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Sephardische Liebesgeschichte

Buchbesprechung
Ute Evers

Dass Liebesgeschichten in der Literatur grundsätzlich tragisch enden, ist Voraussetzung für ihre Verschriftlichung. Literatur kann von dieser Form von Tragik nicht lassen, wie auch der jüngst auf Deutsch erschienene Roman „Mindeles Liebe“ des sephardisch-kolumbianischen Schriftstellers Memo Anjel zeigt. Wobei Liebe in der Literatur immer eine zumindest untergeordnete Rolle spielt. Was wären etwa die Kriminalfälle um den cubanischen Teniente Mario Conde, gäbe es seine Liebesgeschichten nicht? Oder was würde aus „Der Herr Präsident“, wenn sich hinter den Grausamkeiten des guatemaltekischen Präsidenten nicht die Romanze zwischen Cara de Angel und Camila entwickeln würde? Indes, die Liebesgeschichte des 1954 in Medellín geborenen Memo Anjel findet weder vor einem kriminalistischen noch diktatorischen Hintergrund statt.

Die literarische Kulisse ist die unmittelbare Umgebung einer sephardischen Großfamilie in Prado, einem jüdischen Viertel inmitten Medellíns. Wir schreiben das Jahr 1955. Die elfköpfige Familie, die Köchin Zoila inbegriffen, kehrt von ihrer langersehnten Jerusalemreise zurück und bereitet sich auf das nächste große Ereignis vor: Mindele, die jüngste Tochter der wohlhabenden Witwe aus der Nachbarschaft, wird Reuvén Toledo heiraten, den besten Freund des Oberhaupts der Großfamilie.

Eine unerwartete, leidenschaftliche Liebesgeschichte? Weit gefehlt! Mindele und Reuvén waren „aus geheimnisvollen Gründen immer schon im Himmel vereint gewesen.“ Denn „vom Moment unserer Geburt an sucht unser Stern bekanntlich nach einem anderen Stern, der ihn ergänzt oder zerstört.“ Dieser Satz stammt von Chaim, der Onkel mütterlicherseits, der mit Rivka verheiratet ist, der ältesten Tochter der Witwe. Für den Nachsatz erntet Chaim von seiner Frau einen kräftigen Stoß mit dem Ellebogen in die Rippen. Doch das Gesagte steht im Raum, jedem am Esstisch klingen die Worte nach. Der große Esstisch ist im Übrigen das Herz der Familie. An ihm wird gegessen, gestritten und gelacht, es werden Geschichten aus fernen Ländern erzählt, vielsagende Blicke ausgetauscht oder eben Rippenstöße verteilt, wenn Unangebrachtes oder Tabuthemen auch nur angedeutet werden. 

Mindeles Liebe versetzt die Familie in große Aufregung, nicht nur, weil sie keineswegs (dem spielsüchtigen) Reuvén gilt, sondern weil das Thema Liebe an sich Einkehr in den Alltag der Familie hält. Und der Umgang mit der Liebe ist in diesem Haus nicht einfach, ist er doch von der herrischen Großmutter mütterlicherseits geprägt, die „jede Spur des Wortes Liebe getilgt und es durch das Wort Dekadenz oder den Ausdruck ‚Arme-Leute-Geschichten' ersetzt hat.“ Obwohl sie längst in Spanien lebt, schwebt ihre Autorität immer noch wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Familie. Während sich Mindeles Liebe „wie eine Schlange in einer Pfanne mit heißem Öl wand“ und das an sich schon immer aufregende Leben der Familie durcheinander bringt, steht plötzlich auch noch der Großonkel Pinkas vor der Tür. „Pinkas war eine Art Vogel, der höchstens einmal aufflatterte, wenn meine Tanten das Fotoalbum aufschlugen oder wenn ein Wort fiel, das an ihn erinnerte, etwa ‚Deutschland'.“

Mit Pinkas tritt ein bisher unbekanntes Familienmitglied in den Kreis der „Ketzerfamilie“, wie sie von den regelmäßig in die Synagoge gehenden Gläubigen des Viertels genannt wird. Und mit Pinkas tritt ein weiteres Tabuthema auf, über das in einem scheinbar unausgesprochenen Einvernehmen unter den Erwachsenen geschwiegen wird. Sein Grundsatz ist, dass „die Zukunft nur dann existiert, wenn sie sich von jeder Form der Vergangenheit freimacht.“ 

Der Schriftsteller José Guillermo Ánjel, kurz Memo Ánjel genannt, nimmt in seinem Roman zwei Großthemen auf – Liebe und Vergangenheit –, die er kritisch und stets mit einem Augenzwinkern in den jüdisch-sephardischen Kontext einbettet. Seine Sprache ist lebendig und reich an Metaphern, Allegorien und Vergleichen aus dem sephardischen, christlichen und „indigenen“ Kulturkreis. 

Erzählt wird aus der Perspektive eines Kindes, der älteste Sohn der Familie, ein scharfsinniger, schelmischer und sehr gescheiter, mitunter altkluger Junge, der ebenso witzig und humorvoll, lebhaft und dynamisch die Geschichte seiner Familie erzählt, die er das eine oder andere Mal mit einer nostalgischen Konnotation versieht. Der Ich-Erzähler ist indes nicht mehr das Kind von damals, nicht nur, dass er sich Quellen bedient, zu denen er erst Jahre später Zugang bekommt. Seine Kommentare weisen zudem nicht selten auf eine Erfahrung hin, wie sie eigentlich erst Erwachsene haben können. Die Genialität des Schriftstellers lässt sich zum einen anhand seines fantasievollen Plots und seiner literarischen Sprache ausmachen. Zum anderen spiegeln seine Figuren, die wir bereits aus seinem ersten Roman „Das meschuggene Jahr“ her kennen, seinen Hang nach Lebhaftigkeit und Toleranz. 

Memo Anjel: Mindeles Liebe. Ein jüdischer Roman aus Medellín, Übersetzung: Hanna Grzimek, Rotpunkt-Verlag, Zürich 2009, 200 Seiten, 19,50 Euro