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Ein faszinierender Geschichtenerzähler

Antonio Dal Masetto (*1938) gelingt es meisterhaft, seine LeserInnen zu fesseln

Zu den wirklich großen zeitgenössischen Erzählern Argentiniens gehört Antonio Dal Masetto. Er ist zugleich einer der produktivsten Autoren des Landes. An die 20 Bücher hat er seit den 60er Jahren veröffentlicht. Fünf seiner Romane wurden bislang ins Deutsche übersetzt, die alle in den letzten vier Jahren im Zürcher Rotpunktverlag erschienen sind.

Klaus Jetz

Dal Masetto wurde 1938 in Intra am Lago Maggiore geboren. Die Eltern waren arme Bauersleute, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien auswanderten, wo sie sich in Salto, in der Provinz Buenos Aires, niederließen. Der junge Antonio lernte schnell Spanisch, obwohl er sich zunächst in seiner neuen Umgebung unwohl und verstoßen fühlte. Er war ein fleißiger Besucher der Dorfbibliothek; durch die Bücher, so sagt er, lernte er die neue Muttersprache. Mit 18 ging er nach Buenos Aires, wo er als Maurer, Maler, Eisverkäufer und später als Angestellter und Journalist arbeitete. 1964 erschien Dal Masettos erster Erzählband. Bald wurden seine Werke mit argentinischen Literaturpreisen bedacht und auch in andere Sprachen übersetzt, einige seiner Romane wurden in Argentinien verfilmt. 

Dal Masetto sagte einmal von sich, er sei nicht nur Schriftsteller, sondern auch Spion, ein escritor-espía, ein Jäger und Sammler, der, ob in der Bar oder bei der Zeitungslektüre, immer auf der Jagd sei nach einer guten Story, einem außergewöhnlichen Ereignis oder unglaublichen Gerücht, das das Zeug hat für einen spannenden Roman. Immer sei er auf der Suche, nehme Witterung auf und folge der Fährte von Stoffen und Zutaten, die das Leben liefert und die er bei passender Gelegenheit wieder auskramen, neu zusammenstellen und zu einer eigenen Komposition verarbeiten könne.

Dies trifft sicherlich auf seine Bosque-Romane („Noch eine Nacht“ und „Blut und Spiele“, beide 2006) zu. Der argentinischen Presse verriet Dal Masetto, der Stoff für „Noch eine Nacht“ basiere auf einer Zeitungsnotiz, die ihm in den 50er Jahren aufgefallen sei. Immer wieder habe er darauf basierend in folgenden Jahren und Jahrzehnten Szenen, Dialoge, Charaktere entworfen, hingekritzelt auf losen Zetteln, die er dann eines Tages ordnete und zu einem Roman zusammenfügte.

Und dieser in seinem Aufbau perfekte Roman hat es in sich. Die spannende Handlung, drehbuchreife Dialoge und eine überzeugende Entwicklung der Charaktere lassen den Leser und die Leserin nicht mehr los und fesseln sie bis zum letzten Kapitel. Die Romanhandlung wurde auch verfilmt: Vier Männer kommen in das verschlafene Nest Bosque (Wald), um eine Bank auszurauben. Das gelingt ihnen auch, doch dann erwacht das Dorf wie aus einem langen Mittagsschlaf. Die Dörfler beginnen eine kollektive Hetzjagd und bringen die Bankräuber schließlich einen nach dem anderen in einer wahren Orgie der Gewalt zur Strecke. 
Abgründe tun sich auf: Der Leser erhält zahlreiche Einblicke in die scheinheilige Doppelmoral der vermeintlich intakten dörflichen Gemeinschaft. Das eigentliche Thema des Romans ist jene zügellose Gewaltbereitschaft scheinbar normaler Leute, die latente Mordlust, die nur eines kleinen Anstoßes von außen bedarf, um mit aller Gewalt auszubrechen, bevor die in Mörder verwandelten Bürger wieder in aller Seelenruhe zu ihrem Alltag zurückkehren, als sei nichts geschehen. 

Das Buch „Blut und Spiele“ ist sozusagen die Fortsetzung des ersten Bosque-Romans. Die LeserInnen kehren zurück in jenes argentinische Twin Peaks1, und noch einmal geht es um die grausame kollektive Treibjagd. Im Wartezimmer seines Zahnarztes in Buenos Aires liest Muto in einem Revolverblatt einen Bericht über die Ereignisse und entdeckt den Namen eines alten Bekannten, eines der getöteten Bankräuber. Muto muss unbedingt nach Bosque. Dort präsentiert er sich als Drehbuchautor und behauptet, die Ereignisse von Bosque sollten verfilmt werden, viele der Dorfbewohner sollten als Laienschauspieler engagiert werden. Auch in „Blut und Spiele“ kommt es zu grausamen Mordfällen, Intrigen werden gesponnen, wieder findet ein Bankraub statt. Und wieder werden die LeserInnen in die Irre geführt, gefesselt und erst durch eine überraschende Auflösung der Geschehnisse wieder in den Alltag entlassen. Der Autor legt neue Fährten für weitere Handlungsstränge, an denen weiter gesponnen werden kann, der Roman schreit geradezu nach einer Fortsetzung. 

Die Handlung von „Unten sind ein paar Typen“ (2007) spielt nicht in der argentinischen Provinz, sondern in Buenos Aires am Vorabend des Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft von 1978 (Argentinien gegen die Niederlande), auf dem Höhepunkt der brutalen Militärdiktatur Videlas. Wir erinnern uns, dass in Deutschland damals über eine Teilnahme an der WM diskutiert wurde, während in Argentinien unzählige Menschen gefoltert, ermordet, Opfer aus Flugzeugen in den Atlantik geworfen oder an geheimen Orten verscharrt wurden. 

Vor Pablos Haus stehen „ein Paar Typen“ und scheinen etwas oder jemanden zu observieren. Pablo ist Journalist, ein vermeintlich unpolitischer Kolumnist, und meint, er habe nichts zu befürchten. Erst allmählich wird dem Protagonisten klar, dass die Observierung ihm gilt, dass die „Typen“ ihn auszuspionieren scheinen. Nach und nach verliert Pablo seine Freunde, ehemals gute Bekannte distanzieren sich von ihm, wollen plötzlich nichts mehr von ihm wissen. Von Kapitel zu Kapitel steigern sich die Spannung und die Bedrohung, wirken die argentinische Hauptstadt und ihre aufgeputschte Atmosphäre beängstigender und beklemmender auf Pablo und seine Freundin Ana. Und der Leser leidet mit. 

Dal Masetto schildert eine äußerst bedrohliche und beklemmende Atmosphäre, immer wieder gibt er Hinweise auf den überall im Land herrschenden Terror. An Stränden tauchen Leichen auf, die das Meer anschwemmt. Der Autor schildert klassische Szenen aus einer Militärdiktatur, wie überfallartige Razzien, willkürliche Festnahmen und Nacht- und Nebelaktionen. Der Roman kann als Parabel der totalitären Herrschaft, als Gleichnis für die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der omnipräsenten, alles beherrschenden Macht gelesen werden.

Die Emigranten-Romane „Als wäre alles erst gestern gewesen“ (2008) und „Als wärs ein fremdes Land“ (2009) weisen autobiografische Elemente auf. Es handelt sich um historische und dokumentarische Romane, Memoiren- oder Zeugnisliteratur. Die Handlung ist jeweils in Italien angesiedelt, in der Zeit vor, zwischen und nach den beiden Weltkriegen bzw. in den 90er Jahren.

Der erste Roman thematisiert als tragisches Familienepos das miserable Leben armer Bergbauern und Fabrikarbeiter rund um den Lago Maggiore, die den politischen Ereignissen, dem erstarkenden Faschismus und der zunehmenden politischen Gewalt hilflos gegenüberstehen. Die Protagonistin Agata und ihre Familie wandern schließlich Anfang der 50er Jahre nach Argentinien aus. Die 80jährige Agata, Vorbild war wohl Dal Masettos Mutter, erzählt von den ärmlichen Verhältnissen in ihrer Kindheit und Jugend. Als wäre alles erst gestern gewesen, erinnert sie sich genau an die Verhältnisse im Italien der 20er Jahre zu Beginn des Faschismus, an die Arbeitskämpfe in den Textilfabriken sowie an die prügelnden Schwarzhemden, die nach und nach die Macht an sich reißen, im Sold der Fabrikbesitzer stehen und Streiks niederknüppeln. 

Agata erzählt von der Wirtschaftskrise, vom Krieg und von den jungen Männern, die nach Abessinien, Albanien und Spanien ziehen und oft nicht zurückkehren. Sie schildert den Terror und die Razzien der faschistischen Schergen, den bald einsetzenden Bombenterror aus der Luft, das Ende des Regimes und die um Mussolinis Tod kreisenden Gerüchte. Auch die Erzählungen über die vielen Erschießungen und Massaker, den Widerstand der Partisanen, die nachts von den Bergen herabsteigen und sich Schießereien mit den Faschis-ten und bald auch den deutschen Besatzern liefern, die Berichte über die Erfolge der nach Norden vorrückenden Alliierten kommen nicht zu kurz. 

Agata berichtet aber auch Persönliches und Privates. Sie beschreibt das genügsame, mühevolle Leben der Bergbauern und die Not der Eltern, sie erzählt von Krankheiten und Todesfällen im Dorf und in der Familie, erinnert sich an die Zeit im katholischen Mädcheninternat, an Kinderstreiche und ihre erste Liebe. Der Roman liefert zudem eindringliche Beschreibungen der großartigen Landschaft am Fuß der italienischen Alpen, rund um die großen Seen, eine Idylle aus einer längst vergangenen Welt, ein vermeintliches Paradies, das durch Faschismus und Krieg zugrunde gerichtet wird und einen seltsamen Kontrast zu dieser von Menschenhand geschaffenen Apokalypse darstellt.

Die kleinstädtischen Szenen spielen in Tarni, doch das wird man vergeblich auf der Landkarte suchen, denn hinter dem Anagramm verbirgt sich Dal Masettos Geburtsort Intra. Dal Masetto lässt seine Mutter berichten, er reicht all die Erlebnisse und Erzählungen, die er sicherlich unzählige Male von ihr gehört hat, an die Leserinnen und Leser weiter. Berichte von Familienangehörigen, Dinge, die Dal Masetto in Büchern gelesen hat, und eigene Erinnerungen sowie Erzählungen der riesigen italienischen Emigrantengemeinde am Río de la Plata flossen in den Roman ein. 

Etwas Mythisch-Episches haftet diesem Ort an, und die neue Heimat Argentinien hat die Erinnerung an das Herkunftsland nicht überlagert. In „Als wärs ein fremdes Land“ kehrt die 80jährige Agata zurück in die alte Heimat, die sie noch einmal sehen will. „Ich fahre nach Italien“, teilt sie eines Tages lapidar der verblüfften Familie mit. Die Idee kommt ihr morgens im Bett, gleich nachdem sie die Augen aufgeschlagen hat. Doch sie weiß auch, dass der Wunsch über Jahre in ihr herangereift ist.

Die Reise will gut geplant sein, zahlreiche Vorbereitungen sind zu treffen. Die Enkel sind begeistert von Agatas Idee, allein ihre Tochter und deren Mann versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. „Was planen? Sie ist achtzig Jahre alt, was gibt es da zu planen?“, lässt sich der Schwiegersohn Julio vernehmen.
Trotz guter Vorbereitungen und Planungen gibt es Pannen. Am Flughafen in Rom werden ihr die Papiere gestohlen, die Familie ihrer Nichte, bei der sie wohnen will, erweist sich als nicht allzu gastfreundlich. Agata wird in Italien mit einer völlig neuen Wirklichkeit konfrontiert. Zwar erinnert manches noch an früher, an die Zeit nach dem Krieg, als Agata Italien verließ. Doch sie findet natürlich ein neues, modernes Land vor, das mit dem Land ihrer Jugend nicht mehr viel zu tun hat. Ihre Freundinnen und Bekannten sind alt, sie schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen. Heute sind sie nur noch stumme Zeugen, teilnahmslose Betrachter von Vorgängen und Haltungen, die Dal Masetto schonungslos offenlegt und die zum gegenwärtigen Italien des Cavaliere Berlusconi gehören: Rassistische Übergriffe gegen afrikanische Einwanderer sind salonfähig, ebenso wie korrupte Lokalpolitiker, skrupellose Baulöwen und Bodenspekulanten.

Agata aber lebt in der Vergangenheit, sie begibt sich auf die Suche nach dem, was sie verloren hat. Silvana, die Enkelin ihrer alten Jugendfreundin, führt sie durch den heutigen Ort, fährt sie durch die Gegend und hilft ihr, sich zwischen all den Erinnerungen und neuen Eindrücken zurechtzufinden. Sie ist Agatas Verbindung in die Gegenwart, ins heutige Italien, und Agata ist Silvanas Brücke in die Vergangenheit, die ihr hilft, ihre Heimat mit den Augen Agatas neu zu erkunden. „Es waren Orte, an denen sie schon hundertmal gewesen war, Dinge, die sie seit ihrer Geburt kannte, und jetzt war es, als sähe sie sie zum ersten Mal.“

Agatas Spaziergänge durch Tarni haben etwas von einer allmählichen Wiedereroberung. „Der Moment kam, in dem es war, als wäre sie nie fortgewesen, und sie vergaß, dass es weit weg einen Ort, ein Haus, eine Familie gab, die sie erwarteten.“ Nach und nach erobert sie sich den Ort ihrer Kindheit zurück: die Bäckerei, ihr altes Elternhaus, das Internat, die Spielstätten ihrer Kindheit, die Orte, an denen Massaker stattfanden, die alte Schiffsanlegestelle am See. Manches ist für immer verloren, eben so, „als wär's ein fremdes Land“. Andernorts tauchen alte Erinnerungen auf, und dann wieder hat sie das Gefühl, sie wäre nie fort gewesen. Immer wieder nimmt sie Abschied. In dem Bewusstsein, alles zum letzten Mal zu sehen, sieht sie sich aufmerksam um, will alles in sich aufnehmen, speichern, um später, wieder in Argentinien, „die Heimat, die sie zum zweiten Mal verloren hatte, wieder zum Leben zu erwecken.“ 

Die beiden EmigrantInnenromane lesen sich wie ein Werk, zwei Teile eines Romans, eine Fortsetzungsgeschichte. Sie verleihen dem kollektiven Gedächtnis der italienischen Einwanderung in Argentinien Ausdruck. Dal Masetto hat ihr ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt.

Antonio Dal Masetto in deutscher Übersetzung:

Noch eine Nacht, Rotpunktverlag, Zürich 2006, 268 Seiten, 22 Euro.
Blut und Spiele, Rotpunktverlag, Zürich 2006, 230 S., 22 Euro.
Unten sind ein paar Typen, Rotpunktverlag, Zürich 2007, 146 S., 16 Euro.
Als wäre alles erst gestern gewesen, Rotpunktverlag, Zürich 2008, 260 S., 21,50 Euro.
Als wärs ein fremdes Land, Rotpunktverlag, Zürich 2009, 294 S., 21,50 Euro.
Alle Titel wurden von Susanna Mende übersetzt.
„Noch eine Nacht“ und „Blut und Spiele“ sind inzwischen auch als Suhrkamp-Taschenbücher erhältlich.

  • 1. Twin Peaks – Mysterienkriminalserie von David Lynch (1992) mit Kultstatus und großer Fangemeinde