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Als wäre alles erst gestern gewesen

In seinem neuen Roman sucht der Argentinier Antonio Dal Masetto seine italienischen Wurzeln
Klaus Jetz

Antonio Dal Masetto ist uns bislang begegnet als Autor höchst spannender Kriminalromane, die in der argentinischen Provinz, im fiktiven Mikrokosmos Bosque, angesiedelt sind. Er schreibt aber auch historische Romane oder besser Kriminalromane mit historischer Dimension. In deutscher Übersetzung erschien zuletzt „Unten sind ein paar Typen“ (Besprechung in ila 309), Dal Masettos Auseinandersetzung mit der letzten, der brutalsten aller argentinischen Militärdiktaturen. Er sei ja nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch Dieb und Spion, ein escritor-espía, der bei der Zeitungslektüre oder in der Kneipe immer auch nach einer ungewöhnlichen Nachricht, nach einer Story Ausschau halte, nach Stoff mitten aus dem Leben, der sich für einen spannenden Roman eigne.

In dem gerade erschienenen Roman „Als wäre alles erst gestern gewesen“ hat Dal Masetto auch selbst Erlebtes verarbeitet. Der Roman ist historisch und dokumentarisch, Memoiren- oder Zeugnisliteratur. Die Handlung ist in Italien angesiedelt, in der Zeit vor, zwischen und nach den beiden Weltkriegen, thematisiert wird in dem tragischen Familienepos das miserable Leben armer Bergbauern und Fabrikarbeiter rund um den Lago Maggiore, die den politischen Ereignissen, dem erstarkenden Faschismus und der zunehmenden politischen Gewalt recht hilflos gegenüberstehen. Die Protagonistin Agata und ihre Familie wandern schließlich Anfang der 50er Jahre nach Argentinien aus. Auch Dal Masetto, der 1938 im norditalienischen Intra geboren wurde, emigrierte im Alter von zwölf Jahren mit seinen Eltern an den Rio de la Plata.

Im Roman erzählt die 80jährige Agata, für die wohl Dal Masettos Mutter das Vorbild lieferte, von den ärmlichen Verhältnissen in ihrer Kindheit. Sie erinnert sich genau an ihre Heimat, an die schwere Arbeit und die Arbeitskämpfe in den Textilfabriken sowie an die prügelnden Faschisten, die im Sold der Fabrikbesitzer stehen und Streiks niederknüppeln. Agata erzählt von Jungen und Männern, die in beide Weltkriege und in den Abessinienfeldzug ziehen und oft nicht zurückkehren, von der Wirtschaftskrise, dem Terror und den Razzien des faschistischen Regimes, dem Bombenterror aus der Luft, den Gerüchten vom Ende Mussolinis und über Erfolge der Alliierten, von Erschießungen und Massakern, dem Widerstand der Partisanen, die nachts von den Bergen hinabsteigen und sich Schießereien mit den Faschisten und bald auch den deutschen Okkupanten liefern. 

Aber auch Persönliches und Privates berichtet die Erzählerin, sie erzählt von dem niemals lachenden Vater, der bettlägerigen Mutter, vom frühen Tod der Eltern, sie erinnert sich an die Zeit im katholischen Mädcheninternat, erzählt von Krankheiten und Todesfällen im Dorf und in der Familie, von Kinderstreichen, ihrer ersten Liebe, von alltäglichen und legendären Dingen, dem genügsamen, mühevollen Leben der Bergbauern und -bäuerinnen, der sie umgebenden großartigen Landschaft am Fuß der italienischen Alpen. Auch an die Fischer und ihre Geschichten von Seeungeheuern und Schiffsunglücken erinnert sie sich, an ihre Kindheit und das Leben, die Gerüche und Sinneseindrücke in der freien Natur, eine Idylle aus einer längst vergangen Welt, ein vermeintliches Paradies, das durch Faschismus und Krieg zugrunde gerichtet wird.

Etwas Mythisch-Episches scheint diesem Ort anzuhaften nach all den Jahren. Die neue Heimat hat die Erinnerung an das Herkunftsland nicht überlagert: „Jetzt, wo ich auf die achtzig zugehe und ebenfalls Großmutter bin, in diesem Land der Ebenen und weiten Horizonte, in diesem anderen Dorf in der Provinz, in der wir leben, seit wir nach dem Krieg nach Argentinien gekommen sind, denke ich noch immer an jene Landschaft und jene Leute, und ich staune selber darüber, dass ich täglich etwas Neues in meinen Erinnerungen entdecke... Wer in dieser lauten und hektischen Welt lebt, denkt bestimmt, dass es Geschichten aus einem unwirklichen Land sind, Geschichten, die im Nebel einer Zeit verschwunden sind, die ihnen immer fremd sein wird. Für mich hingegen ist es immer mehr so, als wäre alles erst gestern gewesen.“
Agatas Dorf heißt Tarni, doch das wird man vergeblich auf der Landkarte suchen, denn hinter dem Anagramm verbirgt sich Dal Masettos Geburtsort Intra. Der Autor hat sich in die Rolle seiner Mutter versetzt, er verschmilzt in seinem Buch Ethnographie und Historiograhie, um Belletristik zu schaffen, er reicht all die Testimonials, Erlebnisse und Erfahrungen an die LeserInnen weiter, die die Mutter ihm sicherlich unzählige Male erzählt hat. Berichte fließen ein, die Dal Masetto in Argentinien und in Italien bei Familienangehörigen in Erfahrung gebracht hat, Dinge, an die er sich selbst erinnern kann, Erzählungen der riesigen italienischen EmigrantInnengemeinde am Rio de la Plata. Der Roman verleiht also dem kollektiven Gedächtnis der italienischen Einwanderung in Argentinien Ausdruck und ist eine novela testimonio in bester lateinamerikanischer Tradition.

Antonio Dal Masetto, Als wäre alles erst gestern gewesen, Rotpunktverlag, Zürich 2008, 260 Seiten, 21,50 Euro