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Vergessene Proteste

Internationalismus und Antirassismus in der BRD 1964-1983
Cornelia Gunßer

Das Buch „Vergessene Proteste“ stellt auf der Basis vieler vom Autor Niels Seibert zusammengetragener Quellen Diskussionen und Aktionen von den Anfängen der Außerparlamentarischen Opposition 1964 bis zum Beginn einer sich konstituierenden antirassistischen Bewegung in der BRD Anfang der 1980er Jahre dar. Seibert vergleicht sie mit denen heute aktiver Gruppen und Netzwerke. Wichtig sind dabei die Inhalte und Formen der Proteste, aber auch die Subjekte der Kämpfe. Die zum Teil bebilderten Beispiele lesen sich auch für damals noch nicht Beteiligte spannend wie Live-Reportagen.

Das Buch beginnt mit einem Zitat von Rudi Dutschke von 1965 über die Notwendigkeit internationalistischer Zusammenarbeit. Solidarität mit weltweiten Kämpfen war damals ein Ausgangspunkt der Bewegung in Deutschland. Niels Seibert belegt, was kaum bekannt ist: Die Anstöße zu einer Vielzahl von Kampagnen mit internationalistischer und antirassistischer Stoßrichtung kamen von lateinamerikanischen, afrikanischen und westasiatischen StudentInnen (überwiegend männlichen Geschlechts), die politische Erfahrungen mitbrachten, von organisierten ArbeitsmigrantInnen mit anarchosyndikalistischem oder kommunistischem Hintergrund sowie von Befreiungsbewegungen, Black Panthern und meist afroamerikanischen GIs. Ihr Auftreten verdeutlichte, dass sie keine Opfer, sondern politisch handelnde Subjekte waren.

Seibert zeigt im Rückblick die Zusammenhänge zwischen (oft nicht explizit so benanntem) Rassismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Kriegen in aller Welt bei den damaligen Aktionen: Zum Beispiel bei den Protesten 1964 gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombé, der an der Ermordung Lumumbas beteiligt war, oder den Aktionen 1968 gegen die Friedenspreisverleihung an den senegalesischen Präsidenten Léopold Senghor, bei denen es um blutige Unterdrückung von Studenten- und Gewerkschaftsprotesten, aber auch um sein theoretisches Konzept der „Négritude“ ging. Über die Proteste gegen den Vietnamkrieg meinen wir alles zu wissen, aber im Buch steht kaum Bekanntes über den Widerstand von US-Soldaten, Desertion und Fluchthilfe 1966-1972.

In den damaligen Kampagnen wurde im Gegensatz zu heute immer ein antikapitalistischer Ansatz deutlich, vor allem gegen Firmen und Konzerne, die hier und anderswo von Rassismus profitieren. Ein Beispiel im Buch ist die Kampagne gegen deutsche Korvetten für Portugal und den Cabora Bassa-Staudamm in Mosambik, bei der es anders als bei heutigen Kampagnen gegen Staudammprojekte nicht primär um Umweltzerstörung, sondern um seine Funktion zur Aufrechterhaltung des Kolonialismus und der Apartheid ging. Boykott von am Bau beteiligten Firmen wie Siemens war damals Thema in der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU). Siemens-Ingenieure waren an der Kampagne beteiligt. 

Seibert beschreibt auch Aktionen gegen Charterabschiebungen und Zurückweisungen an Grenzen und Flughäfen, die die Regierenden 1972 allerdings nicht wie heute mit dem „Eindämmen der Flüchtlingsströme“, sondern mit dem Unterbinden von politischem Widerstand, z.B. gegen das Regime im Iran und die Nahostpolitik, sowie von wilden Streiks von ArbeitsmigrantInnen begründeten.
Flucht und Asyl war in Deutschland antikommunistisch besetzt und wurde für Linke erst Thema im Zusammenhang mit dem Putsch in Chile 1973. Seibert stellt dar, dass es daraufhin nicht nur eine breite Solidaritäts-, sondern auch eine Fluchthilfebewegung gab. Sie stellte erstmals Forderungen nach freier Einreise und offenen Grenzen, auch wenn dies vor allem für brutal verfolgte politische Linke galt.

Ein Unterschied zwischen den im Buch dargestellten Bewegungen und heute ist nicht nur, dass es derzeit weltweit weniger Kämpfe gibt, die wir als „politisch“ wahrnehmen und die uns zur Solidarität motivieren. Folge einer stärkeren Orientierung auf die Situation in Deutschland und der EU ist auch, dass Ansatz vieler antirassistischer Gruppen vor allem Unterstützungsarbeit für „Opfer“ von staatlichem Rassismus ist, was paternalistischen Tendenzen Vorschub leistet. Wie Seibert schreibt, bedurfte es erst der Selbstorganisation von Flüchtlingen, die mit Feststellungen wie „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ einen Bezug zu imperialistischer Ausbeutung und Zerstörung herstellen und sich selbst als Subjekte sichtbar machen. Ähnlich ist es mit Gruppen aus dem globalen Süden, mit denen gemeinsam z.B. im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel neue Ansätze einer „transnationalen“ antirassistischen Bewegung entstanden.

Es ist kein Zufall, dass in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung (auch der Linken) vergessen gemacht wurde, dass bestimmte Kampagnen insbesondere in den Anfangszeiten der sogenannten 68er-Bewegung von nicht-deutschen AktivistInnen initiiert wurden. Seiberts Buch ist ein materialreicher Beweis dafür, dass es schon seit den 1960er Jahren auch in Deutschland insbesondere von MigrantInnen angestoßene Diskussionen über (zwar oft nur als „Nebenwiderspruch“ benannten) Rassismus und Aktionen gegen rassistische Verhältnisse hier und weltweit gab. Die Aufarbeitung dieser Geschichte durch Niels Seibert, der selbst in der „neuen“ antirassistischen Bewegung aktiv ist, kann und sollte dazu anregen, sich heute – trotz aller Unterschiede der Situation und notwendiger Kritik mancher Positionen – darauf zu beziehen und daraus zu lernen. 

Niels Seibert, Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964-1983, UNRAST-Verlag, Münster, Mai 2008, 13,80 Euro