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Solide Basis?

Betreuung und Erziehung von Kleinkindern in Lateinamerika und der Karibik

Die Zahlen klingen gut: Vergleicht man die Länderberichte der UNESCO zur „Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (Atención y educación de la primera infancia – AEPI) weltweit, so stehen Lateinamerika und die Karibik bei den sogenannten „Entwicklungsländern“ an der Spitze, was die Betreuung der ganz Kleinen angeht. Auf der ganzen Welt gibt es 30 Länder, in denen Vorschulerziehung obligatorisch ist, und ein Drittel davon befindet sich in Lateinamerika (Argentinien, Kolumbien, Costa Rica, El Salvador, Mexiko, Panama, Peru, Dominikanische Republik, Uruguay, Venezuela). Allerdings gibt es sehr große Unterschiede zwischen den Ländern der Region sowie ein großes Stadt-Land-Gefälle. Außerdem muss zwischen der Altersgruppe von null bis drei Jahren, für die die Angebote viel geringer sind, sowie der Gruppe der Vier- und Fünfjährigen unterschieden werden, die an den obligatorischen und meist an den Grundschulen ausgerichteten Vorschulprogrammen teilnehmen. Generell haben arme und marginalisierte Kinder einen erschwerten Zugang zu diesen AEPI-Programmen, obwohl gerade sie am meisten davon profitieren würden. Andere ungelöste Fragen sind die Ausbildung der ErzieherInnen und ihre Bezahlung – die öffentlichen Ausgaben für vorschulische Erziehungsangebote sind minimal.

Laura Held
Britt Weyde

AEPI-Programme sind Programme für die ganz kleinen Kinder. Abgesehen von der notwendigen Versorgung (z.B. mit Trinkwasser, ärztlichen Untersuchungen, angemessener Ernährung) geht es auch um die frühkindliche Förderung in dafür geeigneten Einrichtungen. Dies können staatliche Einrichtungen für Vorschulkinder sein, aber auch private Programme für Kinder. Normalerweise sind AEPI-Programme für über Dreijährige und beinhalten organisierte Lernaktivitäten, die mindestens zwei Stunden täglich und 100 Tage im Jahr laufen. Laut UN-Kinderrechtskonvention von 1989 haben alle Kinder ein Recht auf diese frühkindliche Betreuung und Erziehung. Vielen Kindern in Lateinamerika und der Karibik wird dieses Recht jedoch vorenthalten, obwohl durch zunehmende Migration und Urbanisierung sowie durch immer mehr Frauen, die erwerbstätig sind, der Bedarf immer größer wird. 

Die Kindersterblichkeit zu verringern ist der erste Schritt in Richtung AEPI. In den letzten fünf Jahren starben in der Region 35 von 1000 Kindern, bevor sie fünf Jahre alt wurden, in Haiti waren es mehr als 100 Kinder. In Bolivien, Guatemala, Honduras und Peru leiden 25 Prozent der Kinder an Rachitis. Gesundheits- und Ernährungsprogramme nehmen also einen wichtigen Platz innerhalb der frühkindlichen Versorgung ein, sollten aber auch immer in ein umfassendes Konzept eingebunden sein, denn es geht nicht nur um das physische Wohlbefinden des Kindes, sondern auch um die Förderung seiner kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sowie seiner sozialen und emotionalen Entwicklung. Außerdem bereiten die ganzheitlichen AEPI-Programme die Kinder auf den späteren Schulbesuch vor. In Guatemala haben Studien gezeigt, dass mit anderen Fördermaßnahmen kombinierte Ernährungsprogramme besser und langfristiger wirken. Ähnliche Ergebnisse zeigte das Programm Proyecto Integral de Desarrollo Infantil in Bolivien, ein Programm zur Entwicklungsförderung und besseren Ernährung in der frühen Kindheit.

61 Prozent der Länder der Region, von denen Daten vorliegen, verfügen über Programme für unter Dreijährige, die entweder direkt nach der Geburt starten oder wenn die Kinder ein Jahr alt sind. Diese Programme bieten organisierte Betreuung und/oder Kindergärten an, manchmal kombiniert mit Ernährungs- oder Erziehungsprogrammen. Sie reichen von der Unterstützung der Eltern (Kolumbien und Jamaica) bis hin zu Gemeinschaftseinrichtungen für Familien wie PROMESA in Kolumbien oder betreute Gruppenaktivitäten wie Educa a tu hijo in Cuba.

Im Allgemeinen sind die Angebote für die ganz Kleinen hauptsächlich auf die Betreuung ausgerichtet und vernachlässigen häufig andere Aspekte der frühkindlichen Entwicklung; in den wenigsten Ländern existieren gesetzliche Vorgaben, um die Qualität in diesem Bereich zu gewährleisten. Für die Einrichtungen für die Vier- und Fünfjährigen hingegen sind meist die jeweiligen Erziehungsministerien zuständig; folgerichtig nimmt die Erziehung einen wichtigen Stellenwert ein und die „Vorschule“ macht mit verschulten Programmen ihrem Namen alle Ehre. 

Für die über Dreijährigen hat sich in den letzten 30 Jahren sehr viel getan. Mitte der 70er Jahre besuchten 1,8 Millionen Kinder eine Art Vorschule, 1999 16 Millionen und 2004 19 Millionen. Im gleichen Zeitraum hat sich auch die allgemeine Zahl der SchulbesucherInnen verfünffacht. Vor allem in den letzten Jahren ist die Zahl der vorschulischen Aktivitäten sprunghaft angestiegen, vor allem in Cuba, Ecuador, Mexiko, Panama und Venezuela. Dagegen sank das Angebot in Chile, Costa Rica, Guatemala und Guyana. Es gibt nicht nur sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch sehr große regionale Unterschiede. Vor allem Kinder in den Städten (außer Jamaica) und Kinder aus finanziell besser gestellten Familien kommen in den Genuss der vorschulischen Angebote.1 

In den karibischen Ländern werden ca. 80 Prozent der Vorschulen, d.h. der Kindergärten für die Vier- und Fünfjährigen, von privaten Trägern betrieben, während es in Lateinamerika – außer in Chile, Ecuador und der Dominikanischen Republik – vorwiegend öffentliche Angebote sind. Im Bereich der Kinderkrippen, wo die ganz Kleinen bis drei Jahre untergebracht werden, dominieren wiederum in ganz Lateinamerika (außer Cuba) die nichtstaatlichen Träger (private Betreiber, Kirchen, NRO). Unterschiede beim Vorschulbesuch bzw. der Betreuung zwischen Jungen und Mädchen gibt es kaum, nur auf einigen karibischen Inseln gibt es leichte Unterschiede. Für die öffentlichen Vorschulen für die Vier- und Fünfjährigen müssen die Eltern in der Regel keine Gebühren bezahlen. 

Es gibt jedoch einige Wermutstropfen. So ist der Zeitraum der Betreuung sehr unterschiedlich. In Uruguay z.B. werden die unter Dreijährigen maximal vier Stunden täglich betreut. Für die über Dreijährigen sind es durchschnittlich 20 Stunden wöchentlich, also lediglich fünf Stunden pro Werktag; mehrere Länder bieten sogar nur zehn Stunden oder weniger pro Woche an! Von einer Ganztagsbetreuung (35 bis 45 Stunden die Woche) ist man also noch sehr weit entfernt. Vor dem Hintergrund der in der Regel sehr langen Arbeitstage in Lateinamerika sowie der Arbeitswege, die gerade in den Metropolen sehr zeitaufwändig sind, erscheinen uns die oben genannten Zahlen als lächerlich wenig.

Auch der bisher erreichte Betreuungsschlüssel ist längst nicht optimal. Im Durchschnitt kommt auf 18 Kinder eine Betreuerin, allerdings liegt dieser Prozentsatz in Bolivien, Mexiko, Paraguay und Uruguay teilweise bei 25/1, was für so kleine Kinder viel zu wenig ist. Zum Vergleich: In deutschen städtischen Kindergärten – hierzulande gewiss nicht die Luxusvariante – kommen auf 20 bis 25 Kinder zwei ErzieherInnen (für die über Dreijährigen), sind unter Dreijährige dabei, sind zwei ErzieherInnen für etwa 15 Kinder da. Entwicklungspsychologische Studien betonen immer wieder, dass eine Betreuungsperson im Idealfall für maximal fünf Kinder zuständig sein sollte.

Die größte Herausforderung für den Bereich der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern in Lateinamerika ist die geringe Qualifikation des – fast ausschließlich weiblichen – Personals. Die Erzieherinnen erhalten so gut wie keine Ausbildung für ihre Aufgaben, häufig sind die Anforderungen an sie überhaupt nicht geregelt. Außerdem sind sie meist weniger qualifiziert als die Grundschullehrerinnen. Und selbst die niedrigen Voraussetzungen für den Job werden oft nicht eingehalten. In Ecuador z.B. muss eigentlich eine weiterführende Schule besucht worden sein, aber nur 84 Prozent der Erzieherinnen haben diesen Abschluss; in El Salvador verfügen etwa 25 Prozent der Erzieherinnen nicht über den vorgeschriebenen Abschluss (höhere Schulbildung). Das spiegelt sich wiederum in den Gehältern wider: Gerade die nicht geregelten Arbeitsbedingungen des Kinderkrippenpersonals bringen oft sehr prekäre Löhne mit sich. 

Obwohl inzwischen in mehreren lateinamerikanischen und karibischen Ländern eine kostenlose und verpflichtende vorschulische Erziehung gesetzlich vorgeschrieben ist – in Argentinien, Kolumbien, El Salvador, Panama, Paraguay, Peru und Uruguay seit den 90er Jahren und in Mexiko seit 2002 – und in Chile die Präsidentin Michelle Bachelet AEPI zur Chefsache erklärt hat (In der Region wird in Chile am meisten Geld für vorschulische Erziehung ausgegeben, vieles davon aus Privatmitteln), bleibt noch viel zu tun. Qualität, Dauer und Reichweite der Betreuung müssen verbessert werden; die Ausbildung der Erzieherinnen ist ein ernsthaftes Problem, und es fehlen männliche Erzieher als Vorbild für die Kinder.

  • 1. Die internen Unterschiede beim Zugang zu den vorschulischen und schulischen Angeboten sind relativ gering in Cuba, Argentinien, Uruguay, Mexiko, Chile und Ecuador, mittleren Ausmaßes in Kolumbien, Panama, Brasilien, Costa Rica, Peru und Venezuela und am größten in Bolivien, Paraguay und in den meisten zentralamerikanischen Ländern.

Quellen: Bases sólidas: Atención y educación de la primera infancia. Informe de seguimíento de la EFT de 2007 : http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001477/147785s.pdf; Revista Iberoamericana de Educación Nr. 22: www.rieoei.org