ila

Schuluniformen und die Essenz des Wandels

Der schwierige Veränderungsprozess in El Salvador am Beispiel der Bildungspolitik

Der Plan heißt Plan Social Educativo 2009-2014 „Vamos a la Escuela“ und hat bei den Beteiligten gleichermaßen Wohlwollen wie Kritik hervorgerufen. Er soll das alte Schulsystem El Salvadors revolutionieren, auch wenn niemand dieses Wort verwendet. Denn „Revolution“ in den Zeiten des Cambio, des von Staatspräsident Mauricio Funes im Wahlkampf versprochenen sozialen Wandels, wirkt zu anspruchsvoll, zu weit von der Realität entfernt. Der erste sichtbare Schritt im Bildungsbereich ist die Verteilung von Schulutensilien, Schuluniformen und Turnschuhen für alle SchülerInnen der über 5000 öffentlichen Schulen. Ein Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zur Umsetzung des Verfassungsgedankens kostenloser Schulbildung.

Helene Kapolnek

Die Bildungsreform geht über Schulhefte und Turnschuhe weit hinaus. Eduardo Badía Serra, stellvertretender Erziehungsminister, sieht in dem Programm einen fundamental neuen Ansatz gegenüber dem „alten“ Bildungssystem. Die Ausgangslage schmerzt: „El Salvador ist im lateinamerikanischen Vergleich bei den letzten fünf angesiedelt.“ Der Plan für die Legislaturperiode 2010-2014 soll den Ansatz der Schulausbildung völlig verändern. Neben neuen Schulfächern wie Kunstunterricht und Wissenschaft/Technologie unternimmt das Ministerium den Versuch, das veraltete Schulsystem ins 21. Jahrhundert zu holen. „Unser derzeitiges System ist exzessiv verschult, moderne Pädagogik kommt überhaupt nicht zum Zuge. Wir brauchen einen neuen Zuschnitt für den Unterricht, der die Beziehung Lehrende – Lernende verändert, und nicht nur das, auch die Beziehung Schule – Gemeinde.“ 

Eduardo Badía, der im Krisenjahr 1979, dem letzten Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs, Rektor der staatlichen Universidad de El Salvador, UES, und später Berater der renommierten Universidad Tecnológica, UTEC, war, wünscht sich einen Unterricht, der die SchülerInnen nicht an der Realität vorbeiführt. Escuela de Tiempo Pleno nennt sich dies im Sprachgebrauch des Ministeriums: „(Das)heißt nicht, dass die Kinder länger im Klassenraum sitzen, im Gegenteil: Viel mehr Zeit soll auf andere Aktivitäten verwendet werden, Kunstunterricht, Kultur, Sport, Freizeit, die eigene Umgebung kennenzulernen, eine eigene Identität, Bewusstsein für die eigene Kultur zu entwickeln.“ 

Schwer zu verwirklichen, sagen die KritikerInnen, mit Blick auf beengte Schulen, SchülerInnen aus Elendsvierteln, Kinder, die arbeiten müssen und keine Zeit für Schule haben. Aber was wäre nicht schwer zu verwirklichen? Für Mario Paniagua von der Bildungsorganisation Cidep macht die neue Crew im Erziehungsministerium Ernst mit dem Menschenrecht auf Bildung für alle. Er vertritt die im Bildungsbereich tätigen sozialen Organisationen im Consejo Nacional de Educación, einem Gremium, das dem Ministerium beratend zur Seite steht. Die nachhaltige Alphabetisierungskampagne liegt Paniagua besonders am Herzen. Seine NRO hatte eine solche den vorhergehenden rechten MinisterInnen vorgeschlagen – ohne Gehör zu finden. Auch Mario López von der größten LehrerInnengewerkschaft des Landes, Bases Magisteriales, ist Mitglied des Rats. Der Gewerkschafter erinnert sich an die letzte „große“ Bildungsreform der rechten ARENA-Partei. Der Zehnjahresplan Plan Decenal 1995-2005 der damaligen Erziehungsministerin Cecilia Gallardo de Cano fiel so nachhaltig ins Wasser, dass López die Zeit als „das verlorene Jahrzehnt“ bezeichnet. Entsprechend optimistischer ist er, was die Reformen der neuen linken Regierung betrifft.
Als erste Schritte sollen die sieben Programme des Plans Vamos a la Escuela den Weg ebnen: das Paquete Escolar (Schulhefte, Stifte usw., Turnschuhe und Schuluniform), das Schulessen, das vorher nur in ländlichen und nun in allen Schulen ausgegeben wird, Infrastrukturmaßnahmen, das Programm Educación Inicial, die Integration behinderter Kinder, die Weiterbildung der LehrerInnen sowie eine landesweite Alphabetisierungskampagne. 

Die kniffligeren Aspekte der Reform werden in Pilotprojekten getestet, so die Integration behinderter SchülerInnen aus den Escuelas de Educación Especial in das allgemeine Schulsystem. Vorreiter Italien hat auf diesem Gebiet seine Unterstützung angeboten. Ebenfalls im Test ist das Programm der Educación Inicial, basierend auf dem System der Kinderkrippen. Den Kindern soll schon in den ersten persönlichkeitsprägenden Lebensjahren die Möglichkeit gegeben werden, sich in einer angemessenen Atmosphäre zu entwickeln. Ein weiteres Projekt, das vor kurzen in fünf Schulen gestartet worden ist, war die Ausgabe spezieller für den Schulunterricht ausgestatteter Laptops an SchülerInnen in Gebieten extremer Armut. Ziel dieses Pilotprojektes ist es, zu prüfen, wie Schulen in solchen Vierteln die neuen Ressourcen sinnvoll einsetzen können.

Politisch umstritten ist die Alphabetisierungskampagne, die das Ministerium in den nächsten vier Jahren durchführen will. Konzept und Begründung für die Kampagne sind einfach und einleuchtend. Immer noch sind mehr 16 Prozent der SalvadorianerInnen im Alter von 15-24 AnalphabetInnen, insgesamt fast 700 000 Menschen. Bis 2014 – bis dahin dauert die Legislaturperiode der Regierung Funes – soll dieser Prozentsatz auf drei Prozent reduziert werden. Die Kampagne sieht den Einsatz meist aus Schulen und Universitäten gewonnener Freiwilliger und die Zusammenarbeit mit pädagogischen Nichtregierungsorganisationen wie Cidep und CIAZO im Unterricht für diese Zielgruppe vor. Die NRO Cidep arbeitet in der Ausbildung der freiwilligen LehrerInnen. Mit ihrer Hilfe sollen etwa 70 000 Menschen noch in diesem Jahr lesen und schreiben lernen. 

Die Rechte, unter anderem der rechte Think tank FUSADES, argumentiert gegen die Kampagne, streitet deren Bedeutung ab. Kreative Journalistinnen, die gewohnt sind, jede linke Politik in El Salvador als kommunistische Unterwanderung zu denunzieren, beschwören gar das Gespenst der Kubanisierung. Und die ARENA-Abgeordnete Margarita Escobar weiß zu berichten: „Tatsächlich dient diese Kampagne dazu, die Leute ideologisch zu beeinflussen.“ Denn erklärtes Ziel der Kampagne ist es, das Prinzip der Solidarität zu fördern. 

In der Grundschule Las Colinas schart sich eine Gruppe Sieben- oder Achtjähriger um den Kunstlehrer. Rogelio Barrera erteilt Kunstunterricht im Vorstadtbezirk Mejicanos. Für die Kinder ist das etwas völlig Neues. Einfach nur Malen, was sie sich selbst so vorstellen? Vielen fehlt es an Konzentrationsfähigkeit. Geduld ist gefragt. Ein Teil der Kinder stammt aus Konfliktfamilien, den LehrerInnen mangelt es an Zeit, sich mit jedem Schicksal auseinanderzusetzen. Nicht das Ministerium bezahlt Rogelios Stunden, sondern die linke Stadtverwaltung des bevölkerungsreichen Municipios, das die innenstadtnahen Viertel Zacamil, Mejicanos und San Ramón umfasst. In den 70er Jahren entstanden hier engagierte soziale Projekte, stark beeinflusst durch die katholische Befreiungstheologie. Die Repression der Regierungsarmee kostete viele derjenigen, die sich engagierten, das Leben. Die Überlebenden gingen in die Guerillalager, ins Exil oder führten den Kampf in den Comandos Urbanos der FMLN-Organisationen im Herzen der Hauptstadt weiter. 1997 beendete die Bevölkerung von Mejicanos die kommunale Regierung der Rechten und wählte erstmals eine linke Gemeindeverwaltung. Für diese erteilt Rogelio auch Kunstunterricht im Jugendzentrum des Viertels Los Dolores und in der Sonderschule Escuela de Educación Especial de Mejicanos. Die SchülerInnen mit geistigen Behinderungen, deren Schule in einem alten Bürgerhaus untergebracht ist, sollten eine gemeinsame Fähigkeit haben – sie müssten wie die Eichhörnchen klettern können, denn das gemietete Gebäude ist über vier Ebenen voller steiler Eisentreppen und enger Durchgänge. Ihre vier Lehrerinnen wünschen sich vor allem eine angemessene Unterkunft für ihre etwa 100 Schutzbefohlenen, die täglich aus dem ganzen Großraum San Salvador zur Schule kommen. Doch bis es soweit ist, geht der Unterricht in der betagten Residenz in Mejicanos weiter. 

Generell ein Problem, mit dem sich die linke Regierung El Salvadors auseinandersetzen muss: Die Tatsache, dass die Bevölkerung sofort Abhilfe für ihre drängenden Probleme sehen möchte, und die ebenso wenig zu leugnende Tatsache, dass die Regierung dies nicht leisten kann, weil Finanzierung, Organisation und Erfahrung fehlen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ausgabe der Schulsachen und Kleidung an die SchülerInnen in einem neuen Licht, nicht mehr als Kleinigkeit. Ein Ministerium, das bis Juni 2009 die Funktion hatte, die Armut zu verwalten, zu einem Dienstleister der Bevölkerung umzufunktionieren, ist eine nicht zu unterschätzende Leistung. Dr. Badía Serra fasst die Arbeit zusammen, die für die Ausgabe der Paquetes Escolares in nur fünf Monaten geleistet werden musste: „Von der Beschaffung der Finanzierung, der statistischen Erhebung der SchülerInnen von der Grundschule bis zum 9. Schuljahr und der Ermittlung der Konfektions- und Schuhgrößen der Kinder muss alles organisiert werden. Die Produktionskapazitäten des Landes für Stoff und Schuhwerk müssen bekannt sein. Dasselbe auch für Schulhefte, Stifte usw. Etwa sechs Millionen Meter Stoff, 1,35 Millionen Schuhe, 1,35 Millionen Paquetes Escolares, etwa zehn Millionen Hefte, Stifte, Radiergummis, Spitzer. Die Schuluniformen mussten genäht werden, die Schuhe hergestellt werden.“ 

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Plans Vamos a la Escuela ist die Förderung von kleinen Handwerksbetrieben und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Grundmaterialien wie der Stoff und das Material für die Turnschuhe wurden in vier großen Betrieben in El Salvador hergestellt, da diese die Möglichkeiten hatten, das Gewünschte zu liefern. Die Konfektionierung lag jedoch in den Händen unzähliger kleiner Handwerks- und Familienbetriebe im ganzen Land. Allerdings war es Aufgabe der Schulen selbst, geeignete Betriebe ausfindig zu machen und unter Vertrag zu nehmen. Diese zusätzliche Arbeit wurde in den Schulen, die ohnehin schon unter Lehrkräftemangel leiden, nicht sehr positiv aufgenommen. Ein mittleres Chaos hingegen rief die Methode in den großen Schulen hervor. Denn dort konnten die Rektoren zwar Entscheidungen treffen, wer etwa die Uniformen nähen sollte, hingegen hängte sich das ganze System an der Tatsache auf, dass in großen Schulen auch große Ausgaben anfallen und diese ab einer bestimmten Größenordnung den Dienstweg durch die Genehmigungsstufen des Ministeriums nehmen mussten, was zu einer erheblichen Verzögerung des Projekts führte. Anlaufschwierigkeiten, aus denen das Ministerium lernen will. Nicht nur, weil Bildung die Grundlage einer funktionsfähigen zivilen Gesellschaft ist, ist die Bildungsreform in El Salvador wesentlich. Sie repräsentiert auch ein Ministerium, das sich in der Beweislast sieht, linke Politik durchzusetzen, schon im Hinblick auf den hohen Rang des Ministers Salvador Sánchez Cerén innerhalb der Regierung und in der FMLN. Der ehemalige Guerrillakommandant und Lehrer ist gleichzeitig Vize-Präsident des Landes. Und es sind die Erfolge der Regierung, die bewertet werden. Für eine verlorene Wahl kann schon ein „gefühlter“ Misserfolg der Regierung in den Augen der WählerInnen ausschlaggebend sein. 

Die Zukunft der Bildungsreform hängt an der Fähigkeit der derzeitigen Regierung, Geschlossenheit zu wahren. Nicht einfach – denn das Bündnis aus der linken FMLN und dem „gemäßigten“ Präsidenten Mauricio Funes stolpert, begleitet vom Chor linker und rechter „kritischer“ Medien, von einer Krise in die nächste. Dass Mauricio „Angst vor der Rechten hat“, wie es häufig von radikalen Linken propagiert wird, spräche eher für den gesunden Menschenverstand des Präsidenten. Eine Rechte, die einen Bürgerkrieg mit mehr als 80 000 Opfern zu verantworten hat, flößt nicht grundlos Angst ein. Hingegen gibt es Anlass zu der Befürchtung, dass Funes nicht vorsichtig genug ist beim Umgang mit der Rechten. Verschiedene Male griff er auf die Unterstützung der von ARENA-Aussteigern neu gegründeten rechten Partei GANA, Gran Alianza de Unidad Nacional, zurück, um seine Positionen als Präsident im Parlament durchzusetzen, auch gegen den Willen der verbündeten FMLN. Die Gründung der politischen Bewegung Movimiento Ciudadano por el Cambio durch Funes im Mai 2010 zeigt jedoch, dass man sich der Auswirkungen einer solchen Politik auf die Bevölkerung bewusst ist. Ein unabhängiger Präsident, der sich durch die Rechte gegen seine eigenen Verbündeten helfen lässt, macht sich auf Dauer bei den WählerInnen verdächtig und brächte sich selbst in die Lage, eine Entscheidung treffen zu müssen. 

Die Gründung des Movimiento Ciudadano por el Cambio ist deshalb nicht unbedingt als Schritt zum Bruch zu werten, sondern ebenso gut als Versuch, das Bündnis weiterhin regierungsfähig zu halten. Ein wesentlicher Punkt bei der Bewertung der Regierungsfähigkeit Funes/FMLN wird künftig die Wirtschaftspolitik sein. Die Unwilligkeit von Funes, sich stärker an die Länder des „linken“ Südens anzuschließen, wird zwischen der FMLN und Funes weiterhin zu Konflikten führen. Die FMLN befürwortet diesen Kurs, da sie sich von den linken Regierungen Südamerikas finanzielle Unterstützung und Unabhängigkeit von den USA verspricht. Diese versuchen derzeit, sich mit neuen Handelspartnern wie China, Indien, Russland als alternative Wirtschaftsmacht zu den USA und Europa zu positionieren. Mauricio Funes steht dieser Alternative eher ablehnend gegenüber und befürchtet offensichtlich eine Einbeziehung El Salvadors in den Machtkampf dieser Länder mit den USA, der mit harten Bandagen geführt wird. Beide Positionen haben ihre Berechtigung. Wichtig für das Gelingen des linken Projekts in El Salvador wäre es, einen Mittelweg zu finden, der weniger Machtansprüche von Seiten der Bündnispartner zur Grundlage haben sollte, sondern die Interessen der Bevölkerung. Etwa im Agrarbereich, wo die zahllosen kleinen Kooperativen immer noch keine grundsätzliche Agrarreform, dafür aber das Dahinschwinden ihrer internationalen Finanzierung erleben. Linke Politik führt in diesem Bereich nicht an neuen Kooperationen, auch solchen mit dem Süden Lateinamerikas und der Karibik, vorbei. Wenn die Regierung FMLN/Funes diese Belastungsprobe zwischen revolutionärer Politik und Überlebenskunst aushält, gibt es gute Chance auf einen echten Wandel in El Salvador.