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¿Todos somos Narcos?

Aufstandsbekämpfung und „Drogenkrieg“ in Guerrero

Der südmexikanische Bundesstaat Guerrero ist ein Ort voller krasser Gegensätze. Im Hinterland des glamourösen Badeorts Acapulco wird der soziale Protest der verarmten Bevölkerung auf brutale Art und Weise kriminalisiert. Diese Brutalität setzt neue Maßstäbe für Mexiko und weltweit. Die letzten Monate zeigen eine dramatische Entwicklung im „Guerrero bronco“, dem „wilden Guerrero“. Auch der Verteilungskampf der verschiedenen Drogenmafias spielt dabei ein Rolle.

Philipp Gerber

Im Gegensatz zu Chiapas oder Oaxaca sind die sozialen Kämpfe in der bergigen Region von Guerrero hierzulande völlig unbekannt, deshalb zuerst ein paar Streiflichter auf die Geschichte. Nach dem Scheitern der Agrarreform in den 1960er Jahren hat sich die rebellische Bevölkerung gegen die Oligarchie erhoben - mit allen möglichen Mitteln, auch bewaffnet: Der Guerillero Lucio Cabañas wurde so etwas wie der Che Guevara Mexikos, seine Guerillatruppe namens „Partei der Armen“ genoss breite Unterstützung bei der Landbevölkerung. Die Oligarchie versuchte, ihre ökonomischen Interessen im Tourismus, im Agrarbereich und im Bergbau zu verteidigen. In den 1970er Jahren mündete dies in einen schmutzigen Krieg, in dem die Guerilla zerschlagen wurde. Die Armee überfiel Dörfer, die vermeintlich die Guerilla unterstützten. Unzählige Tote und über 400 Verschwundene sind allein im Bezirk Atoyac zu beklagen. Dieser schmutzige Krieg ist ein blinder Fleck auch in der linken Geschichte, nicht zuletzt, weil sich Cuba und andere revolutionäre Bewegungen Lateinamerikas nicht mit dem PRI-Regime in Mexiko überwerfen wollten oder konnten und so die mexikanischen Guerillabewegungen isoliert blieben, wie Albert Sterr es in seinem lesenswerten neuen Buch „Mexikos Linke – Ein Überblick“ betont. Die fehlende Aufarbeitung und die völlige Straflosigkeit dieser Verbrechen hat zur Folge, dass der schmutzige Krieg der 1970er Jahre eine offene Wunde in der Gesellschaft Guerreros bleibt. 

In Guerrero zählt ein Menschenleben auch heute wenig. Der Bundesstaat befindet sich in einer Dauerbelagerung durch das Militär, in den Städten geben die mit der Politik verbandelten Drogenbarone den Ton an. Und in den letzten Monaten nahmen nicht nur die Abrechnungen im Drogengeschäft zu, sondern auch die offene Gewalt gegen die politische Opposition. Ende November 2008 wurde Máximo Mojica, ein Anführer einer städtischen Landbesetzungsorganisation namens Tierra y Libertad, von einer paramilitärisch agierenden Gruppe entführt und tauchte drei Tage später in Polizeihaft auf. Mojica, ein pensionierter Lehrer, soll zusammen mit seiner Frau für eine Entführung verantwortlich sein, die über zehn Fahrstunden von ihrem Wohnort entfernt stattgefunden hat. Diese Entführung sei im Namen der Guerilla ERPI (Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente) geschehen. Neben der obskuren Verhaftung und dem konstruierten Vorwurf der Entführung ist auch die Guerillazugehörigkeit mehr als fragwürdig. Das „Komitee gegen Folter und Straflosigkeit“ (CCTI) gab an, dass Mojica, der unter Diabetes leidet, massiv gefoltert wurde, und hat seine juristische Verteidigung übernommen. 

ERPI ist eine von mehreren Guerillagruppierungen in Guerrero. Sie versteht sich (ähnlich wie die EZLN in Chiapas) als Organisation zur Selbstverteidigung der Dörfer im Kampf gegen die Lokalfürsten und die mit ihnen verbündeten staatlichen Repressionsorgane. Im Gegensatz zur EPR, von der sie sich 1997 abspaltete, ist sie dem EZLN-Prinzip des mandar obedeciendo, dem „gehorchenden Befehlen“, verpflichtet. Sie agiert also nur so, wie es ihre Unterstützungsbasis in der Bevölkerung mitträgt. Das ERPI schrieb in einem Communiqué, dass Máximo Mojica nicht zur Guerilla gehöre, die Anschuldigung sei konstruiert. Außerdem finanzierten sie sich nicht über Entführungen. Eine Woche nachdem Mojica „verhaftet“ worden war, verschwand der Bauer Javier Torres Cruz. Dieser hatte es gewagt, die Ermordung der Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa (Oktober 2001) erneut zum Thema zu machen: Er bezeugte, dass hinter ihrer Ermordung der lokale Machtfürst von Petatlán, Rogaciano Alba stecke. Alba hat die Abholzung der Sierra de Petatlán betrieben, u.a. im Auftrag einer US-amerikanischen Firma. Er ließ Dutzende von Leuten in der Sierra de Petatlán entweder ermorden oder ins Gefängnis stecken und ist heute eine zentrale Größe im Drogengeschäft. 

Zehn Tage nach seinem Verschwinden tauchte Javier Torres plötzlich wieder in seiner Gemeinde La Morena auf, mit Verletzungen am ganzen Körper sowie Folterspuren an den Händen und Blutergüssen in den Augen. Beim Besuch einer Menschenrechtsdelegation in seiner abgelegenen Gemeinde berichtete Javier Torres über die erlittenen Qualen: Vom Militär in einer Straßensperre verhaftet, wurde er anschließend den Männern um Rogaciano Alba ausgeliefert, die mit illegalem Holzabbau und Drogenhandel ihr Geld verdienen. Sie banden ihn im Freien fest, schlugen ihn und fragten im Hinblick auf seine Anzeige im Fall Digna Ochoa: „Warum hast du uns verraten?“ Nach mehreren Tagen ohne Nahrungsaufnahme schaffte Javier es überraschenderweise zu fliehen, wurde auf der langen Flucht in der Sierra de Petatlán von Hubschraubern gesucht und mit Lautsprechern aufgefordert aufzugeben. Dabei sah er deutlich, dass das Militär und die Bande von Rogaciano Alba Hand in Hand arbeiten.

Im Februar spitzte sich die Lage weiter zu: Polizisten verhafteten zwei Anführer der indigenen Organización para el Futuro del Pueblo Mixteco Na Savi (OFPM) mitten aus einer Veranstaltung heraus. Die Polizei schwieg sich über ihren Verbleib aus, die beiden galten als verschwunden. Der Protest von 150 Organisationen half diesmal wenig: Eine Woche nach ihrem Verschwinden wurden zwei schlecht verscharrte Leichen gefunden. Schnell wurde klar, dass es sich um Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas, Präsident und Sekretär der OFPM, handelte. Der Körper von Raúl Lucas wies Verbrennungen im Halsbereich auf, er war mit einem Kopfschuss getötet worden. Manuel Ponce wurde der Schädel eingeschlagen. Abel Barrera, Leiter des Menschenrechtszentrums Tlachinollán, bezeichnet das Staatsverbrechen als „doppelte außergerichtliche Hinrichtung“. Der Arzt und Aktivist Ricardo Loewe vom CCTI beschreibt in einem Beitrag zur Prävention von Folter seine Gefühle: „Die Ermordung von Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas tut uns schrecklich stechend in der Seele weh. Und das ist eine Warnung, eine Drohung an viele Leute, unter anderem an die VerteidigerInnen der Menschenrechte“. 

Es ist kein Zufall, dass gerade diese beiden Indígenas ausgewählt worden sind: Sie sind Überlebende eines Massakers im Dorf El Charco, wo das Militär 1998 eine Versammlung von DorfbewohnerInnen und dem ERPI überraschte und elf Personen auf dem Basketballplatz per Kopfschuss hinrichtete. Seither haben Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas immer wieder Morddrohungen bekommen, Raúl wurde einmal angeschossen, ein anderes Mal vom Militär gefoltert. Doch die indigenen Organisationen OFPM der Na Savi und OPIM der Me´Phaa klagen weiterhin mutig die Zwangssterilisierungen von indigenen Männern, Vergewaltigungen von Indígena-Frauen durch Militärs und ähnliche Ereignisse in der Region an. Beunruhigend ist, dass nur wenige Tage vor dem Verschwinden der beiden Indígenas zwei hochrangige Delegationen von amnesty international und der UNO genau diese Region besuchten, um sich aus erster Hand über das Schicksal von fünf Mitgliedern der OPIM zu informieren, die wegen der Tötung eines Spitzels angeklagt wurden und seit Juni 2008 im Gefängnis saßen (vier der fünf Me'phaa-Indígenas von der mit der OFPM verbündeten Organisation kamen am 19. März 2009 frei).

Doch warum gerade jetzt eine solche Verschärfung der politischen Gewalt, die an den schmutzigen Krieg der 70er Jahre erinnert? Dazu nochmals Ricardo Loewe vom CCTI: „Die Regierung greift nicht nur mit den kombinierten Kräften des Militärs und der Drogenmafia an, auch die Polizei gehört dazu. Diese dreifache Streitkraft hat Teile von Guerrero belagert, mit der Absicht, die Guerilla ERPI zu provozieren. Aber unter diesem Staatsterror muss die ganze Bevölkerung leiden.“ Dass das ERPI von der Selbstverteidigung der Dörfer in die verletzlichere Offensive gelockt werden soll, könnte seinen Grund darin haben, dass die Militärs in der Guerilla immer noch die wahre Bedrohung sehen und weniger in der Drogenmafia, und dass sie ihren immer grenzenloseren Spielraum ausnutzen, um mit jeder Opposition aufzuräumen.

Gleichzeitig werden die Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Drogenhandels immer brutaler: Drei Tage vor Weihnachten 2008 wurden in der Hauptstadt Chilpancingo sieben Soldaten und ein ehemaliger Polizeichef geköpft aufgefunden. Seither hat der intensivierte Kampfeinsatz des Militärs Conjunto Guerrero ähnliche Ausmaße wie derjenige in Ciudad Juárez, Chihuahua. Dennoch oder gerade deswegen forderte der Drogenverteilungskampf allein bis Anfang März laut der Zeitschrift Proceso rund 100 Menschenleben, darunter Polizisten und Politiker. Guerrero sei „más caliente que nunca“, heißer denn je, meint die renommierte Zeitschrift, die detailliert über die Verbindungen zwischen Politik und Mafia berichtet. 
Dabei bieten auch die verschiedenen Mafias gruselige Informationsquellen: Die malträtierten Leichen ihrer Opfer werden oft mit Denunziationen gespickt. Zudem tauchen sogenannte narco-mantas auf, große Transparente an Autobahnen, voll gekritzelt mit Hinweisen und Anklagen. Gemeinsamer Tenor der Kommunikationsabteilung der Mafias ist, dass Politik, Polizeihierarchie und Militärs einen Teil der Mafia (insbesondere das Kartell von Sinaloa unter Joaquín „El Chapo“ Guzmán) schützten und unfairerweise nur die anderen attackieren würden. „El Chapo“ floh 2001, kurz nach Amtsantritt von Präsident Fox, aus einem Hochsicherheitsgefängnis und wird – so die Gerüchte – immer mal wieder in Luxusrestaurants im Norden des Landes gesichtet. Auch hat er es eben in der US-Zeitschrift Forbes auf die Liste der Milliardäre geschafft. Interessanterweise soll u.a. Medina Mora, Polizeiminister Mexikos und intimer Vertrauter von Präsident Calderón, auf der Gehaltsliste des Sinaloa-Kartells stehen. In Guerrero klagen die sich benachteiligt fühlenden Mafiagruppierungen in ihren Kommuniqués insbesondere die Kollaboration des Militärs mit Rogaciano Alba an.

In diesem Klima der Gewalt behauptet der sozialdemokratische PRD-Gouverneur von Guerrero, Zeferino Torreblanca, die sozialen Proteste gegen die Militarisierung sowie die Arbeit der MenschenrechtsverteidigerInnen würden „aus illegalen Quellen“, also vom Drogenhandel bezahlt. Er brauche keine Beweise dafür, das zeige doch der gesunde Menschenverstand. Diese Aussage, die Torreblanca als Kommentar zu einer Großdemonstration in Chilpancingo am „Tag des Militärs“ machte, bezeugt eine neue Qualität bei der Kriminalisierung von sozialem Protest. Diffamierungen dieser Größenordnung sind nun möglich, weil im Februar in einigen Städten an der Nordgrenze zu den USA plötzlich Straßenblockaden gegen die Militärpräsenz auftauchten: Hunderte vermummte Protestierende, meist Jugendliche, Frauen mit Kindern und Alte aus den Armenvierteln legten Städte wie Monterrey lahm. „Äußerst seltsam“ fand ein Mitglied der „Anderen Kampagne“ von Monterrey die Proteste im Gespräch mit der auf den „Drug War“ spezialisierten Gegeninformations-Plattform Narconews, er hätte nichts von einer Mobilisierung gehört und auch kein einziges von anderen Mobilisierungen bekanntes Gesicht gesehen. Schnell wurde klar, dass die Drogenmafia die Protestierenden gegen Bezahlung angeheuert hatte. Interessanterweise verhaftete die Polizei trotz tagelanger „Proteste“ mit brennenden Barrikaden nur wenige Leute, die nach wenigen Stunden gegen rekordverdächtig niedrige Kautionen wieder freigelassen wurden. 

Die dubiosen narco-protestas hatten zwei Effekte: Erstens befürwortet ein Großteil der Bevölkerung die sofortige Militarisierung ihrer Städte. Und zweitens steht nun jeglicher sozialer Protest sofort unter dem Generalverdacht, von der Mafia bezahlt zu sein. War bisher die Verbindung von Guerilla mit dem Drogenhandel ein Hauptansatzpunkt der Aufstandsbekämpfung gemäß CIA-Handbuch, so wird nun alles als Mafia diffamiert, was sich bewegt. So dreht sich der von der Regierung medial inszenierte „Krieg gegen die Drogenmafia“ immer mehr gegen die sozialen Bewegungen. Gerade am Beispiel Guerrero wird glasklar deutlich, dass das Militär nicht selten genauso ein Bestandteil des lukrativen Drogengeschäfts ist wie Polizei und Politik. Wie eng Militär und Drogenmafia nicht nur auf lokaler, sondern auch auf höchster Ebene verknüpft sind, zeigt das brisante Beispiel, das der Journalist Miguel Baldillo, Chefredakteur der Zeitschrift Contralínea veröffentlichte: Der berüchtigte General Arturo Acosta Chaparro sei wieder im Dienst. Acosta Chaparro war zuständig für die militärische Vernichtung der Guerrilla im Guerrero der 70er-Jahre und wanderte wegen seiner umfangreichen Drogengeschäfte im Jahr 2000 ins Gefängnis. Für die mehreren hundert von ihm zu verantwortenden Morde in der Zeit des schmutzigen Krieges wurde er gar nie angeklagt. 2007 vorzeitig entlassen, rehabilitierte ihn die Regierung Calderón und zeichnete ihn für seine Verdienste fürs Vaterland aus. Heute soll er laut Miguel Baldillo eine klandestine Spezialeinheit der Armee im mexikanischen Südosten befehligen, zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität mit Methoden des schmutzigen Krieges. Die brutalsten counter-insurgency-Folterknechte sind also wieder im Geschäft, um der schwächelnden Regierung im verzweifelten Krieg gegen den Drogenhandel zu Hilfe zu kommen. Und selbstverständlich sind auch die USA nicht weit, die nationale Sicherheitsinteressen anmelden und befürchten, dass Mexiko zum failed state werde. Um dem südlichen Nachbarn in seinem ehrenhaften Kampf gegen die Mafia zur Seite zu stehen, wird laut über eine direkte militärische Intervention nachgedacht. Im Rahmen der Mérida-Initiative gehen schon mal Aufträge im Wert von Hunderten von Millionen Dollar an US-Firmen aus dem militärisch-industriellen Komplex – auch eine Art Konjunkturprogramm.

Der Autor arbeitet bei medico international, Schweiz.