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Kapitalisten sind keine Franziskaner

Interview mit dem dominikanischen Verleger José Israel Cuello über das haitianisch-dominikanische Verhältnis

Knapp 76 000 Quadratkilometer ist die Insel Hispaniola groß. Haiti macht gut ein Drittel aus, die östlichen zwei Drittel gehören zur Dominikanischen Republik. Insgesamt leben hier 18 Millionen Menschen. Hans-Ulrich Dillmann sprach mit dem dominikanischen Verleger und Fernsehkommentator José Israel Cuello, der früher auch dem ZK der dominikanischen Kommunistischen Partei angehörte, über das seit jeher angespannte und von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägte Verhältnis zwischen den beiden Ländern.

Hans-Ulrich Dillmann

Die Beziehung zwischen den beiden Staaten kann man nicht unbedingt als harmonisch bezeichnen – stimmt meine Beobachtung?

Wir sind in jeder Hinsicht auseinandergedriftet. Ich würde es als eine Desintegration beider Länder bezeichnen. Historisch haben wir andere Entwicklungen genommen und auch ökonomisch haben wir unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Haiti fällt immer mehr auseinander und die Dominikanische Republik steht wirtschaftlich gut da.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Haiti ein größeres Bruttoinlandsprodukt als die Dominikanische Republik. Dort war vieles wesentlich besser. In den 20er Jahren zum Beispiel war es im Grenzbereich einfacher und vor allem besser, einen Kranken nach Port-au-Prince und nicht nach Santo Domingo zu bringen, wegen der Entfernung, aber auch wegen der Tatsache, dass es in Haiti gut ausgebildete Ärzte und gute Kliniken gab. Wenn angehende dominikanische Ärzte z.B. in Frankreich studieren wollten, schifften sie sich in Cap Haïtien ein und nicht in Santo Domingo, weil es keine direkten Schiffslinien nach Frankreich gab. Ich stamme aus Santiago, im Landesinnern, und dorthin kam regelmäßig ein Arzt aus Cap-Haïtien auf dem Pferd angereist, um Sprechstunden abzuhalten. Cap-Haïtien war damals besser entwickelt als Santiago, das heute nicht nur die zweitgrößte Stadt der Dominikanischen Republik, sondern auch sehr reich ist.

Die Entwicklung drehte sich erst um, als François Duvalier an die Macht kam. Da veränderte sich die ökonomische Situation zwischen den beiden Ländern substanziell und schlug meiner Meinung nach eine umgekehrte Entwicklung ein, die wohl einmalig in der Welt ist. Es gibt evolutionäre Diktaturen, aber es gibt auch jene, bei denen alles den Bach runter geht. Die Diktatur von Duvalier gehört ohne Zweifel dazu, sie war rückschrittlich. Im Gegensatz dazu war die Diktatur Trujillos – und ich sage dies als ein Anti-Trujillist, der von ihm verfolgt wurde – evolutionär. Das Bruttoinlandsprodukt entwickelt sich seit seiner Machtergreifung 1930 bis zu seinem Tod 1961 gigantisch. 

Und Haiti entwickelte sich im Rückwärtsgang?

Als Duvalier 1957 an die Macht kam, beginnt der endgültige Niedergang Haitis. Einer der ersten Effekte dieses Niedergangs lässt sich an den Universitäten feststellen. Wer studieren wollte, musste ins Ausland gehen. Und viele Haitianer kamen zum Studium in die Dominikanische Republik. Ein anderer großer Teil ging nach Montreal in Kanada. Heute gibt es zwar vielleicht zwei Dutzend Universitäten, aber die wollen mehr Universitäten sein, als sie es in Wirklichkeit sind. Niemand ist nachgerückt, denn die meisten, die in der Zeit Duvaliers im Ausland studiert haben, sind nie wieder nach Haiti zurückgekehrt. Mit der Schließung der Universität in Port-au-Prince, die als eine der wenigen in der Region hervorragend war, reduzierte er die intellektuelle Ausbildung. Die meisten haitianischen Agraringenieure heute haben in der Dominikanischen Republik studiert. Der Chefdesigner von Chrysler ist ein gebürtiger Haitianer, die Vertreterin der britischen Krone in Kanada wurde in Haiti geboren. Duvalier hat Haiti intellektuell enthauptet und damit den Niedergang eingeleitet.

Nach der Duvalier-Diktatur kehrten jedoch viele Intellektuelle ins Land zurück, die Partei Lavalas entstand. Jean-Bertrand Aristide, der Armenpriester, kam an die Macht, auch wenn er wenig Zeit hatte, seine Ideen umzusetzen. Das widerspricht doch Ihrer These?

Nein. Es gab schon vorher Momente der Erholung, als Baby Doc an die Macht kam. In dieser Zeit versuchte er, diese negative intellektuelle Entwicklung zu stoppen. Ihm gelang es in fünf, sechs Jahren, viele Talente aus dem Ausland wieder anzulocken. Aristide kam zwar mit großer Unterstützung der Bevölkerung an die Macht, aber er hat nicht verstanden, wohin er das Land entwickeln könnte, wohin er das Land führen muss. Er hat sich in kleinen politischen Scharmützeln mit der Dominikanischen Republik aufgerieben. Für mich besteht das Problem darin, dass Haiti keine Führungselite hat. Es gibt keine wirklichen Ideen, welche Entwicklungsmöglichkeiten in diesem Land existieren. Bei der Geberkonferenz für Haiti in diesem Jahr habe ich mit mehreren Delegationen gesprochen und die Positionen waren fast alle ähnlich. Wir haben über Jahrzehnte Geld in dieses Land investiert und haben nur Geld verloren.

Worin sehen Sie denn das Potenzial des Landes?

Das wirkliche Potenzial, das sowohl Haiti als auch die Dominikanische Republik heute haben, ist die einmalige geografische Lage. Diese Insel könnte Brücke zwischen Asien und den USA sowie Asien und Europa sein, aufgrund ihrer geografischen Lage. Es könnte ein Hafen sein, der zwar nicht Haiti, sondern als Umschlagsplatz für Waren zwischen Lateinamerika und den USA dient. Dort gäbe es Arbeit für die Menschen. Man könnte eine ähnliche Entwicklung anstoßen wie in Panama. Dort hat sich der Staat um den Kanal herum entwickelt. Und Panama verwaltet den Kanal hervorragend. Sie waren zwar nicht in der Lage, den Kanal zu bauen, aber rund um den Bau des Kanals – ob man das gut findet oder nicht – hat sich eine Nation konstituiert. 

Derzeit haben die Haitianer nur die Chance in die USA auszuwandern, was inzwischen kaum mehr gelingt, oder Arbeit auf dem Bau oder als Erntearbeiter in der Dominikanischen Republik zu suchen …

Der Anteil der haitianischen Arbeiter bei der Zuckerrohrernte hat nicht mehr diese Bedeutung. Mit der Mechanisierung der Ernte werden billige Arbeiter nicht mehr benötigt. Nur noch für die Nachernte, die schwer zu mechanisieren ist, werden sie noch gebraucht. Aber die haitianische Migration, die sich seit 1986 mit dem Ende der Duvalier-Herrschaft noch verstärkt hat, hat die Automatisierung der dominikanischen Landwirtschaft verhindert. Wer genügend billige Arbeitskräfte hat, fragt sich, warum er teure Investitionen zum Ankauf von Maschinen tätigen soll. Bei den Bauvorhaben der Regierung hat sich das bereits gewandelt. Mit der unterirdischen Riesenfräse, die beim Bau der ersten Metrostrecke eingesetzt wurde und jetzt bei der zweiten eingesetzt wird, werden billige, ungelernte Bauarbeiter nicht mehr gebraucht. Die haitianischen Arbeiter hätten es zwar billiger gemacht, aber mehr Zeit dafür gebraucht. Die Mechanisierung in der Metro ist eine politische Entscheidung für eine teurere Lösung. 

Aber wer durch die Straßen geht, sieht Tausende von haitianischen Migranten, die auf dem Bau arbeiten, als ambulante Händler sich durchs Leben schlagen …

Im Bereich der privaten Bauvorhaben, die es zu Hunderten hier in Santo Domingo gibt, ist es auch etwas anders. Hier schuften die Haitianer, weil sie billiger sind. Für das Land ist die haitianische Einwanderung von Vorteil und sehr gewinnbringend gewesen. Aber billige Arbeit steht immer im Widerspruch zur Mechanisierung. Kapitalisten sind keine Franziskaner, Gewinn ist das Streben. 

Das Zusammenleben ist im Alltag nicht gerade harmonisch. Probleme enden oft tödlich. Ein geklautes Motorrad und die dominikanischen Nachbarn ziehen vors Haus des haitianischen Diebes, um ihn umzubringen und das Haus anzuzünden.

Aber das richtet sich doch nicht nur gegen Haitianer. Hier steinigen sie Diebe auf offener Straße, wenn sie sie in die Finger bekommen. Das hat nichts damit zu tun, dass es Haitianer sind. Diese Haltung, Selbstjustiz auszuüben, hat in diesem Land mit der nicht vorhandenen Rechtssituation zu tun. Die Polizei agiert nicht, wenn es Diebstähle gibt, die Justiz zeigt sich uninteressiert und lässt Diebe laufen, da nehmen sich die Menschen das Recht, selbst Justiz auszuüben. 

Das sind keine Einzelfälle und ab und an sind es fast pogromartige Verhältnisse. In den letzten zwei Jahren hat es mehrere Fälle gegeben, wo die dominikanischen Nachbarn nicht nur den wirklichen oder vermeintlichen Übeltäter gelyncht, sondern die Gelegenheit genutzt haben, mit den haitianischen Nachbarn abzurechnen. 

Wenn die Emotionen hochschlagen, gibt es oft kein Halten. Das ist so brutal wie in einem Krieg. Da geht es zwar organisierter zu, aber es ist genauso brutal, wo man sich tötet, ohne sich persönlich zu hassen. 1937 hat Trujillo mindestens 17 000 Haitianer massakrieren lassen. Da ging es um die Dominikanisierung der Grenzregion und es war eine wohlkalkulierte Aktion Trujillos und nicht ein Pogrom von Dominikanern an Haitianern. Trujillo wollte die staatliche Kontrolle über die Region und die Menschen von Grundstücken vertreiben, die zur landwirtschaftlichen Nutzung vorgesehen waren.

Hier im Land werden die Haitianer noch immer für vieles verantwortlich gemacht und es gibt Stimmen, sie auszuweisen. Wer steckt dahinter?

Natürlich gibt es innerhalb der Regierung Kreise, die aus politischen Gründen den Hass zwischen beiden Ländern anheizen, aber viel schlimmer sind jene Intellektuellen, die Öl ins Feuer schütten, die diesen Hass schüren und ihm neue argumentative Munition liefern. Sie vergiften die öffentliche Meinung mit falschen Anschuldigungen. In der Akademie für Geschichte sitzen welche, die den Hass auf Haiti predigen und die schwärzer sind als alle Haitianer. Das ist eine Brutstätte des Anti-Haitianismus.

Seit dem Erdbeben scheint sich die Situation verändert zu haben. Die Dominikanische Republik war das erste Land, das geholfen hat. Hat die Not beide Länder zusammenrücken lassen?

Staatspräsident Leonel Fernández ist nach Haiti geflogen. Rettungsstaffeln wurden sofort geschickt, die Grenzen wurden aufgemacht. Das zeigt für mich, dass der Hass zwischen den beiden Ländern keine Wurzeln hat. Es sind Hunderttausende, die hier leben und vor allem mit uns leben. Die haitianischen Arbeiter sind fleißige Menschen. Sie sind hier, um ihre Celitos (Pfennige) nach Haiti zu tragen und dort ihre Familien zu ernähren.

Das Interview führte Hans-Ulrich Dillmann am 5. November 2010.