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Kampf gegen die Straflosigkeit

Argentiniens Militärs vor Gericht
Gert Eisenbürger

Als 1983 der neu gewählte Präsident Raúl Alfonsín in Argentinien die Strafverfolgung der verantwortlichen Mitglieder der vorangegangenen Militärdiktatur (1976-83) anordnete, war das ein Novum in Lateinamerika. Bis dahin hatten sich die Militärmachthaber vor ihrer Rückkehr in die Kasernen stets Gesetze maßgeschneidert, die eine Strafverfolgung für während ihrer Herrschaft begangene Verbrechen ausschlossen. Die zivilen Nachfolgeregierungen akzeptierten diese Praxis, weil die Militärs sie zur Bedingung ihres Rückzugs machten und die Macht der Uniformierten weiterhin ungebrochen war.

Auch Argentiniens Militärs hatten im September 1983 noch rasch ein solches Gesetz in Kraft gesetzt. Doch Präsident Alfonsín und das Parlament erklärten es für ungültig. Die Juntamitglieder kamen ab Juni 1985 vor Gericht und wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Damit wollte es Alfonsín bewenden lassen. Die Menschenrechtsbewegung und Teile der argentinischen Öffentlichkeit wollten aber nicht nur die obersten Generäle vor Gericht sehen, sondern alle Militärs, die an Folterungen und Morden beteiligt waren.

Daraufhin kam es 1986/87 zu mehreren Militärrevolten. Alfonsín brachte daraufhin im Kongress zunächst das so genannte „Schlusspunktgesetz“ durch, das die Strafverfolgung für Menschenrechtsverletzungen verantwortlicher Militärs auf einen kurzen Zeitraum einschränkte. Das später verabschiedete „Gesetz über den pflichtgemäßen Gehorsam“ machte weitere Verfahren dann fast ganz unmöglich. Als sein Nachfolger Carlos Menem 1989/90 auch noch die bereits Verurteilten begnadigte, schien die hoffnungsvolle Entwicklung, die die Prozesse gegen die argentinischen Militärs für die Aufarbeitung von Diktaturverbrechen in ganz Lateinamerika eingeleitet hatte, schon wieder am Ende.

Doch die argentinischen Menschenrechtsgruppen und engagierte JuristInnen fanden sich damit nicht ab. Sie suchten nach Wegen, die uniformierten Täter weiter zur Verantwortung zu ziehen. In Argentinien brachten sie die wenigen Delikte zur Anzeige, die durch Alfonsíns Amnestiegesetze nicht erfasst waren, wie etwa von Militärs begangene Vergewaltigungen oder die Entführung der Kinder „verschwundener“ Frauen, die man noch gebären gelassen und dann ermordet hatte. Die Kinder waren meist Familien kinderloser Militärs zur Adoption übergeben worden.

Gleichzeitig zeigten Angehörige der Opfer und ihre UnterstützerInnen die Täter in europäischen Ländern an. Im Einwanderungsland Argentinien besitzen viele seiner BürgerInnen auch eine europäische Staatsangehörigkeit. Das galt für zahlreiche Opfer der Diktatur. So begannen die Justizbehörden in Italien, Frankreich, Spanien, Schweden, Deutschland und weiteren Ländern wegen der Entführung und Ermordung ihrer StaatsbürgerInnen während der argentinischen Diktatur zu ermitteln und erließen internationale Haftbefehle gegen die Beschuldigten. Einige wurden auch vor Gericht gestellt und verurteilt. Meist kam es aber nicht zu Prozessen, weil argentinische Gerichte die Auslieferung der in Europa angeklagten Offiziere ablehnten.

Allerdings entwickelte sich durch die europäischen Verfahren in Argentinien eine Dynamik. Die Forderung nach einer Strafverfolgung der Folterer und Mörder wurde immer lauter und auch von der breiten sozialen Bewegung aufgenommen, die sich nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch 2001/2002 gebildet hatte. Der 2003 ins Amt gekommene Präsident Nestor Kirchner machte sich die Forderung zu eigen. Der Oberste Gerichtshof, dessen Richter dem Gremium teilweise schon in der Diktatur angehört hatten, wurde erneuert, die Amnestiegesetze Alfonsíns vom Parlament für nichtig erklärt. Ab 2003 wurden die Ermittlungen wegen der Diktaturverbrechen wieder aufgenommen. In den letzten Jahren gab es eine ganze Reihe großer Verfahren, die eine enorme Resonanz in der argentinischen Öffentlichkeit hatten. Ebenso wichtig wie die Verurteilung der Täter war dabei die Tatsache, dass in den Prozessen die Verbrechen minutiös belegt und damit öffentlich gemacht wurden. Für die überlebenden Opfer und die Angehörigen der „Verschwundenen“, die häufig den Gerichtsverhandlungen beiwohnten, waren dies schlimme Momente, aber sie erlebten erstmals auch die staatliche Anerkennung dessen, was man ihnen oder ihren Kindern, Eltern oder Geschwistern angetan hatte.

Das Buch „Kampf gegen Straflosigkeit – Argentiniens Militärs vor Gericht“ ist ein beeindruckendes Dokument über den zähen Kampf der argentinischen und internationalen Menschenrechtsbewegung um Wahrheit und Gerechtigkeit. Sein Autor Wolfgang Kaleck ist seit fast zwei Jahrzehnten an diesem Kampf beteiligt. Als Rechtsanwalt hat er mehrere Angehörige deutschstämmiger „Verschwundener“ vor hiesigen Gerichten vertreten, politisch hat er sich in der „Koalition gegen Straflosigkeit“ engagiert und heute ist er Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Diese Kombination von juristischem Sachverstand und politischer Kompetenz macht das Buch so spannend. Obwohl er immer als Jurist agiert hat und sich auch für die Weiterentwicklung der internationalen Gerichtsbarkeit bezüglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit engagiert, macht Wolfgang Kaleck immer wieder klar, dass es vor allem politischen Druckes bedarf, um Fortschritte in der Menschenrechtsarbeit zu erzielen. 

Wolfgang Kaleck: Kampf gegen die Straflosigkeit – Argentiniens Militärs vor Gericht, Wagenbach-Verlag, Berlin 2010, 128 Seiten, 10,90 Euro