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Ich werde erneut die blutbefleckten Straßen Baguas betreten

Offener Brief des peruanischen Schriftstellers Walter Lingán an Präsident García
Walter Lingán

Ich habe mich dazu entschieden, diesen Offenen Brief zu verbreiten, in der Hoffnung, dass er auf irgendeinem Computer im Regierungspalast landet, auch wenn er bestimmt nicht gelesen, geschweige denn beachtet wird. Aber ich mache es in meiner Eigenschaft als Bürger, der sich solidarisch mit der Amazonas-Bevölkerung und dem Volk Perus fühlt. Während ich ihn schreibe, denke ich an Bagua Chica, die kleine Stadt, damals, als ich mit meiner Familie dort ankam mit dem Gehabe eines großen „Kolonisators“. Ich war fast noch ein Kind und mir war nicht bewusst, dass wir, die wir vor dem Elend in den Anden geflüchtet waren, zusammen mit Tausenden weiteren „Kolonisatoren“, besser gesagt Eindringlingen, in das Land der Aguaruna, Awajún und anderer Ethnien, mit unserer Anwesenheit die kommunalen indigenen Länder zerstörten und ausbürgerten. 

Du wirst bestimmt genauso wie Fernando Belaúnde, der die Protestbriefe gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Sierra von Ayacucho in den Papierkorb warf, ignorieren, was ich dir sage, worum ich dich bitte und was ich von dir verlange. Ich duze dich, ja, das mache ich, so werden wir vertrauter miteinander umgehen, so werden wir Höflichkeitsformeln und Formalitäten beiseite lassen, damit ich meine Gedanken freier ausdrücken kann, als ob wir Freunde wären. Aber wir sind keine Freunde und Gott sei Dank – dabei bin ich Atheist – ist mir dieses Unglück nicht widerfahren. Du wirst mir sagen, dass es mir an Respekt dir gegenüber mangele, den du verdient hättest wegen deiner Einsetzung in ein Amt, weil ein Teil der PeruanerInnen dich gewählt hat. 

Aber wenn du zur höchsten Autorität des Landes gewählt worden bist, dann ist dies geschehen, damit du das Leben achtest, damit du diejenigen respektierst, die dich gewählt haben, und damit du für den Fortschritt des Landes Sorge trägst, der allen unterschiedslos zugute kommen soll. Und plötzlich verlierst du die Nerven und befiehlst. die Proteste der Amazonas-Völker mit aller Gewalt niederzuschlagen; ich kann für dich keinerlei Respekt und Achtung mehr aufbringen. Und komm mir nicht damit, dass ich mich zur Wahl stellen sollte und dass ich ja, falls ich gewählt werden sollte, Gesetze verabschieden könnte, die den Protestlern gefallen.

Als ich in den Fernsehnachrichten das Wort Bagua hörte, erinnerte ich mich an meine glücklichen Jahre als Junge, der „den Urwald kolonisierte“. Ich schreibe Bagua und in meinen Erinnerungen explodiert der Duft der Pflaumen und der Mangos auf den Straßen, die zur Oberschule Manuel Mesones Muro führten. Ich bekomme Lust, noch einmal die Fußballspiele auf der Straße El Comercio zu erleben, mit den beiden Mannschaftskapitänen Juan und Braulio Rojas Nuñez und dem Duo Weche und Nene Quiroz. Die Kirche und ihr lärmender Glockenturm gegenüber dem alten Platz mit den Tamarinden, eifersüchtig bewacht von einer Polizeistation, die ewig unter der drückenden Hitze zu dösen schien. Das Getöse auf dem Markt, die belebende caldo de cashcas1 in den frühen Morgenstunden. Der Weg zum Fluss, der von Lasteseln bevölkert war, die Wasser transportierten, um es in Dosen von Haus zu Haus zu verkaufen. Die Wälder mit Kakao, Bananen, Zuckerrohr und Ananas, die den Strom von Utcubamba herausforderten. Das Grün der zarten Reispflanzen in den Tümpeln, kurz bevor sie auf dieser ausgedehnten Ebene vor der Stadt gepflanzt werden. 

Ich erinnere mich an die Zwillinge, deren Namen ich vergessen habe, die ihre Ähnlichkeit einzusetzen wussten und uns immer wieder hinters Licht führten, um ihre Schulden beim Murmel- und Kreiselspiel nicht bezahlen zu müssen. Unsere Nachmittage unter der glühenden Sonne, die wir damit verbrachten, in die erfrischenden Fluten des Utcubamba einzutauchen. Die drückend heißen Stunden, die wir über den Büchern verbrachten, zusammen mit Sebastiana López Coral, Jorge Serrano und Concepción Quiroz Alcántara. Ach, Bagua! Mich schmerzen jetzt deine offenen Wunden, deine Adern, aus denen der Tod tropft und die doch eigentlich Leben spenden sollten. Ich schreibe das Lied von Pablo Milanés um: „Ich werde erneut die Straße betreten / von dem, was einst das blutbefleckte Bagua war / und auf seiner wunderschönen Plaza de Armas / werde ich die Abwesenden beweinen.“ Deshalb wende ich mich an dich, um dir aufs Energischste meine Ablehnung und Verurteilung kundzutun – im Hinblick auf das Massaker, das deine Regierung gerade an den indigenen Völkern des peruanischen Amazonas begangen hat, die sich zu einem friedfertigen Kampf aufgeschwungen haben, um ihre jahrhundertealten Rechte sowie ihr Land und die Umwelt zu verteidigen. 

Und es ist nicht zum ersten Mal, dass sich die weiße Taube, das Symbol deiner Partei, in eine schwarze Botschafterin verwandelt, die den Tod in ihrem Schnabel trägt. Es war im Juni 1986, wo sie bereits zum Raben geworden war und über die Gefängnisse von Lima und El Frontón flog und den Gefangenen, die sich ergeben hatten, die Augen auspickte. Fast niemand sagte etwas, schließlich wurde gemunkelt, dass die Ermordeten gefährliche Terroristen waren, Kriminelle, die mit einer ausländischen Ideologie bewaffnet waren, dem Kommunismus. Fast 300 Tote und bis heute gibt es keinen Verantwortlichen. Du selber hast gesagt, dass die Verantwortlichen für einen so niederträchtigen Mord zu zahlen hätten. Entweder sie, sagtest du, oder ich verlasse die Regierung. Aber nichts passierte, nur die Inflation galoppierte, die Korruption und die Misswirtschaft zwangen dich, mit eingezogenem Schwanz abzuhauen. Du gingst ins Ausland und das Schicksal von Millionen von PeruanerInnen, die unter der Unbarmherzigkeit deiner katastrophalen Wirtschaftspolitik leiden mussten, war dir scheißegal. Und es ist wieder ein Juni, diesmal im Jahr 2009, lediglich 23 Jahre sind vergangen, in dem die in einen Raubvogel verwandelte Taube gegen die hilflosen Amazonas-Völker vorgeht.

Dann kommst du uns noch mit der Unterstellung, dass es sich um ignorante Indios handelt, die sich dem Fortschritt des Landes widersetzen, arme perros de hortelano2, „Hunde des Gärtners“, die weder fressen noch fressen lassen, die von fremdländischen Ideologien manipuliert werden – als ob sich das Gedankengut der APRA, deiner Partei, nicht auch revolutionäre Ideen zu eigen gemacht hätte, die im europäischen Kontinent aufgekommen sind; natürlich sind jetzt die ursprünglichen Ideen deiner Partei mit dem Sarkophag deines alten Führers begraben worden. Ganz zu schweigen von deinem Kompagnon, dem Premierminister Yehude Simon, der sich vom Brandstifter (gestern noch aktives Mitglied der MRTA-Guerilla, der er heute abgeschworen hat) nun an deiner Seite zum Feuerwehrmann der sozialen Kämpfe gewandelt hat. Wir alle wissen, und komm uns nicht mit Ausflüchten, denn auch du weißt es, dass die ILO-Konvention 169, die von Peru unterschrieben und ratifiziert worden ist, deine Regierung dazu verpflichtet, die indigenen Völker zu konsultieren, bevor in irgendeiner Art etwas auf ihren Ländereien unternommen wird. Aber du und die ParlamentarierInnen, die sich vor allem darum sorgen, wie sie sich ihre Taschen füllen können, stellten sich dumm und verabschiedeten neun Regierungsdekrete, die den Bedingungen des Freihandelsabkommens zwischen Peru und den USA den Weg freimachen. Doch mir nichts dir nichts, nachdem du gerade erst das ganze Blut vergossen hattest, hast du gefolgert, dass hinter all dem „wohlmöglich kommerzielle Interessen aus dem Ausland stehen“. Daran besteht kein Zweifel, das sind die Interessen, die du verteidigst und weswegen du schon wieder den Tod befohlen hast. Du bist es, Alan García, dem die Interessen der transnationalen Unternehmen wichtiger sind als das Leben der indigenen Völker aus dem peruanischen Amazonas.

Polizisten und Bewohner aus dem Amazonas sind gestorben, Söhne des Volkes, wie immer, das ist nicht neu, uniformiertes Volk gegen Volk ohne Uniform; aber auf was für eine grobe Art und Weise werden die Toten auf Seiten der Polizei benutzt, um Wasser auf deine Mühlen zu gießen. Du hast einen Fernsehspot verbreitet, in dem du lediglich die toten Polizisten erwähnst. Du willst die grausame Wildheit der Eingeborenen aufzeigen. Und was ist mit den toten Indigenen, mit den Verschwundenen, den verbrannten Leichen, den Leichen, die in Plastiksäcke gepackt und in den Utcubamba geworfen wurden? Wenn das alles nicht stimmt, beweis es mir, denn die Fotos und Filmaufnahmen, die vor Ort gemacht wurden, lügen nicht. Sie haben versucht die Nachrichten einzudämmen, haben Mobiltelefone und Kameras beschlagnahmt und JournalistInnen bedroht, doch die Wahrheit ist stärker als die Repression und auch das weißt du. Als aufrechter Bürger – und wenn du noch ein bisschen Scham im Leib hast – bitte ich dich, fordere ich von dir, dass nicht nur alles, was passiert ist, im Namen der Wahrheit untersucht wird, sondern dass du den Regierungspalast verlässt, dass du zurücktrittst und einmal in deinem Leben und in der Geschichte der peruanischen Politik etwas wirklich Würdiges tust. Du wirst bestimmt über das lachen, was ich von dir verlange, aber denk dran, dass das Verbrechen bestraft wird; auch wenn die Gerechtigkeit zu spät kommt – sie vergisst nie. 

Der Kampf der indigenen Völker von Abya Yala3 und der sozialen Organisationen auf dem ganzen Kontinent hat gerade erst begonnen. Deshalb, sei dir dessen gewiss, auch wenn du dich aus Peru davon machst, nebenbei hast du ja auch schon damit begonnen, deine Kinder ins Ausland zu schicken, wirst du keine Ruhe finden, bevor du nicht für deine Verbrechen gerade stehst. Du schuldest nicht nur Peru eine Erklärung, wo es dank bestimmter Sektoren, die mit diesem „Fremde Ideologien“ Angst schüren konnten, für dich relativ leicht war, der Verantwortung aus dem Wege zu gehen – im Hinblick auf das Massaker in den Gefängnissen in jenem Juni 1986 – und wo du zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurdest. Jetzt, wieder einmal, seid ihr, du und dein Tauben-Rabe, wieder zu Verbrechern gegen die Menschlichkeit geworden und die Verfolgung wird nicht ruhen, bis ihr auf diese Taten reagieren werdet. Das ist keine Drohung, nein, nichts dergleichen, aber guck dir doch mal Fujimori, Montesinos und Guzmán an, die heute im Gefängnis die Stürme ernten, die sie gesät haben. 

Diese brutalen Vorgänge, die du im Juni 2009 verursacht hast, haben das Vertrauen erschüttert, das dir die peruanische Bevölkerung entgegengebracht hat, als sie dir eine zweite Chance gab. Wenn du Peru wirklich liebst, wenn du es mit diesem Patriotismus, den du häufig in den Mund nimmst, liebst, dann verlass die Regierung, setz eine Übergangsregierung oder wie immer du es nennen magst, ein – vielleicht werden so deine „Sünden“ abgemildert, nehme ich mal an. Ich weiß schon, dass deine Überheblichkeit und dein Stolz das nicht zulassen werden, außerdem sind da noch die ausländischen Interessen, die dir wichtiger sind als die Souveränität und das Wohlergehen Perus. 

Morgen werde ich nach Bagua zurückkehren und erneut die blutbefleckten Straßen und Parks betreten, ich werde seine Toten beweinen, seine Verschwundenen und ich werde zum Utcumbamba gehen, um dort meine Hoffnungen auf ein neues Peru in einer neuen Welt zu baden.

  • 1. Peruanische Suppe aus Cashcas, einer lokalen Fischart
  • 2. Diesen Begriff hatte Präsident García in einem Artikel im Oktober 2007 benutzt, um sich über die „unproduktiven, ignoranten Indios“ zu beschweren, die der Ausbeutung der Amazonas-Ressourcen im Wege stünden.
  • 3. „Land in seiner vollen Reife“ – Diese Bezeichnung wählten die autochthonen Völker Amerikas 1992 als Namen für ihren Kontinent anstelle von „Amerika“. Der Ausdruck Abya Yala kommt aus der Sprache der Kuna, einer Ethnie in Panama und Kolumbien. Erst vor kurzem fand im peruanischen Puno das jüngste kontinentale Treffen der Völker und ethnischen Gruppierungen von Abya Yala statt.

Walter Lingán, peruanischer Autor, lebt und arbeitet in Köln. Übersetzung: Britt Weyde