInnen sind zutiefst irritiert. Sie beschlossen am 20. März auf ihrer Delegiertenversammlung, Veranstaltungen der Regierung Cué zu boykottieren. Die Zeichen stehen auf Konfrontation.

Kräfte aus der PRI und Teile der PAN haben offensichtlich ein Interesse daran, die soziale Bewegung und die Regierung Cué gegeneinander aufzubringen und die Konfrontation zum Schaden beider auszuschlachten. Die PRI spielt ein eigenes Spiel, hat sie doch ein großes Interesse daran, dass die Links-Rechts-Koalition „Alle gegen die PRI“ für die Präsidentschaftswahlen von 2012 nicht Schule macht. Die Regierung Cué sowie der neue Kongress senden aber auch selber Signale aus, die vermuten lassen, dass es mit ihrem Versuch eines profunden Politikwechsels nicht weit her ist. Die bisherigen Bemühungen, die Staatsverbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten, waren halbherzig. So wurde eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Verfolgung der „Verbrechen mit großer sozialer Bedeutung“ ins Leben gerufen, womit insbesondere die Repression von 2006 und politische Morde aufgearbeitet werden sollen. 
Guadalupe Lucas López Figueroa Robledo, ein altgedienter Richter, der für den Posten des Sonderstaatsanwaltes vorgesehen war, repräsentiert jedoch das autoritäre Regime der PRI: So zeichnete er 2003 verantwortlich für die politisch begründete Haft des oppositionellen Medienunternehmers López Lena (wegen Verleumdung) und verweigerte diesem zudem widerrechtlich die Freilassung auf Kaution.

Dank dem entschiedenen Widerstand der Menschenrechtsorganisationen und der Sektion 22 musste die Regierung Cué dessen Ernennung rückgängig machen. Zusätzlich zur Sonderstaatsanwaltschaft fordern die Repressionsopfer und die sie begleitenden Organisationen wie Código DH eine Wahrheitskommission nach dem Vorbild anderer Postkonflikgesellschaften. Denn „um eine historische Wahrheit zu erlangen und Schritte in Richtung einer Versöhnung zu gehen, braucht es mehr als eine Staatsanwaltschaft, wie die ‚Sonderstaatsanwaltschaft für die sozialen und politischen Bewegungen der Vergangenheit' (Femospp) zeigte, die auf Bundesebene in ihrem Versuch scheiterte, Gerechtigkeit für das Massaker von Tlatelolco von 1968 zu erreichen“, schreibt Código DH in einer Stellungnahme. Weiter heißt es: „Die Suche nach der historischen Wahrheit kann scheitern, wenn nur ein juristischer Prozess verfolgt wird, da diese Suche ein viel breiterer Prozess ist, an dem sich verschiedene Sektoren der Gesellschaft beteiligen.“ Ein Beispiel für die Suche nach der historischen Wahrheit über die juristischen Möglichkeiten hinaus ist der Fall der Ermordung des nordamerikanischen Indymedia-Aktivisten Brad Will. Gemäß Alba Cruz Santos, einer Anwältin von Código DH, sind die Untersuchungen im Fall Brad Will nach mehreren Prozessen so verschlungen und widersprüchlich, dass das Ganze nicht mehr entwirrbar ist – was durchaus mit Absicht geschehen sei. „Heute ist es deshalb kaum mehr möglich, auf juristischem Wege die Mörder dingfest zu machen“, meint Alba Cruz. Aber die Angehörigen und die Gesellschaft hätten ein Anrecht auf die historische Wahrheit.

Doch die Forderung nach einer Wahrheitskommission stößt bei der Administration Cué auf kein offenes Ohr. Eine öffentliche Entschuldigung für das erlittene Unrecht, ein paar Verfahren gegen subalterne Täter sowie Entschädigungszahlungen für die Opfer der Repression – das ist wohl die Vision von „Frieden“ für die neue Regierung. Auch das Parlament mit seiner starken PRI-Minderheitsfraktion macht sich nicht nur verdient: Momentan wird die Neubestellung der Wahlbehörde verhandelt, dem für eine Demokratie höchst bedeutsamen Organ. Doch eine Allianz aus PAN und PRI will die alten, korrupten Wahlbetrüger in eine neue sechsjährige Amtszeit hieven. Das Entsetzen unter BeobachterInnen, die Hoffnungen in eine echte Übergangsregierung gesetzt hatten, ist groß. 

Oaxacas Konfliktpotenzial kann nicht losgelöst von seinem nationalen Kontext betrachtet werden. Megaprojekte im Energiebereich, die mit Weltbankkrediten gefördert werden, sollen vorangetrieben werden, so z.B. der Staudamm bei Paso de la Reina. Dagegen formiert sich Widerstand, gut 6000 Personen gingen am 14. März gegen das Megaprojekt auf die Straße. Die indigenen Gemeinden der Region werden bei ihrer Verteidigung des „Grünen Flusses“ sowohl von der konservativen katholischen Kirche als auch von der Lehrergewerkschaft unterstützt. Eloy Cruz Gregorio, Vertreter des Widerstandsnetzwerkes Copudever, betonte anlässlich der Mobilisierung: „Ein lokaler PRI-Abgeordneter drohte auch schon, dass er das Militär in unsere Dörfer einmarschieren lasse.“ Doch nun setze ihnen insbesondere die Regierung Cué zu; allerlei Regierungsprogramme zur Unterstützung der armen Bevölkerung würden ihnen angeboten, allerdings gekoppelt an die Bedingung, dass die Dörfer den Widerstand gegen das Megaprojekt aufgeben. 

Die Vorstellungen über das zweite Wahlversprechen von Gabino Cué – „Entwicklung“ – gehen weit auseinander, ebenso diejenigen über notwendige Reformen. Calderón weihte bei seinem Besuch in Oaxaca einen lokalen Ableger der privaten Eliteuniversität La Salle ein. Erst tags zuvor hatte er in einem Dekret angekündigt, dass künftig die Unterrichtsgebühren der privaten Bildungseinrichtungen von den Steuern abgezogen werden können. Die kleine Schicht reicher Eltern kann sich freuen, während das öffentliche Bildungssystem unterfinanziert bleibt. „Wir protestieren gegen den Besuch von Felipe Calderón, der die Unternehmer unterstützt und weiter das Land zerstört, zum Vorteil seiner Machtclique“, so die Sektion 22.
Calderón hat die Ziellinie seiner Amtszeit vor Augen. 2012 steht im Zeichen der Wahlen. Er will vorher noch einen wichtigen „Reformschritt“ tätigen: Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und damit einhergehend die Vernichtung der Gewerkschaften. Als erste traf es die Minenarbeiter, die trotz jahrelanger Streiks ihre Gewerkschaftsautonomie kaum aufrechterhalten können. Ende 2009 wurde der staatliche Energieversorger LyFC über Nacht per Präsidialdekret liquidiert, 40 000 ElektrikerInnen der kämpferischen Gewerkschaft SME standen auf der Straße. 

2010 kam dann das Grounding der altehrwürdigen Fluggesellschaft Mexicana, die sich ebenfalls durch eine gut organisierte Arbeiterschaft ausgezeichnet hatte und die – nun davon befreit – wohl bald wieder in die Lüfte geht. Dieses Jahr scheint der Bildungssektor an der Reihe zu sein. Aber Calderón, und mit ihm auch die vermeintliche Konkurrenz der PRI, wollen mehr. Das Parlament diskutiert zurzeit über eine umfassende Reform der Arbeitsrechte. Die Arbeitsrechte wurden im korporativ regierten Mexiko der PRI kaum angetastet und auch im ersten Jahrzehnt der PAN-Regierungen nur zögerlich beschnitten. Den Kahlschlag bringen PRI-Parlamentarier ein, die PAN hat freudig zugestimmt. „Mit diesem Gesetz würden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Falls es angenommen wird, verschwinden die Gewerkschaften, die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Pensionen – und der goldene Traum der neoliberalen Regimes würde wahr: die Eliminierung der Sozialversicherung.“ Diese Strukturanpassungsmaßnahmen seien dem Kanon der internationalen Finanzinstitute entsprungen, ergänzt der Analyst Amado Sanmartín Hernández. 

Die Regentschaft von Calderón zeichnet sich schon jetzt durch Gewalt aus wie kaum eine Präsidentschaft zuvor. Doch seine letzten beiden Amtsjahre 2011 und 2012 könnten durch die Rachegelüste gegen die sozialen Bewegungen, die ihm seit Amtsbeginn misstrauen, durch radikale neoliberale Reformen sowie die Machtkämpfe um die Nachfolge besonders konfliktiv werden. Oder wie es der EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos in einem Brief an die Versammlung des Menschenrechtsnetzwerkes „Alle Rechte für alle“ kürzlich ausdrückte: „Die grenzenlose Gewalt, mit der föderalen Regierung an der Spitze der makabren Horde, weitet sich über das ganze Land aus und überfällt alle Winkel des täglichen Lebens... Auch deshalb sind dies heikle Zeiten: Weil die oben eine Position in einer falschen Wahlalternative einfordern.“