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Folclor Urbano – Retter der Volksmusik

Afrokolumbianische Bands wie Profetas und Choc Quib Town entwickeln neuen Musikstil

„Eso es el gran boom. Eso va a pasar en América Latina!” Pablo Fortaleza, Sänger der kolumbianischen Gruppe Profetas ist sich ganz sicher: Bald wird der große Boom ausbrechen – überall in Lateinamerika! Denn just in diesem Moment entsteht gerade ein neuer musikalischer Trend, versichert er. Es gibt bloß noch keine einheitliche Bezeichnung für das, was da überall in einer Mischung aus traditioneller Folklore und modernem HipHop-, Rap- und Dancehall-Style entsteht. Der Begriff Folclor Urbano beschreibt noch am besten, worum es geht, findet der 24jährige Afrokolumbianer. Nämlich um eine Veränderung, eine Weiterentwicklung: „Wir leben in Bogotá, wo sich aufgrund der Flüchtlinge, der Vertriebenen und der Arbeitsuchenden die Musik der afrokolumbianisch geprägten Küstenregionen mit jeder Menge Latino-Einflüssen vermengt hat.“

Thomas M. Schulz

Auch „Pablo Fortaleza“, der mit bürgerlichem Namen Pablo Belalcazar Paz heißt, ist ein Nomade der Neuzeit. Er hat die erste Hälfte seines Lebens in Puerto Tejada im Departement Cauca verbracht. Bei den Profetas, bei denen Pablo zusammen mit der afrikanischstämmigen Sängerin Antombo Langangui optisch und gesanglich im Mittelpunkt steht, hat es über zehn Jahre gedauert, bis im Frühjahr 2008 endlich das erste Album Amor y Fortaleza in CDs gebrannt vorlag. Das Ergebnis ist umwerfend: Trotz ihrer Jugend haben die Musiker einen unverkennbaren Sound kreiert, der von eingängigen Melodien, Reggae- und Cumbia-Rhythmen sowie von dem Kontrast zwischen Pablos härteren Rap- und Ragga-Einlagen und Antombos jazziger Stimme lebt. Wenn Antombo singt, öffnet sich der Himmel. Kaum einer der heute international erfolgreichen Latino-Acts hat ein so gutes Debüt-Album hingelegt wie es die Profetas geschafft haben. Zumal unter widrigen Bedingungen, denn besagter eigenständiger Sound entstand praktisch im Wohnzimmer des Profetas-Gitarristen und Produzenten Julián Guevara (alias „David King“). Das Ergebnis ist HipHop, Reggae und Rock – und viel, viel mehr.

„Viele tolle Gruppen in Kolumbien haben nie die Möglichkeit, ein Album zu produzieren“, formuliert Pablo ehrfurchtsvoll. Jedoch auch sie sind, wie die Profetas, Teil einer Musikszene, eines eigenen Genres, für das es noch nicht einmal einen Namen gibt. „Einige nennen es Electro-Cumbia, andere versuchen den Namen Electro-Cumbé zu etablieren“, erklärt Pablo. Die Auflistung nur eines Teils dessen, was da musikalisch vermischt wird, ist so lang wie nichtssagend für den Otto-Normaleuropäer, der sich nicht gut mit den kolumbianischen Küsten – Pazifik und Atlantik – auskennt: Bullerengue, Champeta, Chalupa, Cumbia, Currulao, Música de Gaitas y Tambores, Música Montañera, Porro.

Nur eines sei klar für das immer zahlreicher werdende Publikum: „Die Leute wollen nichts Pures, sie wollen die Fusion der unterschiedlichen Lebens- und Musikstile!“ Nicht ohne Grund waren die Profetas auf dem Plakat zu Rock al Parque in Bogotá Anfang November, dem größten Open Air Festival Lateinamerikas, deutlich sichtbarer als Salsamuffin-Erfinder Sargento García, aber auch fetter angekündigt als die weltweit angesagte britische Bloc Party. Pablo, der wie so viele Künstler trotz enormen Talents bisher nicht vom Musikmachen leben kann, wundert sich darüber nicht: „Die Leute lieben uns. Wir sind in Bogotá sehr bekannt, weil wir auch dort spielen, wo sonst nie jemand auftreten will.“

Die trotz ihres Gründungsjahres 1997 immer noch junge Gruppe („Wir waren Kinder, als wir die Profetas gründeten, heute sind wir alle Anfang 20“, sagt Antombo) vergisst nämlich nie, wo sie herkommt und hingehört. Regelmäßig treten die „Propheten“ kostenlos in den ärmeren Stadtvierteln der Acht-Millionen-Stadt auf. Dort, wo kaum zu unterscheiden ist zwischen Gewalt wegen Armut, Bandenkriegen, paramilitärischem Terror und dem brutalen Vorgehen des Staatsapparates. Dort, wo schon mal der Strom ausfallen kann mitten im Konzert und wo allein das Beschaffen der notwendigen Anlage eine logistische Hochleistung darstellt.

Mitte Dezember 2008 ist ein großes Konzert in Cali im Süden des Landes geplant, im Elendsgürtel „Aguablanca“, in dem rund 500 000 der über zwei Millionen Caleños ein Leben in meist bitterer Armut führen. Andere würden das „Benefizkonzert“ nennen, für die Profetas ist es ein Stück Daseinsberechtigung. „Wir sind bei den Leuten, nicht bei politischen Parteien“, lautet das Selbstverständnis der Band, das Pablo als sozialkritisch definiert: „Wir haben uns nämlich Profetas (Propheten) genannt und nicht Los Negritos Sabrosones (frei übersetzt etwa: „Die leckeren kleinen Schwarzen“), weil unsere Lieder eine Botschaft haben. Hätte ich die Musik nicht, wäre ich heute wahrscheinlich kriminell“, erklärt Pablo den Grund für das soziale Bewusstsein.

Gegenwärtig leben in Lateinamerika und der Karibik 8,6 Prozent der Weltbevölkerung (572 Millionen Menschen). Dabei ist der Anteil der schwarzen Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik rund vier Mal so hoch wie derjenige der Indigenen. Fast jedeR dritte Lati-no/a ist schwarz, schätzt die CEPAL, die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik. Die heute weltweit zunehmende Verstädterung hat in Lateinamerika ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts für enorme Völkerwanderungen gesorgt. Rund ein Drittel der Menschen in Lateinamerika und der Karibik lebt in Slums, allein zwischen 2001 und 2005 ist die Bevölkerung in städtischen Elends- und Spontansiedlungen von 128 auf 152 Millionen Personen angestiegen.1 Doch neben den neuen und vermeintlich „modernen“ Lebensstilen verbreitet sich auch ein neuer Kulturbegriff in den Städten. 

Oft wird vergessen, dass sich außer der neuen städtischen Armut, die sich in Bau- und Wohnformen, in informellen Selbstbauquartieren und desolaten Hüttensiedlungen manifestiert, auch eine neue Kultur verbreitet. Sie ist globaler, vernetzter und mischt rurale Traditionen mit urbaner Moderne. Gerade den politisch kaum repräsentierten Afro-LateinamerikanerInnen gelingt es dabei zunehmend, über die Kultur, über Tanz, Gesang und Rhythmus in den Vordergrund zu gelangen. Pablo Fortaleza ist ganz sicher: „Afrolateinamerikanische Rhythmen sind der nächste große Trend!“ Bisher wurden diese Einflüsse jedoch für weiße KünstlerInnen zum Markenzeichen und brachten Carlos Vives, Shakira oder Cristina Aguilera den internationalen Durchbruch – so wie einst Elvis und die Rolling Stones den Blues vermarkteten.

Doch worin besteht die Identität der Schwarzen? Für Antombo Langangui, Sängerin der Profetas, haben die Afrodescendientes (wörtlich: „von Afrikanern Abstammenden“) viele Gemeinsamkeiten. Antombo stammt ursprünglich aus Gabun, kam erst mit sieben Jahren nach Kolumbien, wo sich die heute 24-Jährige nach dem Tod ihrer Eltern allein durchs Leben schlagen musste. Sie beschreibt folgenden Eindruck: „Schwarz zu sein ist mehr als nur die Hautfarbe. Das hat mit Verhaltensweisen zu tun, mit der Art und Weise wie du gehst, dich bewegst. All das ist eine Sprache für sich, ein Feeling, das wir in unsere Musik übertragen. Wir Schwarzen sind zwar nicht alle gleich, haben aber alle etwas gemeinsam. Deshalb grüßen wir uns gegenseitig auf der Straße, ohne uns auch nur zu kennen.“ 

Derzeit arbeiten die Profetas mit an einem Filmprojekt des in den USA lebenden TV-Produzenten Renzo Devia. Der hat lange für die US-Sender HBO und MTV gearbeitet, ist vor allem aber kolumbianischer Abstammung und Regisseur von drei wundervollen Musikvideos, die er für die Profetas gedreht hat. In einem Dokumentarfilm will Devia vergleichen, wie Schwarze in Brasilien, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Panama oder Venezuela leben. Die Musik der Afro-Latinos soll wie ein roter Faden verdeutlichen, was die Nachkommen der einst gewaltvoll auf den Kontinent gebrachten SklavInnen im dritten Jahrtausend noch verbindet. „Es scheint ein schönes Filmprojekt zu werden“, sagt Pablo begeistert, „denn die Leute erzählen von ihrer Lebensrealität. Sehr viele der fast 200 Millionen Afrodescendientes in Lateinamerika und der Karibik leben unterhalb der Armutsgrenze – und kaum jemand weiß von dieser Realität.“ Somit baut der Film eine Brücke vom Dorf in die Millionenmetropolen, von der rein schwarzen Kultur zur coolen Großstadtmelange, zu dem Stilmix, der wohl das Beste ist, was die oft grausam wütende Globalisierung geschaffen hat.