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Die Konstruktion einer Revolution

Aufbau und Niedergang des mexikanischen Revolutionsmythos
Claudia Niesen

Die Revolution wurde zum Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts in Mexiko. Im Ausland, aber vor allem in Mexiko selbst, wurde viel über die Revolution geschrieben, sie wurde in der Kunst, der Literatur, der Musik und der Cineastik im wahrsten Sinne des Wortes verewigt. Denn schon mit Abschluss der bewaffneten Phase der Revolution im Jahr 1920 wurde ihr immenses Potenzial zur Legitimierung der Regierung entdeckt. Die Regierungen bezeichneten sich zunächst aus nahe liegenden Gründen als revolutionär – die Präsidenten Carranza und Obregón waren Caudillos der Revolution und hatten als solche Fraktionen während der Kämpfe angeführt.

Calles, der erste Präsident, der diese Rechtfertigung nicht für sich beanspruchen konnte, war es, der die Revolution diskursiv zu einer permanenten machte und so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Revolution einschloss. Er machte aus der mexikanischen Revolution La Revolución con mayúscula (die großgeschriebene mexikanische Revolution) und festigte so den Mythos der Revolution und mit ihm seine Macht.

Schon Francisco I. Madero sicherte der Revolution ihren besonderen Stellenwert in der Geschichte Mexikos, indem er sie als dritte große Revolution nach Unabhängigkeit (1810) und Reforma (1854) bezeichnete, aber erst die Gruppe aus Sonora um Calles prägte den Mythos1 in all seinen Facetten.

Calles sah sich bei seinem Amtsantritt 1924 mit unterschiedlichen politischen Fraktionen konfrontiert (jeder Caudillo hatte seine Bewegung, seinen -ismo, hinterlassen), unter denen er einen Konsens finden musste. Dieser Konsens wurde auf den symbolischen Bereich verlagert, indem der Mythos der Revolution ausgebaut wurde. Dieser Mythos wurde zur Grundlage der Nation und die mexikanische Revolution zu deren Ursprung. Mit seiner Hilfe wurden nachträglich die unterschiedlichen Fraktionen der Revolution zu einer Revolutionsfamilie vereint und Unterschiede zu persönlichen Differenzen herabgespielt. Diese Versöhnung in der Vergangenheit ermöglichte es einerseits, die unterschiedlichen Lager zu einer großen Partei, der Partido Nacional Revolucionario (PNR), zusammenzufassen und gemeinsame Helden zu schaffen, andererseits die Idee einer sozialen Revolution, eines authentischen Bauernaufstandes, wie sie in den Kämpfen eigentlich nur Zapata vertreten hatte, zur Leitidee der Revolution zu machen. Die Revolution wurde somit mit ihren bis heute wirkungsmächtigen Idealen verbunden, sie wurde demokratisch, nationalistisch und darin gleichberechtigt geleitet von sozialer Gerechtigkeit.

Doch die Realität sah anders aus, immer noch litten viele Bauern, und die neue Oberschicht sicherte sich erneut durch ein hierarchisches, autoritäres politisches System die Macht. Diese Tatsache führte dazu, dass die Revolution zu einer permanenten wurde. Mit der Idee der Revolución hecha gobierno wurden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden und so die Hoffnung auf kommende Reformen gestärkt. Calles stützte den Ausbau des Revolutionsmythos Thomas Benjamin zufolge auf drei Säulen: den Feiertag, Denkmäler und die offizielle Geschichtsschreibung.

1920 wurde der 20. November erstmals zum offiziell deklarierten nationalen Feiertag. Hatten sich vorher Bürgerinitiativen um die Begehung dieses Tages gekümmert, übernahm dies nun die Regierung und veranstaltete zur Feier des Tages eine große Parade von Athleten. Warum Sport gewählt wurde, kann nur spekuliert werden, wahrscheinlich um zu zeigen, dass das, wofür die Menschen in der bewaffneten Phase gekämpft hatten, nicht umsonst gewesen war und auch die Anstrengungen des Regimes sich lohnten. Die Athleten verkörpern die Revolution als gesunde und lebendige Kraft in der Geschichte Mexikos. Der Revolutionstag autorisiert, rechtfertigt und legitimiert die offizielle Partei, die herrschende Regierung und den postrevolutionären Staat. Um diese Zeit wurde auch das berühmte Denkmal der Revolution auf dem Paseo de la Reforma in Mexiko-Stadt gebaut. Es symbolisiert die drei großen Revolutionen Unabhängigkeit, Reform und Revolution und vereint mittlerweile als gemeinsame Grabstätte die Revolutionshelden Madero, Carranza, Villa, Calles und Cárdenas.

Die Geschichtsschreibung zur mexikanischen Revolution wurde Schritt für Schritt instrumentalisiert. Seit Gründung der PNR sollte sich die vermeintliche Einheit der Revolutionsfamilie auch in den Geschichtsbüchern finden lassen. Alberto Morales Jiménez gewann einen Wettbewerb, den die Partido Revolucionario Institucional (PRI – Nachfolgepartei der PNR) ausgeschrieben hatte, und veröffentlichte 1951 mit seiner Historia de la Revolución Mexicana den Prototyp für die offizielle Geschichtsversion. Er verherrlichte die Revolution und ihre Helden, löschte die internen Widersprüche und stellte die Revolution als nationalistische und demokratische Revolution des Volkes dar.

Diesen Mythos machten sich sämtliche Präsidenten der PRI zu Nutze und schafften es damit, die PRI bis 2000 an der Macht zu halten. Obwohl der Mythos heute noch von vielen hohen Politikern der PRI rhetorisch verwendet wird, hat er seine Wirkung verloren. Doch woran liegt das?

Laut Hans Blumberg müssen bei einem Mythos Sinnerzählung und Rezeption in eins fallen, werden die Sinngeschichten nicht mehr geglaubt und daher auch nicht mehr rezipiert, verlieren sie ihre integrierende Wirkung, und der Mythos wird zum Dogma.

Mythen kommen an ihr Ende, wenn das, was mit ihnen bezweckt werden sollte, entweder erreicht werden konnte und sich damit erledigt hat oder wenn die „genuine Figur“ des Mythos willkürlich und einseitig umgeformt wurde, ohne dass der Zweck erreicht wäre. Mythen und deren Anwendung sind sehr flexibel und ändern sich mit der Zeit, der eigentliche Kern aber, so Blumberg, darf nicht verändert werden. In Mexiko war genau das der Fall. Gawronski spricht im Fall der PRI, die sich durch den Revolutionsmythos beständig an der Macht hielt, von einer Legitimationskrise. Diese bestand aus drei Phasen: der moralischen Schwächung, der Schwächung durch schlechte politische Performance und der politischen Schwächung. Die moralische Schwächung begann mit dem Massaker von Tlatelolco, bei dem 1968 protestierende StudentInnen erschossen wurden und sich so die Regierung gegen ihre stärksten Träger richtete, die Intellektuellen und die Kinder der Mittelschicht. Korruption, Klientelismus und schlechte Reaktion auf das Erdbeben 1985 in Mexiko-Stadt machten die schlechte Leistung der PRI deutlich, die ab 1997 politisch in der Wahl von C. Cárdenas von der PRD zum Bürgermeister von Mexiko-Stadt und der anschließenden Präsidentenwahl von Vicente Fox von der PAN 2000 in die politische Legitimationskrise mündete. 

Mitte der 80er Jahre fanden in Mexiko tiefgreifende sozioökonomische Veränderungen statt. 1982 fiel Mexiko durch die veränderten Zinskonditionen auf den internationalen Finanzmärkten in eine Schuldenkrise. Diese verursachte eine weitere Öffnung der mexikanischen Wirtschaft nach außen und Kürzungen bei den Sozialausgaben. Eine neoliberale Politik griff auch in Mexiko um sich, wie sich an der Liberalisierung des Bankensektors und der Einbindung in das Freihandelssystem mit den USA und Kanada bzw. mit der EU zeigte.

In der PRI bildete sich eine neue Elite aus Unternehmern heraus, die den Revolutionsmythos eher als Gefahr sahen und die Politik weg von einer nationalen Einheit hin zur Integration Mexikos in die Weltwirtschaft lenkten. Für diese neue Elite hatte sich das, was mit dem Mythos bezweckt werden sollte, erledigt. Sie tauschten laut Gawronski den Revolutionsmythos gegen den Mythos der Integration in die „erste Welt“ ein.

Die realpolitischen Maßnahmen der Regierung beschädigten die „genuine Figur“ des Mythos nachhaltig. So modifizierte Salinas den Artikel 27, eine der wichtigsten Errungenschaften der Revolution – die Festlegung des Ejido-Systems –, und Unterstützungen der Bauern und armen Bevölkerungsschichten wurden zurückgenommen. Dies hatte auf den Revolutionsmythos einen doppelt negativen Effekt. Zum einen wurde eine heilige Errungenschaft der Revolution, das Recht auf Land, aufgehoben und so der symbolische Konsens zwischen den Schichten beschädigt. Zum anderen führten die neoliberalen Maßnahmen zu drastischen Verschlechterungen der sozialen Lage vieler Menschen. 

Für diese Menschen wurde die Revolutionserzählung mit ihrem Anspruch auf soziale Gleichheit, nationale Einheit und Souveränität selbst widersprüchlich und die fundamentalen Änderungen ließen sie auch die Hoffnung auf eine Besserung in der Zukunft verlieren. Seit die Globalisierung in Mexiko Einzug hielt, wurde der revolutionäre Nationalismus durch formaldemokratische Mechanismen ersetzt. Die realpolitische Abkehr von den Idealen, die den Mythos der Revolution ausmachten, ließ diesen als Legitimation für die Regierung unwirksam werden.

Literatur: Benjamin, Thomas, La revolución. Mexico's great revolution as memory, myth and history. Austin 2000.
O'Malley, Ilene V., The myth of the revolution. Hero cults and the institutionalization of the Mexican state, 1920 – 1940, New York u.a. 1986.
Florescano, Enrique, Historia de las historias de la nación mexicana, México D.F., 2002.
Zimmering, Raina (Hg.), Der Revolutionsmythos in Mexiko., Würzburg: 2005.
Krauze, Enrique, La historia cuenta, México 1998

  • 1. Hier verstanden wie von Hans Blumberg als „Geschichte, in der und durch die der human verfügbaren Faktizität der Welt eine Bedeutsamkeit für den Menschen beigelegt wird“.