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Mehr Bewegung oder mehr Bürokratie

Nach dem Referendum vom 15. Februar kann Hugo Chávez 2012 erneut kandidieren

Im Jahr 1821 entschied die Schlacht von Carabobo die Unabhängigkeit Venezuelas von der spanischen Krone. Wie damals Simón Bolívar will 200 Jahre später Hugo Chávez als dessen Wiedergänger und Befreier des Subkontinents von kolonialem Erbe und Imperialismus in die Geschichtsschreibung eingehen. Seit der Zustimmung zu einer Verfassungsänderung, die eine Wiederkandidatur des Präsidenten auch nach 2012 zulässt, hat er dazu gute Chancen.

Jan Ullrich
Malte Daniljuk

Hasta el 2021 (Bis ins Jahr 2021) ist schon seit längerem eine Parole der Unterstützer des venezolanischen Staatschefs. Nachdem am 15. Februar mehr als 54 Prozent der wählenden VenezolanerInnen zustimmten, dass die in der Verfassung festgelegte Beschränkung gewählter öffentlicher Ämter auf zwei Amtszeiten aufgehoben wird, könnte die Horrorvorstellung der venezolanischen Oligarchie in Erfüllung gehen: Chávez wird auch bei den kommenden Wahlen im Jahr 2012 wieder als Präsidentschaftskandidat antreten. Im Februar 2009 jährte sich in Venezuela außerdem der zehnte Jahrestag seiner Präsidentschaft. Die Kampagne für die Änderung der Verfassung, die Enmienda, gestaltete sich damit auch zu einer Zwischenbilanz des venezolanischen Transformationsprozesses und mobilisierte mehr als elf Millionen der 16 Millionen Wahlberechtigten an die Urnen. Mit insgesamt 5,2 Millionen Gegenstimmen hat sich aber auch die Opposition gegen das sozialistische Projekt der Regierung deutlich artikuliert. Allerdings ist es der Opposition nicht gelungen, der Regierung ein eigenes politisches Projekt und ein charismatisches Gesicht entgegenzusetzen. 

Insgesamt 16 landesweite Wahlen hat Venezuela seit 1998 erlebt. Bis zur Wahl Nummer 13, der Präsidentschaftswahl 2006, hatte Chávez für die von ihm angeführten Parteien und politischen Anliegen mit etwa 20 Prozent Vorsprung stets deutlichere Mehrheiten gewinnen können. Im November 2007 folgte die erste – wenn auch knappe – Niederlage im Referendum über eine tiefgreifende Verfassungsreform und bei den Regionalwahlen im November 2008 schließlich der Verlust einiger bevölkerungsreicher Bundesstaaten an die Opposition. Mit dem aktuellen Referendum hat sich der Vorsprung der Regierungsparteien vor dem Oppositionsbündnis auf durchschnittlich 10 Prozent verringert – bei stetiger Zunahme der Wahlbeteiligung.
Andererseits hat sich das Regierungslager mit der inoffiziellen Vorentscheidung für die Kandidatenfrage bei den Präsidentschaftswahlen 2012 neue Gestaltungsspielräume eröffnet. Mit den Parlamentswahlen wird der nächste Wahlgang erst im Dezember 2011 stattfinden, was bedeutet, dass nun fast zwei Jahre Zeit ohne Wahlkampagnen vergehen werden. Dabei steht schon jetzt fest, dass der Präsidentschaftskandidat Hugo Chávez heißen wird – ein Sachverhalt, der innerparteilichen Machtkämpfen um die Nachfolge im Präsidentenamt vorbeugt. 

Obwohl es offiziell keine Fraktionen in der PSUV gibt, ist das Lager des Chavismus politisch äußerst heterogenen und unterschiedet sich schon innerhalb den einzelnen Bundesstaaten erheblich. Zusammengeschweißt werden die verschiedenen Ansätze innerhalb der Partei vor allem dadurch, dass ein Sieg der Opposition die Eckpfeiler der bolivarischen Revolution in Frage stellen würde. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass die oppositionellen Gouverneure seit langem die Umsetzung einer neuen Sozial- und Bildungspolitik in den von ihnen regierten Bundesstaaten blockieren; unmittelbar nach ihrem Wahlsieg kam es in den neu gewonnen Regionen Miranda, Carabobo und Tachira zu schweren Übergriffen durch Oppositionsanhänger auf Einrichtungen der bolivarischen Bewegung. Ähnlich wie nach dem Putsch 2002 und dem Generalstreik 2003 war es auch diesmal die Politik der Opposition, die maßgeblich zum politischen Wiedererstarken von Venezuelas Staatschef beigetragen hat. Zur Kampagne gegen die Möglichkeit der Wiederwahl war sie mit Slogan „NEIN ist NEIN!“ in Wahlkampf gezogen. Was sie damit genau meinte, blieb vielen VenezolanerInnen unklar. Weder aus der steigenden Gewaltkriminialität noch den explodierenden Lebenshaltungskosten konnte sie so Kapital schlagen. Im Gegenteil führte die Kampagne der Opposition zu einem kollektiven Gefühl der Alternativlosigkeit zu Chávez.

Dabei ist eine Unzufriedenheit mit der allgemeinen Situation in Venezuela weit verbreitet. Las cosas no están bien hört man in letzter Zeit oft in den Diskussionen der bolivarischen Bewegung. Die zweite Öl-Bonanza Venezuelas (2003-2008) nach den goldenen 70er Jahren scheint mit der weltweiten Finanzkrise und den fallenden Ölpreisen beendet zu sein. Obwohl Venezuela in den letzten Jahren seine Währungsreserven mehr als verdoppeln konnte, steht mittelfristig nicht nur Fortgang der weltweit einmaligen Sozialprogramme auf dem Spiel. Viele StammwählerInnen sorgen sich auch um ihre sprunghaft gestiegenen Einkommen. Diese Sorge begründet sich darin, dass auch die Regierung Chávez bisher daran gescheitert ist, die Lebensqualität der unteren Einkommensschichten von den Bewegungen des Ölpreises unabhängig zu machen. 

Der Versuch der ersten Regierungsjahre, mit massiver Unterstützung von Kooperativen und Kleinproduzenten die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes zu verringern, ist zwar entgegen anders lautender Kritiken nicht gescheitert; die Ergebnisse sind angesichts der aufgewendeten Mittel jedoch enttäuschend. Nach Ansicht des Soziologen Nelson Freitez, der als Spezialist in Solidarischer Ökonomie an der Ausarbeitung der Verfassung von 1999 beteiligt war, ist es bisher nicht gelungen, mit der Gründung von Kooperativen ein neues gesellschaftliches Verhältnis von Konsum und Produktion zu etablieren.
Der Aufbau eines dezentralen und partizipativen Wirtschaftsmodells wird gegenwärtig dadurch in den Hintergrund gedrängt, dass die staatliche Wirtschaftsförderung auf neue „sozialistische“ Großbetriebe im Staatsbesitz fokussiert. Dabei besteht nicht nur das Problem, dass es in Venezuela seit den 1970er Jahren reichhaltige Negativerfahrungen mit Staatsunternehmen gibt, was Fragen der Effektivität und die Korruptionsanfälligkeit betrifft. Von einer konsequenten Umsetzung der Mit- oder gar Selbstverwaltung durch die Belegschaft kann auch in den neuen staatlichen Unternehmen keine Rede sein. Auch dem Anspruch, die schnell steigende inländische Konsumnachfrage annähernd zu befriedigen, konnte bisher keine der vielen wirtschaftspolitischen Initiativen der Regierung Chávez gerecht werden. So hat sich der Import von Konsumgütern nach Statistiken der CEPAL seit 2004 mehr als verdreifacht. Zwar hat es die Regierung Chávez geschafft, mit einem enormen Wirtschaftswachstum die Krise 2002/2003 zu bewältigen. Die stärksten Zuwächse hatte in den letzten Jahren jedoch der privatwirtschaftliche Sektor zu verzeichnen. 

Besondere Sorgen bereiten der politischen Basis des venezolanischen Transformationsprozesses die staatlichen Angestellten und Funktionäre – teilweise auch aus den eigenen Reihen. Hatten die sozialen Bewegungen Venezuelas in den ersten Jahren der Regierung Chávez noch erfolgreich bürokratische Strukturen zerbrechen können und das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft durch partizipative Instrumente der demokratischen Entscheidungsfindung neu definiert, haben sich in den letzten Jahren wiederum die Politprofis breit gemacht. Zu besonderem Unmut führt bei vielen AktivistInnen, dass zum Teil dieselben Gesichter der alten Eliten, deren Ablehnung die ideologische Grundlage des Chavismus ausmacht, nun in den eigenen Reihen Fortschritte zu behindern wissen. Viele Kritiker aus linken Basisbewegungen, wie Carmen Polido vom gewerkschaftsnahen Colectivo Libre Aquiles Nazoa in Mérida, machen vor allem den klassenübergreifenden Charakter der neuen Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) dafür verantwortlich, dass der gesellschaftliche Wandel in den letzten beiden Jahren ins Stocken geraten ist. „Die Regierung Chávez hat in den letzten Jahren die kapitalistische Demokratie in Venezuela mit wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen relegitimiert. Dabei hat sie die Arbeiteroganisationen und die sozialen Bewegungen zu propagandistischen Wahlhelfern degradiert, anstatt die vorhandenen Ressourcen der Bewegungen für Schaffung einer sozialistischen Perspektive zu nutzen“, kritisiert Polido die Fokussierung auf inhaltsarme Wahlkampagnen.

Doch auch wenn aus den sozialen Bewegungen Kritik geübt wird und vereinzelte Stimmen ein Modell der kollektiven Führung fordern, ist in Venezuela unumstritten, dass nur die Person Chávez eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor 1999 verhindern kann, als die Vertreter der jetzigen Opposition eine grausame politische Repression und eine nachhaltige soziale Marginalisierung verantworteten. No volverán (Sie kehren nicht zurück) war deshalb die eigentliche Botschaft der 6,3 Millionen Wählerinnen, die in der Person Chávez den einzigen Garanten dafür sehen, dass weder die Opposition außerhalb der chavistischen Parteien, noch die Rechte im eigenen Lager wieder an die Macht gelangt. Unter der Bedingung, dass die politischen Lager sich in der aktuellen Form stabilisieren, sieht es so aus, als ob Hugo Chávez sich nur selber besiegen kann und sein Projekt bis 2021 fortsetzen wird. Dafür muss die Bevölkerung ihn noch zweimal wiederwählen. Ob er dabei seinen Vorsprung vor der Opposition wieder ausbauen kann, wird entscheidend davon abhängen, inwieweit er seiner Basis eine Perspektive auf Emanzipation bieten kann, die über rein materielle Verbesserungen hinausgeht – denn dass eine Einschränkung der partizipativen Elemente seine Projekte ernsthaft gefährdet, hat auch die Niederlage im Referendum über die Verfassungsänderung 2007 demonstriert. In jedem Fall hat er inzwischen gute Chancen, neben Simón Bolívar in den Geschichtsbüchern aufzutauchen.