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Prototyp des Revolutionsromans

Der Roman „Los de abajo“ von Mariano Azuela
Klaus Jetz

Mariano Azuela, „der Arzt, der Romane schreibt“, so zeitgenössische Kritiker, wurde 1873 in Lagos de Moreno, im mexikanischen Bundesstaat Jalisco, als Sohn eines Kaufmanns geboren. Seine Kindheit verbrachte er vor allem im Lebensmittelgeschäft des Vaters, wo er bereits früh mit der Sprache und den Bräuchen der Landbevölkerung in Kontakt kam. In den Sommermonaten zog die neunköpfige Familie auf ein Gehöft außerhalb der Kleinstadt, wo sich der junge Azuela mit der Flora und Fauna der Gegend vertraut machte, die er später in seinen Romanen ausführlich beschrieb. Die Grundschule besuchte er in seiner Heimatstadt, um dann mit fünfzehn Jahren in ein Priesterseminar in der Provinzhauptstadt Guadalajara überzuwechseln. Nach zwei weiteren Jahren schrieb er sich als Medizinstudent an der dortigen Universität ein.

Nach seinem Studium ließ Azuela sich in Lagos als Arzt nieder und widmete sich ab 1896 auch der Literatur. Unter dem Eindruck des Elends in einem Hospital schrieb er sein erstes Werk Impresiones de un estudiante, das bereits die Grundlage für seinen späteren Roman María Luísa (1907) lieferte. 1909 folgte Mala yerba, ein Roman in der Tradition des Naturalismus, der die Bräuche und Sitten, die Sprache der Landbevölkerung, die Ausbeutung einer Familie durch einen Großgrundbesitzer zum Inhalt hat. Aufgrund seiner Thematik rechtfertigt dieser vorrevolutionäre Roman Francisco Maderos Erhebung von 1910, die den Beginn der mexikanischen Revolution (1910-1920) darstellt.

Azuela geriet so bald in Konflikt mit dem Regime des Diktators Porfirio Díaz (1877-1911). Nach dessen Sturz wurde der Arzt und Autor zum Bürgermeister von Lagos ernannt und schloss sich als Stabsarzt im Rang eines Oberstleutnants den revolutionären Truppen des Generals Julián Medina an. Seine Erlebnisse und Beobachtungen in dieser Zeit verwendete er für seinen dritten Roman, Los de abajo (1916). Das Werk hat also autobiographische Züge, General Julián Medina lieferte die Vorlage für den Helden Demetrio Macías. Bevor Azuela den Roman jedoch beenden konnte, besetzten die Truppen des mit Pancho Villa und Emiliano Zapata rivalisierenden Generals Venustiano Carranza die Stadt Guadalajara. Azuela ging nach El Paso, Texas, ins Exil, wo Los de abajo als Feuilleton- und Fortsetzungsroman in der Zeitung El Paso del Norte erschien. Ein Jahr später erschienen in derselben Druckerei 1000 Buchexemplare mit dem Untertitel Cuadros y escenas de la Revolución actual. 1920 gab Azuela auf eigene Kosten in der Hauptstadt Mexikos eine zweite Auflage des Romans in Auftrag, ohne dass das Werk zunächst Beachtung fand.

Sein zeugnishafter Charakter und seine Aktualität werden im Untertitel der El Paso-Ausgabe besonders hervorgehoben. Überhaupt sind Azuelas realistischste Werke seine drei Revolutionsromane Los de abajo (1916), Los caciques (1917) und Las moscas (1918). Insbesondere der erste wurde bekannt und als Prototyp des mexikanischen Revolutionsromans beliebte Schullektüre in der spanischsprachigen Welt.

Los de abajo beschreibt den Aufstieg von Demetrio Macías, eines unterdrückten und ausgebeuteten Bauern, zum Revolutionsgeneral. In wenigen Zeilen, ohne überflüssigen Ballast, skizziert Azuela in dieser Charakterstudie die Tugenden und Schwächen des Helden, dessen Beweggründe, sich dem Aufstand anzuschließen. Demetrio Macías hat keine schulische Bildung erfahren. Mit Luis Cervantes, Medizinstudent und Journalist, stellt der Autor ihm aber einen Assistenten zur Seite, der die Funktion des Revolutionsideologen übernimmt. Es ist wohl diese Romanperson, mit der sich der Autor vor allem identifiziert. Der Held und seine Kampfgenossen hingegen sind mit dem Land, das sie als Bauern bearbeiten, zutiefst verwurzelt. Diese Verbundenheit mit Land und Leuten ist einer der Gründe für die Überlegenheit der Rebellen über die Regierungstruppen. Zudem können Guerilleros mit der Unterstützung der Landbevölkerung rechnen. Ihr Ansehen beruht auf ihrem Mut und ihrem kriegerischen Können.

Azuela erwähnt in seinem Roman außer Emiliano Zapata alle bedeutenden Revolutionsgeneräle. Sie greifen jedoch nicht in die Handlung ein. Andererseits stellt er verschiedene revolutionäre Typen vor: den kleinen Landbesitzer, der in der vorrevolutionären Gesellschaft keine Entwicklungsmöglichkeiten für sich sieht, den landlosen Bauern, der unter sklavenähnlichen Verhältnissen für einen Großgrundbesitzer arbeitet, den Tagedieb, der sich auf der Flucht vor der Justiz befindet, den Studenten, der sich aus Idealismus den Rebellen anschließt, den Deserteur, der wegen der Misshandlung durch seine Vorgesetzten die Seiten wechselt u.v.m. Sie alle versprechen sich durch die Revolution eine Verbesserung ihrer Verhältnisse. 

Ein weiterer gemeinsamer Aspekt aller Romanpersonen ist deren schicksalhafte Vorherbestimmung, der sie nicht entrinnen können. Bezeichnend ist die Schlussszene des Romans, die den unabwendbaren Untergang der Rebellen schildert. Der geschlossene Kreis der Handlung wird dadurch betont, dass Demetrio und seine Soldaten nun selbst Opfer eines ähnlichen Hinterhalts werden, in den sie Monate zuvor am selben Ort die Regierungstruppen gelockt hatten. Der pessimistische Grundton des Romans, die skeptische Haltung des Autors gegenüber der Revolution zeugt von der Modernität und Universalität des Werkes. Spätere mexikanische Autoren wie Juan Rulfo und Carlos Fuentes werden in ihren Romanen eine ähnlich pessimistische Sicht der Revolution entwickeln.

Die zeitlosen und universellen Themen des Todes und des Schicksals der Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und des Triumphes über das Böse rücken das Werk in die Nähe des Epos, wie Seymour Menton aufgezeigt hat. So behaupten mehrere Kritiker, Azuela sei es gelungen, mit diesem literarischen und menschlichen Zeugnis die Seele des mexikanischen Volkes zu erfassen. Immer wieder betonen die Protagonisten, dass sie sich als Abkömmlinge der aztekischen Ureinwohner fühlen. Ihre Namen erinnern an Personen der griechischen Epen. Wie die Ilias und andere Heldenepen thematisiert Los de abajo ein historisches Ereignis von nationaler Bedeutung und schildert die außergewöhnlichen Taten eines legendären Helden und seiner Anhänger. Die Handlung beginnt in medias res, mit einem anonymen Dialog. Mit der Ankunft der Soldaten verwandelt sich der unbekannte Mann, der in einer Ecke der Hütte hockt und sein Abendessen verschlingt, bald in den „berühmten Demetrio Macías“.

Hier ist auf das spanische mittelalterliche Heldenepos Poema del Mio Cid hinzuweisen. Es ist nicht nur das formelhafte Epitheton, der Beiname als Stilmittel, der beide Helden schmückt: „El Cid, el Campeador contado“ (Der berühmte Kämpe) und „El famoso Demetrio Macías“ oder „El Cid que en buena ora cinxó espada“ (der sich zur rechten Zeit das Schwert umgürtete) und „Demetrio ciñó la cartuchera a su cintura“ (Demetrio legte sich den Patronengurt um die Taille). Wenn Demetrio ins Horn bläst, um seine 25 Anhänger zu versammeln, erinnert er an den Helden des Rolandsliedes. Die zweimalige Trennung von seiner Familie verleiht Demetrio menschliche Züge und erinnert an die Verbannung des Cid. Der mexikanische Roman hat, wie das spanische Heldenepos, eine dreigliedrige Struktur, die einhergeht mit der inhaltlichen Dreigliederung des Werkes (Aufbruch und Trennung von der Familie, Einführung in die Abenteuer des Helden und Feuertaufe, Schicksalswende und Tod). Aufgrund des ländlichen Charakters des Romans überwiegen Vergleiche und Bilder aus der Tierwelt, die wiederum die Entmenschlichung der Personen hervorheben. Naturmetaphern verleihen dem Roman eine stilistische Erhabenheit, die jedem Epos eigen ist.

Mit Los de abajo begründet Azuela seinen Ruhm als Romanautor. Dennoch hat er es eher einem interessanten Zufall zu verdanken, dass er über die Grenzen seines Landes hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, wie ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Werkes zeigt, die Marta Portal geschildert hat. 1924 erscheint in der Zeitung El Universal ein Artikel mit dem sonderbaren Titel El afeminamiento en la literatura mexicana. Der Kritiker wirft in offensichtlicher Unkenntnis der neuesten Literatur seines Landes den Autoren vor, die zurückliegende nationale Tragödie nicht aufgegriffen und in ihren Werken verarbeitet zu haben. Vielmehr hätten sie sich in ihrem Elfenbeinturm mit exotischen und weltfremden Themen befasst, die mit der Realität und Identität Mexikos unvereinbar seien. Einen Monat spät erscheint in derselben Zeitung eine Replik mit dem ebenfalls seltsam anmutenden Titel Existe una literatura mexicana viril, in der der Verfasser auf Azuelas Werk eingeht und den Autor als Romancier der Revolution bezeichnet. Azuela selbst hat bald die Gelegenheit, in der Wochenendbeilage El Universal Ilustrado zu antworten. Er bezweifelt die Fähigkeit der mexikanischen Autoren, eine Nationalliteratur hervorzubringen, womit er sich selbst als Vorreiter einer neuen literarischen Strömung darstellt. Als der angesehene modernistische Dichter Rafael López Los de abajo dann auch noch als den besten mexikanischen Roman der letzten zehn Jahre bezeichnet, nutzt El Universal Ilustrado das plötzliche Interesse und publiziert 1925 das Werk in fünf Wochenendbeilagen. Es folgen Veröffentlichungen in mehreren lateinamerikanischen Ländern, zumeist Raubdrucke, sowie Übersetzungen in mehrere Sprachen.

1930 erscheint in Gießen die erste deutsche Auflage mit dem Titel „Die Rotte“. Zehn Jahre später wird der Roman in Mexiko verfilmt. Los de abajo läuft aber nur eine Woche in einem Kino der Hauptstadt. Ebenso wie beim Roman werden die Kritiker dem Film erst fünfzehn Jahre später ihre Aufmerksamkeit widmen und ihn zu den besten mexikanischen Filmen zählen. 1992, Mexiko ist Gastland der Frankfurter Buchmesse, erschien im Dipa-Verlag Frankfurt/M. meine Neuübersetzung unter dem Titel „Die Rechtlosen“.

Mariano Azuela ist noch bis in die vierziger Jahre als Schriftsteller tätig. In die mexikanische und lateinamerikanische Literaturgeschichte ist er allerdings als Vorreiter des sog. tellurischen Romans eingegangen, einer Gattung, der sich später so bedeutende Autoren wie der Argentinier Ricardo Güiraldes (Don Segundo Sombra, 1926) oder der Venezolaner Rómulo Gallegos (Doña Bárbara, 1929) verpflichtet fühlen werden. Zudem ist Azuela der Begründer des mexikanischen Revolutionsromans.

Die drei Werke Los de abajo, Los caciques und Las moscas stellen zusammen ein eindrucksvolles Porträt der mexikanischen Gesellschaft zur Zeit der Revolution dar, also der ersten bedeutenden sozialen Umwälzung im 20. Jahrhundert, die den Grundstein des modernen Mexiko legte und deren Hoffnungen und Enttäuschungen noch heute maßgeblichen Einfluss auf die mexikanische Politik und Gesellschaft nehmen. 

Die beiden deutschen Übersetzungen von Los de abajo „Die Rotte“ (1930 – von Hans Dietrich Dieselhoff) und „Die Rechtlosen“ (1992 – von Klaus Jetz) sind nur noch antiquarisch erhältlich.