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Null Pferdekarren

Uruguay: Immer wieder Ärger mit dem Müll

Für TouristInnen, die zum ersten Mal durch Montevideo schlendern, sind sie ein pittoreskes Fotomotiv: die Pferdekarren im innerstädtischen Straßenverkehr der uruguayischen Hauptstadt. Gut, die Menschen auf den mit Papp- oder Plastikflaschenbergen beladenen Holzkarren sind ärmlich gekleidet, viele Zähne haben sie auch nicht mehr im Mund und insgesamt sind sie dunkelhäutiger als die anderen UruguayerInnen, die sich im Stadtzentrum bewegen. Was für die einen Motiv für einen elendsromantischen Schnappschuss ist, ist für die anderen Gegenstand jahrzehntelanger Polemik. Die carritos, wie sie ein wenig von oben herab genannt werden, verschmutzen die Stadt und behindern den Straßenverkehr, sagen die einen. Die anderen, für die eben diese carritos Produktionsmittel und Überlebenshilfe zugleich sind, wehren sich gegen Verfolgung, Diskriminierung und Konfiszierung. Im Folgenden einige Auszüge aus dieser nimmer enden wollenden Geschichte, die selbst unter progressiven Frente-Amplio-Stadtregierungen noch zu keinem glücklichen Ende oder wenigstens einer besseren Wendung finden konnte.

Britt Weyde

Auch im kleinen Land am Río de la Plata steigt das Müllaufkommen, doch es ist nach wie vor auf einem vergleichsweise geringen Niveau: zwischen 0,8 und einem Kilogramm pro Person und Tag (zum Vergleich: in Deutschland sind es laut Statistischem Bundesamt etwa 1,24 Kilogramm pro Person und Tag). Der informelle Müllsektor ist der größte „Arbeitgeber“ in Uruguay, die Zahlen schwanken zwischen 11 000 und 15 000 MüllsammlerInnen im ganzen Land. Wurden sie früher abschätzig hurgadores genannt (hurgar bedeutet herumstochern, wühlen, schnüffeln), so hat sich heute im Großen und Ganzen die neutrale Bezeichnung clasificadores durchgesetzt, auch wenn einige Kreise immer noch den alten, an das Tierreich gemahnenden Begriff bemühen.

Unter den autoritären Machthabern der Militärdiktatur der 1970er Jahre wurden die Aktivitäten der MüllsammlerInnen verfolgt und verboten. Zunächst durften sie nicht mehr auf den kommunalen Müllkippen sammeln, so dass sie ihre Arbeit verlagerten: Sie suchten nach Wertstoffen, bevor sie auf die Müllkippen gelangten, und fuhren mit ihren Pferdekarren in die Stadt, durchsuchten den Müll, nachdem er von den BewohnerInnen auf der Straße deponiert und bevor er von den Müllwagen eingesammelt wurde. Ende der 1970er Jahre führte die Militärdiktatur eine statistische Erhebung der clasificadores durch und begann dann ihre Arbeitsmittel – Karren und Pferde – zu konfiszieren. 

Mit der Rückkehr der Demokratie und dem Beginn der neoliberalen Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche wurde Ende der 1980er Jahre die Abfallentsorgung in Montevideo privatisiert. Damit einher ging das Verbot, in bestimmten innerstädtischen Zonen Müll zu sammeln; vor allem die Pferdekarren waren der Stadtverwaltung und den besser gestellten BürgerInnen mal wieder ein Dorn im Auge – als Sinnbild für die Armut im Land, die man doch so gerne aus dem eigenen Blickfeld entfernen würde. Aus Protest gegen das „Innenstadtverbot“ kam es zur ersten Demonstration der MüllsammerInnen, die sich mit ihrer Forderung nach einer Aufhebung des Verbots durchsetzen konnten.

Ende der 1990er Jahre wurde in Montevideo ein Container-System eingeführt, wobei die Container und die entsprechenden LKWs für die Abholung aus Italien stammen. Diese Container haben die Arbeit der clasificadores ungemein verkompliziert. Um den Müll zu sichten und zu sammeln, müssen sie in die – recht hohen – Container hineinklettern. Abgesehen von der Würdelosigkeit dieses Vorgangs besteht das Problem, dass häufig Kinder für diese Kletteraktionen eingesetzt werden, weil sie sich aufgrund ihrer geringen Körpergröße besser im Container bewegen können. 

Seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2002 ist die Zahl der UruguayerInnen, die im Müll ein Einkommen suchen, sprunghaft angestiegen; die Anzahl der carritos hat sich beinahe verdoppelt (in den letzten Jahren ist sie allerdings wieder leicht zurückgegangen). Unter den Neuhinzugekommenen seit 2002 gibt es einige, die sich nicht an die allgemeinen Regeln halten, sie lassen Müll um die Sammelcontainer herum liegen, respektieren nicht die Abmachungen zwischen Stadtverwaltung und clasificadores. Einige verkaufen sogar Drogen von den Containern aus. Doch letztlich handelt es sich dabei nur um eine Minderheit. Durch die Krise sind auch ehemalige ArbeiterInnen zu clasificadores geworden, was als positiv für die Organisierung der MüllsammlerInnen eingeschätzt wird – schließlich kommen sie unter Umständen aus Betrieben mit gewerkschaftlicher Vertretung und können so dem verbreiteten Individualismus unter den clasificadores etwas entgegensetzen. Im April 2002, also mitten in der Wirtschaftskrise, gründete sich die MüllsammlerInnen-Gewerkschaft UCRUS (Unión de Clasificadores de Residuos Urbanos Sólidos), die 2004 auch in den Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT aufgenommen wurde.

UCRUS hält die Verbindung zur Stadtverwaltung aufrecht und versucht klare Abmachungen auszuhandeln. Dabei vertritt sie die Interessen aller clasificadores, vor allem gegenüber einigen Beamten und Polizisten, die immer wieder die carritos durchsuchen und beschlagnahmen. Einige MüllsammlerInnen haben in Montevideo die Erlaubnis, in von der Stadt bereitgestellten Gebäuden den Müll zu sortieren. Doch auch mit der Frente Amplio regierten Stadtverwaltung hat es Konflikte gegeben, weil sie ihre Versprechungen zur Bereitstellung von Infrastruktur nicht erfüllt hat und vor allem wegen der Verfolgung und Konfiszierung der carritos: Sie würden nicht den Sicherheitsauflagen entsprechen und keine Kennzeichnung tragen, so das Argument der Stadt. So zogen im Februar und März 2008 die MüllsammlerInnen samt ihrer carritos wieder einmal ins Zentrum und verlangten die konfiszierten Arbeitsmittel zurück, forderten Respekt sowie die Anerkennung ihrer Arbeit. Seitdem werden keine carritos mehr beschlagnahmt. 

Zurzeit gibt es eine kleine Gruppe – drei clasificadores (für mehr reichte das Geld nicht aus) – die als „Umweltwächter“ arbeiten und versuchen, StadtbewohnerInnen und clasificadores zu erziehen, damit alles schön sauber bleibt. UCRUS hat die Gründung von Kooperativen bzw. Arbeitskollektiven vorangetrieben, um die ArbeiterInnen zusammen zu bringen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern sowie ihre Verhandlungsposition gegenüber den Käufern der gesammelten Wertstoffe, die letztlich ihre eigentlichen und direkten Ausbeuter sind. 

In Montevideo gibt es einige Gebäude, die von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt worden sind und die eine Art von Vorstufe einer Recycling-Fabrik darstellen, doch es fehlt noch an Vielem: Es gibt keine maschinelle Entladestation, kein Laufband, an dem sortiert werden könnte, und auch kaum sonstige Infrastruktur. Auf Zementplattformen können die clasificadores zumindest besser als auf dem Boden oder zuhause arbeiten; außerdem gibt es einen Lagerraum, Toiletten sowie einen Aufenthaltsraum. Probleme hat es auch mit einigen Nichtregierungsorganisationen gegeben und sogar mit dem Ministerium für Soziale Entwicklung (MIDES): Die Gründung von Kooperativen wurde von dieser Seite zwar vorangetrieben, jedoch außerhalb der Gewerkschaft UCRUS, was dort auf wenig Gegenliebe stieß. Bei der Nichtregierungsorganisation stellte sich auch noch ein anderes Problem heraus, da die NRO die clasificadores letztlich ausbeutete und sich nicht an die ausgemachte Bezahlung hielt. 

Mit der letzten Weltwirtschaftskrise sind die Preise für „Sekundärrohstoffe“, wie die gesammelten Wertstoffe im EZ-Jargon heißen, in den Keller gegangen, so dass es sich zwischenzeitlich für die clasificadores gar nicht mehr lohnte, nach Wertstoffen zu suchen. Heutzutage sammeln die clasificadores in der uruguayischen Hauptstadt täglich etwa 400 Tonnen Müll, das sind ca. 40 Prozent des gesamten Müllaufkommens der Stadt. Ihre Arbeit ist für die meisten MitbürgerInnen unsichtbar bzw. wird im Allgemeinen nicht als „Arbeit“ wahrgenommen. Aber wehe, es liegen aufgerissene Mülltüten neben den Containern (was eher die Ausnahme als die Regel ist)! Dann ist die Aufregung schnell groß. 

Der konservative Kanditat für den Bürgermeisterposten Montevideos bei den Kommunal- und Landtagswahlen im Mai 2010, Javier de Haedo von der Partido Blanco, stellte im März 2010 seinen Plan vor, wie die carritos endgültig aus dem Stadtbild zu entfernen seien: Ein Teil der MüllsammlerInnen solle an Fortbildungskursen im Rahmen eines Wiedereingliederungsplanes des Arbeitsministeriums teilnehmen; ein anderer Teil der clasificadores solle einen einmaligen Betrag erhalten, wenn sie ihre Karren und Pferde bei der Verwaltung abliefern, um dann bei privaten Abfallwirtschaftsfirmen eingestellt zu werden und „unter würdigen und sicheren Arbeitsbedingungen“ zu arbeiten. Nach zwei Jahren solle dann ein komplettes und endgültiges Verbot für die carritos gelten. In der Frente-Amplio-Hochburg Montevideo konnte sich der Blanco-Kandidat wie erwartet nicht durchsetzen, doch mit den carritos sprach er ein Thema an, das die Bevölkerung schon immer polarisiert hat. In Montevideo gibt es genügend Leute, die sich über die MüllsammlerInnen erregen und gar Videos mit ihrem Mobiltelefon drehen, um sie dann auf Videoplattformen wie Youtube hochzuladen – unter dem Titel „Montevideo Caos“. Oder auch die Aufregung selbsternannter „Tierschützer“, die sich darüber empören, wie die armen Pferde im Straßenverkehr ackern müssen. Insofern gehen dann die Beschlagnahmungen auch in Ordnung. Tierrechte hin, Menschenrechte her, das Thema sorgt nach wie vor für heftige Diskussionen. 

Anfang Mai 2010, im Vorfeld der Kommunalwahlen, hat die UCRUS verstärkt gegen die Privatisierung der Abfallwirtschaft mobilisiert und vor der Müllkippe Usina 5 demonstriert. Auf der städtischen Deponie am Stadtrand von Montevideo laden durchschnittlich 550 LKWs pro Tag etwa 2000 Tonnen Müll aus der Großstadt und den umliegenden Bezirken ab. Die Stadtverwaltung sieht eine Privatisierung der Deponie vor und hatte bereits eine Ausschreibung gestartet, die vorerst jedoch nicht umgesetzt wurde. Néstor Campal, Direktor der städtischen Umweltbehörde, hatte 2008 diesbezüglich erklärt: „Die Privatisierung ist eine Forderung der Interamerikanischen Entwicklungsbank“. 

Die Stadtverwaltung von Montevideo hat der UCRUS auf dem Gelände der Usina 5 ein kleines Terrain zur Verfügung gestellt, auf der die clasificadores ihrer Arbeit nachgehen können. Ob sie unter denselben Bedingungen weiter arbeiten können, wenn die Deponie erst privatisiert ist, ist eine der Fragen, die die MüllsammlerInnen beunruhigt. Mitte Mai haben dann AnwohnerInnen der Mülkippe Cañada Grande im Departement Canelones (das an Montevideo angrenzt) die Zufahrt zur dortigen Deponie blockiert. Damit protestierten sie gegen die Regierungspläne, eine Mega-Müllkippe auf dem Gelände einzurichten. Die Rechnung der Regierung, dass es in einem dünn besiedelten Land wie Uruguay keinen nennenswerten Widerstand geben würde, scheint nicht aufzugehen. Vor allem die clasificadores kämpfen um ihre Arbeitsplätze und fordern bessere Arbeitsbedingungen und ein Ende der Diskriminierung. Und sie setzen sich für ein Recyclingsystem ein, das sie als Profis auf diesem Gebiet einbindet. Was dann aus den Pferden wird, steht auf einem anderen Blatt.

Quellen: Jennifer Piazza, Imagínate un mundo sin recicladores, Montevideo 2010; Raúl Zibechi, Trabajar con la basura: el cambio social desde los márgenes, upsidedownworld August 2008; verschiedene Dokumente von UCRUS und Jorge Ramada (PIT-CNT); www.basurama.org;www.cempre.org.uy