ila

Sozialstrukturen in Lateinamerika

Grundlegendes Lehrbuch zum Verständnis der lateinamerikanischen Realität
Zeljko Crncic

Lateinamerika ist in den letzten Jahren bedeutenden Umwälzungen unterworfen. Auf die Schuldenkrise der 80er Jahre folgte die neoliberale Wende, die Anfang des Jahrtausends in einigen Ländern durch alternative Politik- und Ökonomiemuster abgelöst worden ist. Für die einen steht die Region aktuell für eine Weltgegend, in der Regierungen erneut nach Lust und Laune in die freie Marktwirtschaft eingreifen und eine viel zu entspannte Beziehung zu Produkten wie Coca haben, für die anderen ist Lateinamerika zur Zeit Anlass zu Hoffnungen auf ein anderes, gerechteres Modell der Politik und der wirtschaftlichen Entwicklung. 

Aber wie sehen die Entwicklungen jenseits von medienwirksamen Fernsehauftritten wortgewaltiger Präsidenten, von Sprühaktionen gegen das „böse Kraut“ in den Anden und von dramatischen Geiselbefreiungen im Dschungel aus? Eine Antwort versucht das Buch „Sozialstrukturen in Lateinamerika“ von Dieter Boris, Therese Gerstenlauer, Alke Jenss, Johannes Schulten und Kristy Schank zu geben. Aus verschiedenen Blickrichtungen und unter Berücksichtigung diverser Forschungsfelder hat der Soziologieprofessor aus Marburg mit seinen MitarbeiterInnen Aufsätze lateinamerikanischer Forscher und Forscherinnen zusammengetragen, ausgewählt und ins Deutsche übersetzt. Die Spanne der übersetzten Texte reicht dabei von der Beschäftigung mit den Eliten bis zur Situation der Jugend in der Region. 
Am Beispiel Argentiniens zeigt die Soziologin Maristella Svampa eine erstaunliche Annäherung der alten Oligarchien an die PeronistInnen, ihre ehemaligen Erzfeinde, auf. PeronistInnen und die alte Oligarchie feiern aufgrund der neoliberalen Wende und ihrer Implikationen einträchtig in denselben Clubs und haben ihre gesellschaftliche Scheu vor einander verloren. Ihre Lebensgewohnheiten und ihre Wohnsituation nähern sich einander an. 

Die folgenden Arbeiten beschäftigen sich mit der ökonomischen Situation und ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Gabriel Kessler und Maria Mercedes di Virgilio beleuchten in ihrem Beitrag die Ausformung einer Schicht von „neuen Armen“, wie sie in Argentinien zu beobachten ist. Diese ehemaligen Mittelschichtangehörigen sehen sich einem sozialen Abstieg gegenüber und müssen sich entscheiden, ob sie ihre Kinder weiterhin auf Privatschulen schicken wollen oder wahlweise die Krankenversicherung zahlen möchten. Beides war wegen des fehlenden Geldes nicht möglich. Anschaulich zeigen die beiden Autoren, welche Strategien die „neuen Armen“ einsetzen, um das fehlende Geld durch ihr Verhandlungsgeschick – das ihnen verbliebene Sozialkapital – in öffentlichen Einrichtungen zu ersetzen. 

Francisco Zapata beschäftigt sich mit der Lage der Gewerkschaften in der Region. Die neoliberale Wende, ihre Implikationen im Arbeitsrecht und bei der Organisierung der Mitglieder von Gewerkschaften haben zu einer bedeutenden Schwächung der ehemals starken ArbeiterInnenvertretungen in Ländern wie Argentinien geführt. Zudem ist ein großer Sektor von Beschäftigten entstanden, die sich mit informellen Jobs durchschlagen müssen. Auch die Situation der Arbeitsuchenden hat sich in den letzten Jahren verändert. María Cristina Bayón weist darauf hin, dass der Begriff der Arbeitslosigkeit in den verschiedenen Ländern durchaus verschieden konnotiert ist. Während in Argentinien mehr Wert auf einen stabilen Arbeitsplatz gelegt wird, schlagen sich viele Menschen in Mexiko mit prekären Arbeiten durch. Die beiden Beispiele veranschaulichen den unterschiedlichen Umgang mit fehlenden Einkommensquellen. Bayón kommt zu dem Schluss, dass die sozialen Probleme nicht nur auf die Ärmsten reduziert werden können und dass ungleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt von Generation zu Generation reproduziert werden. 

Die mexikanische Wissenschaftlerin Fabiola Escárzaga behandelt in ihrem Beitrag die Rolle der indigenen Bewegungen. Sie zeigt auf, dass die Dezentralisierungsmaßnahmen im Zuge der neoliberalen Anpassung für den indigenen Sektor auch positive Effekte zeitigten. So wurde es den Indigenen möglich, auf lokaler Ebene mehr Einfluss zu gewinnen und ihre politische Position mit den Jahren zu verbessern. Dabei sind selbstverständlich lokale Unterschiede zu berücksichtigen. Kam es in Ländern wie Bolivien zu einer handfesten politischen Mobilisierung, die die Wahl von Evo Morales zum Präsidenten zum Ergebnis hatte, blieb die Situation der Indigenen in Peru weiterhin schwierig. Zwar trat 2006 Ollanta Humala als Präsidentschaftskandidat an, der soziale Sektor des Landes war jedoch lange Zeit gespalten und traumatisiert. Nur zaghaft sind nach dem brutalen Krieg der Guerilla und der Repression der Sicherheitskräfte während der 80er Jahre erste Organisationsbemühungen des indigenen Sektors zu beobachten. Des Weiteren enthält das Buch Beiträge zur Migrationsproblematik, zu Fragen des Geschlechterverhältnisses, zur Situation auf dem Land, zur Entwicklung der Technokratie, zur Situation der Jugend und zur Urbanisierung. 

Der Sammelband von Dieter Boris und seinen MitarbeiterInnen bietet einen Einblick in das Handeln kollektiver sozialer Akteure, in Konflikte und Umwälzungen, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten waren. Soziale Klassen mit ihrem Veränderungspotential bilden zwischen der politischen und ökonomischen Ebene eine wichtige Scharnierfunktion. Eine Gesellschaft lediglich von ökonomischer oder politischer Warte aus zu betrachten erscheint den AutorInnen unvollständig. Anhand eines ausgewählten sozialen Segmentes werden die genannten Prozesse exemplarisch für ein Land oder eine Region dargestellt. Somit soll die sich verändernde Rolle der sozialen Klassen des Subkontinents in ihrer ganzen Vielfalt und Tragweite berücksichtigt werden. 

Diese Prozesse besser zu verstehen ist ein wichtiges Anliegen des Buches. Eine den Texten vorangestellte Einführung in die Grundbegriffe der Sozialstrukturanalyse sowie die Darstellung historischer Abläufe im Bezug auf die sozialen Strukturen ist beim Verstehen sehr hilfreich. Ein Nachteil besteht in der Vernachlässigung der brasilianischen Realität. Die Aufsätze sind theoretisch anspruchsvoll, das Buch ist kein Schmöker über die soziale Lage auf einem fernen Kontinent. Dies war jedoch auch nicht die Absicht der Verfasserinnen und Verfasser. Alles in Allem trägt der Band zu einem besseren Verstehen derjenigen Prozesse bei, die zu Situationen wie den Massenprotesten in Argentinien, den indigenen Aufständen in Bolivien und Ecuador oder zur gefahrvollen Migration vieler Menschen in die Wohlstandszonen des Nordens beitragen. Es hilft, eine Wissenslücke zu schließen, die die gängige Literatur allzu oft offen lässt.

Boris, Dieter; Gerstenlauer, Therese; Jenss, Alke; Schulten, Johannes; Schank, Kristy: Sozialstrukturen in Lateinamerika: Ein Überblick, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, 339 Seiten, 29,90 Euro