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Paarkonzepte

Das Buch „Die Pluralisierung des Paares“ untersucht die Veränderung der Geschlechterbeziehungen in El Alto

Der größte Teil der BewohnerInnen El Altos ist erst in den letzten drei Jahrzehnten aus den Dörfern des bolivianischen Altiplano, der auf gut 4000 Metern gelegenen Andenhochebene, zugezogen. Diese MigrantInnen sind noch sehr stark durch die Traditionen der bäuerlichen Aymara-Gemeinschaften geprägt und halten größtenteils weiterhin engen Kontakt zu ihren Herkunftsorten. Gleichzeitig leben sie heute in einer Realität, die sich grundsätzlich von der ihrer Dörfer unterscheidet. Dies bedeutet einerseits, dass die Traditionen und Wertesysteme der ländlichen Aymara-Kultur in El Alto sehr präsent sind, andererseits aber auch, dass sie sich verändern und „modernisieren“ müssen, weil die Lebensrealität in der Stadt eine gänzlich andere ist. Dies gilt im besonderen Maße für die Beziehungs- und Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern. Wie sich die bei den Aymara-MigrantInnen in El Alto und La Paz entwickeln und verändern, ist das Thema der Untersuchung „Die Pluralisierung des Paares“ von Andrea Blumtritt, die kürzlich in der Edition Tranvia erschienen ist.

Gert Eisenbürger

Die Kosmovision und die Traditionen der Aymara-Gemeinschaften sind von einer starken Dualität der Geschlechter geprägt. Anders als in den westlichen Gesellschaften, wo Männer die „Geschichte machten“, d. h. den öffentlichen Raum und die politischen Institutionen bis weit über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierten, ist in der Aymara-Kultur traditionell das Ehepaar im öffentlichen Leben präsent. Erst in ihrer Vereinigung als Paar sind Frauen und Männer befähigt, Ämter und Funktionen in der Gemeinschaft zu übernehmen. Das heißt allerdings nicht, dass die Geschlechter bei den Aymara gleichberechtigt wären und es keine männliche Machtdominanz im privaten, ökonomischen und teilweise auch im öffentlichen Raum gäbe. Aber eben keine Ausgrenzung der Frauen. Das westliche Bonmot, dass hinter jedem großen Mann eine unsichtbare Frau stünde, wäre in der traditionellen Aymara-Kultur kaum verstanden worden. Unsichtbar waren die Aymara-Frauen nie.

Öffentliche Ämter in den Aymara-Gemeinschaften, wie Funktionen in der Vorbereitung der Planung der landwirtschaftlichen Arbeiten, Verantwortlichkeiten für die Organisation von (religiösen) Festen, die Betreuung der örtlichen Schule, die Regelung von Rechtsfragen und Streitigkeiten und die Durchführung der rituellen Zeremonien werden größtenteils von Paaren übernommen. Dabei gibt es eine Ämterhierarchie: Junge Paare übernehmen zunächst niedrigere Ämter, dann mittelhohe und schließlich die höchsten Ämter des Dorfes. Diese Abfolge wird in Aymara thakhi genannt, was Weg oder Weg des Lebens bedeutet. Die Ausübung von Ämtern ist immer zeitlich begrenzt (in der Regel auf ein Jahr). Ihre Übernahme ist auch keine freie Entscheidung, sondern eine Verpflichtung, der man sich nicht entziehen kann (teilweise sind sogar die Landrechte, d.h. die Lebensgrundlage, an die Übernahme von Ämtern gekoppelt). Die Ausübung der Ämter bedeutet nicht nur Arbeit, sondern auch erhebliche Kosten, weil etwa die in der Amtszeit im zu verantwortenden Bereich anfallenden Versammlungen im Hause des Paares stattfinden und dabei alle TeilnehmerInnen verköstigt werden müssen. Da traditionell aber alle Mitglieder der Comunidad die verschiedenen Ämter übernehmen müssen, kommen auch alle mal „dran“. Zwar ist bei den meisten traditionellen Ämtern festgelegt, ob es von einem Mann oder einer Frau ausgeübt wird. Doch wenn ein Mann ein hohes Amt in der Gemeinschaft ausübt, übernimmt seine Frau ein komplementäres, das ähnliches Prestige bedeutet.

Spannend ist in der vorliegenden Studie die Darstellung der Veränderungen in der Ämterstruktur, die sich durch vom Staat durchgesetzte gesetzgeberische Reformen ergeben. Andrea Blumtritt zeigt dies am Beispiel der Agrarreform von 1953 und dem „Gesetz über die Volksbeteiligung“ aus dem Jahr 1994. So wurden durch die Agrarreform mit den cooperativas (in traditionellen Gemeinschaften) und sindicatos (auf ehemaligem hacienda-Land) neue Strukturen und Ämter in den Dörfern geschaffen, die außerhalb des traditionellen Ämterwesens liegen. Die neuen Vorstandsämter in den cooperativas und sindicatos werden nicht jährlich wechselnd von einem Paar übernommen. Vielmehr sieht die vom Gesetz vorgeschriebene Struktur vor, dass dafür Individuen gewählt werden. Die Wahl fiel bzw. fällt dann in der Regel auf die Personen, die gut auf Versammlungen reden können. Da dabei aber traditionell die Männer für das Paar sprachen, wurden lange nur Männer in die neuen Ämter gewählt, Frauen blieben in den neuen Institutionen außen vor. Eine ähnliche Folge hatte das „Gesetz über die Volksbeteiligung“. Dies gab den Gemeinden eine größere Autonomie und erhebliche finanzielle Mittel, die sie selbst verwalten konnten. Da es für die Formulierung von Anträgen und Haushaltsaufstellungen oder die Anfertigung der Abrechnungen bestimmter Kenntnisse bedarf, werden nun in der Regel Personen als Bürgermeister oder Gemeinderäte gewählt, die über eine formelle Ausbildung verfügen. Da dies nach wie vor überwiegend Männer sind, ist auch bei den neu gewählten Dorfautoritäten der Männeranteil sehr hoch, wenn auch nicht mehr ganz exklusiv. Aber insgesamt haben zwei Reformvorhaben, die aus linker Perspektive durchaus begrüßenswert waren, in den Aymaradörfern zu einem Herausdrängen von Frauen aus öffentlichen Funktionen geführt – Modernisierung bedeutete also Anpassung an die westliche Ausprägung patriarchalischer Strukturen.

Wie verändern sich die Geschlechterverhältnisse nun unter den Bedingungen der Migration nach El Alto, wo das agrarisch geprägte Modell der Geschlechterdualität erst recht durch „moderne“ Strukturen in Frage gestellt wird? Diese Frage untersucht Andrea Blumtritt in einer Serie von Interviews, die sie mit Aymara-BewohnerInnen aus El Alto und teilweise La Paz geführt hat. Aus einer größeren Zahl wählte sie acht Personen aus, deren Biographien und Partnerschaftskonzeptionen sie im Hauptteil des Buches darstellt. Die acht Portraitierten repräsentieren sehr unterschiedliche Lebensrealitäten und Familienstände: eine Schneiderin, die einer gewerkschaftlichen Vereinigung von Händlerinnen vorsteht; eine Marktfrau, die eine wichtige Rolle in Folklorevereinigungen spielt; eine alleinerziehende Krankenschwester und Sekretärin; eine alleinstehende Sozialarbeiterin; ein hoher lutheranischer Kirchenfunktionär; eine konservative Lokalpolitikerin; ein erfolgreicher mittelständischer Unternehmer und eine unter prekären Bedingungen lebende verheiratete Hausfrau.

Interessant ist, dass fast alle Portraitierten zwar in El Alto bzw. La Paz zu Hause sind, aber weiterhin Kontakt zu ihren Herkunftsgemeinden auf dem Land halten bzw. zu der des Ehepartners/der Ehepartnerin. Die Älteren haben teilweise vor, nach Beendigung ihres Berufslebens dort auch wieder zu leben bzw. pendeln wie die Lokalpolitikerin Lupe heute zwischen El Alto und der Heimatgemeinde. Teilweise sehen sie sich weiterhin als Teil der Dorfgemeinschaft und beteiligen sich auch indirekt am traditionellen Ämterwesen, in dem sie über Verwandte und finanzielle Zuwendungen die Ämter ausüben, selbst aber nur gelegentlich, etwa zu den wichtigen Festen, ins Dorf fahren. Fast alle betonen, dass für sie das öffentlich agierende Paar weiterhin das Ideal darstellt, obwohl es der Lebensrealität der meisten vorgestellten Frauen als Alleinerziehender, allein Lebender oder anerkannter Funktionärin bzw. Politikerin eigentlich nicht mehr entspricht. Sie machen aber deutlich, dass sie neue Wege gegangen sind bzw. ihre Rolle in der Partnerschaft verändert haben, im Falle der Gewerkschaftsfunktionärin María in harter Auseinandersetzung mit dem Partner. Dagegen konnte die Lokalpolitikerin Lupe, die ihre politische Laufbahn auch in Nachbarschaftsvereinigungen und Gewerkschaftsstrukturen begann, ihren Weg machen, weil ihr Mann wegen seiner Arbeitszeiten im Polizeiberuf an den Versammlungen oft nicht teilnehmen konnte und sie im Paar den Part der öffentlichen Vertretung übernahm. 

Die in einer Folklorevereinigung hoch angesehene Edita übernahm dort überhaupt erst Ämter, als ihr Mann verstorben war. Anders als alle anderen Befragten grenzt sich der Kirchenfunktionär vom traditionell-dualen Paarverständnis der Aymara ab. Es sei reaktionär und diskriminierend, Frauen müssten etwa fünf Meter hinter dem Mann hergehen (was im Übrigen nicht stimmt). Er betont, dass in seiner Beziehung Gleichberechtigung zwischen seiner Frau und ihm herrsche. Beim weiteren Befragen stellt sich dann aber heraus, dass er stärker als alle anderen seine Karriere als Kirchenfunktionär und NRO-Mitarbeiter individuell betrieben hat. Seine Frau, die als Händlerin und teilweise auch als Bäuerin arbeitet, ist daran nicht beteiligt, ebenso wenig wie an den Auslandsreisen, die er in seiner beruflichen Funktion unternimmt.

Wie bereits erwähnt, sind mehrere Befragte auch in sozialen und kulturellen Vereinigungen in El Alto tätig. Bei ihrer Beschreibung der dortigen Strukturen wird deutlich, dass hier das als Kollektiv agierende Paar durchaus noch präsent ist. Die in Folklorevereinigungen aktive Edita ging z.B. immer zu den Versammlungen der Vereinigung, hat aber, solange ihr Mann lebte, nie das Wort ergriffen, gesprochen habe immer nur ihr Mann. Auf die Frage, warum sie denn überhaupt zu den Treffen gegangen sei, meinte sie, sie müsse doch informiert sein, um zu Hause mit ihrem Mann zu besprechen, was er beim nächsten Mal sagen solle. BesucherInnen von Versammlungen der Nachbarschaftsvereinigungen bestätigten, dass auch dort Frauen (sie stehen/sitzen meistens auf der einen, die Männer auf der anderen Seite) selten das Wort ergreifen, aber der Diskussion interessiert folgen. Das Wort führen die Männer, zumindest teilweise aber wohl weiterhin nach Absprache mit der Partnerin. Das Verständnis vom gemeinsam entscheidenden Paar wird nach Ansicht von Andrea Blumtritt in den städtischen Organisationen allerdings seltener, es agieren zunehmend Individuen, die für sich allein sprechen.

Insgesamt wird deutlich, wie stark vor allem die Stadt El Alto durch die Traditionen der Aymara geprägt ist, wie eng die Verbindung vieler Alteños und Alteñas weiterhin zu den ländlichen Gemeinschaften ist, wie sie sich aber auch verändern. Andrea Blumtritts Buch ist eine äußerst spannende Studie über Migration und damit einhergehende kulturelle Veränderungsprozesse. Da es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt, ist die Sprache naturgemäß akademisch und sind die ausführlichen Interviewpassagen durchweg im spanischen Original ohne deutsche Übersetzung wiedergegeben. Wen das nicht davon abhält, das Buch in die Hand zu nehmen, den/die erwartet eine höchst anregende und aufschlussreiche Lektüre. 

Andrea Blumtritt: Die Pluralisierung des Paares – Geschlechtsspezifische Dimensionen von Modernisierungsprozessen im translokalen Raum der Anden, Edition Tranvia, Berlin 2009, 324 Seiten, 29,80 Euro