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Die Verpflichtung nicht zu schweigen

Abschied von der deutsch-argentinischen Menschenrechtlerin Ellen Marx (1921-2008)

Am 24. März 1921 wurde Ellen Marx in Berlin geboren, am 11. September diesen Jahres starb sie im jüdischen Altersheim Hogar Alfredo Hirsch in der Provinz Buenos Aires. Ellen Pinkus de Marx, wie sie nach ihrer Heirat hieß, war in den letzten Jahrzehnten eine der wichtigsten VertreterInnen der argentinischen Menschenrechtsbewegung. Wolfgang Kaleck und Gert Eisenbürger haben unabhängig voneinander Gespräche mit Ellen Marx geführt und aufgezeichnet, ersterer 1999 über ihre Jugend in Berlin und ihre Emigration, letzterer 2002 über ihr Leben in Argentinien. Aus diesem Material haben sie anlässlich des Todes von Ellen P. de Marx nachfolgenden Text zusammengestellt, der einen Blick auf eine große Humanistin und außergewöhnliche Frau eröffnet.

Gert Eisenbürger

Frau Marx, was sind Ihre Erinnerungen an Ihre Zeit in Berlin vor ihrer Emigration nach Argentinien?

Ich wurde am 24. März 1921 in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte geboren. Mein Vater hatte dort als Lederwarenhändler ein Büro mit Kellerraum. Ich ging zunächst in die 24. Volksschule hinter der Garnisonskirche, danach in die Ziegelstraße in die Höhere Schule. Nach unserem Umzug nach Charlottenburg ging ich bis zur Unterprima in die Fürstin-Bismarck-Schule.

Eine meiner einschneidendsten Erinnerungen ist die an die „Reichskristallnacht“. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war ich von lauten Geräuschen aufgewacht. Ich hörte Autos vorfahren und Glas zerbrechen. Ich stand dann auf und sah aus dem Fenster. Gegenüber von unserem Haus wurden in der Milchhandlung der jüdischen Witwe Köppen die Scheiben eingeworfen. Die Autos fuhren dann weg. Aus der Ferne hörte ich Feuerwehrsirenen am Kudamm. Am nächsten Tag erfuhren wir aus dem Radio, dass alle Synagogen, die nicht an Zivilgebäude angrenzten, abgebrannt waren. Ich ging am Morgen nach der Reichskristallnacht trotzdem in die Schule. Dort wurde mir sogleich vom Vizerektor ein Schreiben ausgehändigt, in dem der Bürgermeister von Berlin meinen Vater aufforderte, seine Tochter von der Schule zu entfernen. Einer meiner Lehrer nahm mich zur Seite und flüsterte mir zu, dass er mir alles Gute wünsche. Andere Lehrer und auch MitschülerInnen sahen weg. Alle jüdischen SchülerInnen wurden nach der Kristallnacht aus den Schulen herausgeworfen. Von einem Tag zum andern. Ich kriegte noch meine Abgangszensuren und damit war es fertig. Ich hatte noch nicht einmal das Abitur gemacht und es ist mir auch später nicht gelungen, trotz meines guten Willens, es irgendwann in Argentinien nachzuholen.

Schon ab 1933 hatte ich eine zunehmend erstickende Atmosphäre gespürt. Die Lehrer identifizierten sich alle mehr oder weniger mit dem Nationalsozialismus. Viele Mitschülerinnen waren Mitglied im BDM (Bund Deutscher Mädel). Anfänglich waren noch viele jüdische Schülerinnen auf der Schule, da in Charlottenburg viele jüdische Familien wohnten. Die ersten, die die Schule verließen, kamen aus Familien, die vor dem Bolschewismus aus der Sowjetunion oder dem Antisemitismus aus Polen und Ungarn geflohen waren. Offensichtlich hatten sich diese Familien ihren Instinkt vor Gefahr bewahrt. Das alteingesessene jüdische Bildungsbürgertum fühlte sich jedoch zugehörig zur deutschen Kultur und zum deutschen Volk und übersah daher die Gefahr. 

Auch ich fühlte mich der deutschen Kultur zugehörig. Im Übrigen bis heute. Noch immer fallen mir in kritischen Momenten Verse von Schiller und Goethe ein. Deutsche Kultur erfuhr ich vor allem über den Berliner Kulturbund, der nach 1933 für das jüdische Kulturleben geschaffen worden war. Auch für Geschichte interessierte ich mich sehr. Bereits mein Großvater und meine Mutter waren Mitglieder der SPD. Mein Vater und meine Großmutter mütterlicherseits waren DemokratInnen. Ich las sehr viele Autoren der Weimarer Republik.

Wie war Ihr Verhältnis zum Judentum in der damaligen Zeit?

Ich war während der Schulzeit beim Jüdischen Bund. Mein Vater sorgte dafür, dass ich als einzige Tochter in die Jugendbewegung des Central-Vereins fand. Wir diskutierten dort über jüdische Kultur, jüdische Geschichte und die Entstehung der Jugendbewegung. Wir eigneten uns eine gute jüdische Bildung an, die wir neu entdeckten.
Außer unserer Gruppe gab es noch die Haschomer Hazair, die sogenannten Werkleute. Die waren auf die Ausreise nach Palästina orientiert. Sie unterhielten Landwirtschaftsgüter zunächst in Deutschland, später in Dänemark. Ich lernte zwei dieser Landgüter kennen. Ab April 1939 ging es nur noch darum, unsere Leben zu retten und jede Möglichkeit der Ausreise zu nutzen.

Warum entschieden Sie und Ihre Familie, dass Sie als einziges Familienmitglied ausreisten?

Am 10. Dezember 1938 war die Gestapo in unsere Wohnung gekommen, um meinen Vater zu verhaften. Dieser war allerdings gerade zu der kleinen Synagoge in der Johann-Georg-Straße gegangen, um Kultgegenstände zu retten, u. a. die Thora-Rolle. Mein Vater sollte vorläufig in das KZ Oranienburg. Da er nicht anwesend war, gingen die Gestapo-Leute wieder weg. Meine Mutter sah aus dem Fenster, wie mein Vater gerade um die Ecke kam. Er ging an den Gestapo-Typen vorbei, ohne dass man voneinander Notiz nahm. Meine Mutter brachte meinen Vater dann einige Tage beim Großvater unter. Dort blieb er, bis die Gefahr vorbei war.

Im November und Dezember 1938 wurden viele jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die meisten kamen vier bis sechs Wochen später wieder raus, weil sie versichert hatten, dass sie auswandern wollten. Sie mussten im KZ teilweise Zwangsarbeit leisten. Der Winter 38/39 war extrem kalt. Sie mussten Eisenbahnwaggons schieben, die so kalt waren, dass einigen die Finger abfroren. Man sah damals viele Männer mit abgefrorenen Fingern auf der Straße. Angesichts dieser Ereignisse war uns alles klar. Meine Mutter förderte daher meine Auswanderung sehr. Sie selber wollte Berlin nicht verlassen, weil sie sich um ihren 85-jährigen Vater kümmerte, der kurz zuvor Witwer geworden war. Sie wollte ihn nicht alleine lassen.

Dass meine Eltern und viele andere nicht auswanderten, hing auch damit zusammen, dass sie nicht mehr über ihre Ersparnisse verfügen konnten. Vor allem mein Vater fühlte sich zu alt, um irgendwo mittellos anzukommen und ganz neu anfangen zu müssen. So blieben meine Eltern, wie viele ältere Familien, in Deutschland.
Als ich in den Zug nach Paris stieg, war mir bewusst, dass das ein Abschied für immer war, auch wenn ich selbstverständlich hoffte, dass ein Wiedersehen möglich wäre.

Wie verliefen dann die Vorbereitungen zu Ihrer Ausreise?

Der Jüdische Bund bereitete nach der Kristallnacht seine Mitglieder auf eine gemeinsame Emigration vor. Ich hatte schon auf der Fürstin-Bismarck-Schule zwei Jahre Spanischunterricht. Ich hatte immer ein großes Interesse an Fremdsprachen und beherrschte Latein, Englisch und Französisch. Ansonsten hatten wir sehr wenig Zeit für die Vorbereitung unserer Emigration. Denn wir durften als Organisation insgesamt nicht mehr zusammentreffen. Sämtliche jüdische Vereinigungen waren geschlossen. Wir gingen immer zu zweit in die Häuser und warteten beim Rausgehen darauf, dass die anderen um die Ecke verschwunden waren, bevor wir selbst die Häuser verließen.

Wie verlief Ihre Emigration im einzelnen?

Drei Gruppen reisten hintereinander aus Berlin ab, ich war bei der dritten Gruppe. Am 13. April 1939 fuhren wir vom Bahnhof Janowitzbrücke ab. Meine Mutter und mein Großvater begleiteten mich bis zur S-Bahnstation Bellevue und verabschiedeten mich auf dem Bahnsteig. Mein Vater konnte den Abschied nicht ertragen und war zu Hause geblieben. Das war das letzte Mal, dass ich meine Familie sah. Wir fuhren dann bis Aachen. Dort wurden wir ein letztes Mal schikaniert. Es kam zu Durchsuchungen und Leibesvisitationen, ob man mehr als die zugelassenen zehn Mark mitgenommen hatte. Wir verpassten deswegen den Zug und fuhren dann mit unserer Gruppe von 32 oder 33 Personen mit einem lokalen Zug nachts um zwölf Uhr weiter und kamen frühmorgens in Paris an. Dort erhielten wir Visum und Fahrkarten für Argentinien, die Hilfsorganisation HIAS hatte dafür gesorgt. Wir mussten uns ihr gegenüber verpflichten, fleißig zu arbeiten und später der Organisation die Kosten unserer Flucht zu erstatten. Die Jugendlichen waren zwischen 17 und 25 Jahre alt. 

In Paris hatten wir fünf Tage Aufenthalt. Unser Gruppenleiter sagte uns, wir müssten nun Abschied von der europäischen Kultur nehmen. Wir sind dann nach Versailles gefahren, zum Louvre und zum Rodin-Museum. Da wir ja aus verschiedenen Städten kamen, lernten wir uns nunmehr erst gegenseitig kennen. Von Le Havre fuhren wir mit einem französischen Frachtdampfer nach Südamerika. Am 25. Mai, dem Nationalfeiertag Argentiniens, erreichten wir Buenos Aires. Dort mussten wir zunächst auf dem Schiff bleiben, weil wir Visa nur für Bolivien hatten. Wir hatten schon von Schiffen gehört, die zurückgeschickt wurden. Der nächste Zug nach Bolivien sollte erst fünf Tage später gehen. Aber die jüdische Hilfsorganisation besorgte uns dann doch noch Visa für Argentinien, die zunächst nur ein halbes Jahr gültig waren. Aber nach diesen Übergangsvisa wurden wir richtig legalisiert.1

Bei unserer Ankunft in Argentinien hatten wir gerade einmal zehn Pesos in der Tasche. Wenn die Hilfsorganisation nicht einige Zimmer in einer Immigrantenpension in Stadtteil Belgrano für uns gemietet hätte, hätten wir nicht gewusst, wo wir schlafen konnten. Wir waren darauf angewiesen, möglichst schnell Arbeit zu finden. Wir Mädchen nahmen sofort jede Stelle als Haushaltshilfe oder Kindermädchen an. Es war uns vollkommen klar, dass wir keine Möglichkeiten hatten zu wählen. Von den Jungens fingen die meisten als Peón an, als ungelernte Arbeiter.

Bei meinen ersten Herrschaften, bei denen ich fünf Monate lang war, sollte ich dem Kind Englisch beibringen. Das Kind war zwei Jahre und einige Monate alt! Die Eltern waren der Meinung, dass das dringendste, was es brauchte, die englische Sprache wäre, obgleich beide Eltern und die Großeltern in Argentinien geboren waren. Aber der Herr hatte die Verwaltung eines englischen Unternehmens und deswegen musste das Kind Englisch lernen.
Was wir verdienten, reichte gerade zum Überleben. Einmal hatte ich einen Knopf verloren von einem Kleid. Weil ich einen identischen Knopf hier nicht bekam, musste ich gleich sechs neue Knöpfe kaufen, das war schon ein finanzielles Problem. Außerdem waren wir sehr schlecht krankenversichert, was für mich ein Problem wurde, als ich an Kinderlähmung erkrankte. Ich habe inzwischen oft gehört und gelesen, dass Menschen, die in andere Länder kamen, Kinderlähmung bekamen. Das scheint eine Krankheit zu sein, die auch tiefere Wurzeln hat, nicht nur eine Infektion, 
die man sich zufällig aufschnappt.

Es war für uns oft sehr schwierig, sich in die argentinischen Modalitäten einzudenken. Für mich war es ein großer Schock zu erleben, wie unterwürfig Angestellte, die in meiner Lage waren, ihrer Herrschaft begegneten. Sie wagten gar nicht, eigenständig zu denken. Was mir damals schon zeigte, dass die Kolonisierung im Grunde genommen niemals beendet worden ist und sich viele Leute niemals als freie Menschen gefühlt haben. Auch hatte man in Deutschland nicht die geringste Ahnung, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich hier war.

Im Laufe der Zeit gelang es uns allmählich, aus diesen Anfangsstellungen herauszukommen. Ich hatte das Glück, eine Stelle in einem Kinderhort zu bekommen, der kurz vorher für die Kinder jüdischer EmigrantInnen gegründet worden war. Durch diese Arbeit erfuhr ich sehr viel über die Probleme der Emigration. Wir betreuten die Kinder nicht nur tagsüber, sondern kümmerten uns auch um ihre Gesundheit und ihre eventuellen psychologischen Probleme – aber das kam erst später. Von Psychologie wusste man in Argentinien Anfang der vierziger Jahre noch wenig. Nur einige Einwanderer brachten diese Kenntnisse schon mit. Wir kümmerten uns auch um die Eltern, die mit all ihren Problemen zu uns kamen. Wir bekamen all diese Schicksale mit.

Hatten Sie in den Kriegsjahren Informationen über das Schicksal Ihrer Familie in Europa und wussten Sie und die anderen EmigrantInnen, welche Ausmaße die Judenverfolgung in Europa angenommen hatte?

Ich habe mich mit meinen Eltern geschrieben, erlaubt waren allerdings nach Ausbruch des Krieges nur noch offene Postkarten. Manchmal bekam man Luftpostbriefe auf ganz leichtem Papier. Die Karten trugen Stempel mit Hakenkreuz. Es waren stereotype Karten, in denen man über das Wetter oder den Besuch der Tante berichtete. Eines Tages Ende 1942/Anfang 1943 stand auf einer Karte von den Schwiegereltern: „Frau Pinkus ist jetzt ganz alleine“ als Randbemerkung. Das bedeutete die Todesnachricht meines Vaters. Ich erfuhr erst 1983 das genaue Todesdatum und weiß, dass sein Grab in Ost-Berlin ist.

Durch meinen Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel erfuhr ich, dass mein Großvater in das KZ Theresienstadt gebracht worden war. Mein Vater hatte einen Schulfreund, der nach Schweden gegangen war, und der hatte Daten darüber. In der Gedenkstätte erfuhr ich alles über meine Familie. Es waren insgesamt zehn Personen, die verschleppt worden sind. Die Transporte hatten verschiedene Nummern. Meine Mutter war auf dem 31. Transport nach Auschwitz. Dort musste sie zunächst Zwangsarbeit leisten, zuvor hatte sie auch schon in Berlin Zwangsarbeit leisten müssen. Ein Jahr später wurde sie vergast. Dies hatte ich durch eine Randbemerkung auf einer Karte an mich und durch meine späteren Nachforschungen in Yad Vashem erfahren. 

In Argentinien erhielt ich vereinzelt Andeutungen über das, was in Deutschland geschah. Eine Tante konnte nach Brasilien flüchten. Sie hat mir einmal einen Brief geschrieben, indem sie mir einiges erklärte. Während des Krieges haben wir nach und nach realisiert, was da in Deutschland geschah. Es war eine tägliche Angst und Bedrückung.
Das wurde alles wieder lebendig nach dem Verschwinden meiner Tochter, die Gefühle der Verzweiflung, der Ungewissheit, der aufflackernden Hoffnung und der Enttäuschung. Abends nach der Arbeit des Tages, in dem Moment, wo man sich hinlegte und ausspannen wollte, fiel alles auf einen herab. Ich machte damals keinerlei Politik, aber bei Konzerten trafen sich alle EmigrantInnen. Wir hatten damals einen unglaublich starken Lebensinstinkt. Das ist mir erst nachher klar geworden. Nur wenige von uns wurden depressiv oder melancholisch.

Die meisten aus der Gruppe, die mit mir aus Deutschland gekommen waren, hatten nach zwei Jahren geheiratet und mindestens zwei Kinder in die Welt gesetzt. Ich heiratete 1942 und bekam vier Kinder, das letzte, Rubén, wurde am 18. November 1964 geboren.

Waren Sie nach der Geburt Ihrer Kinder weiterhin berufstätig?

Zwischen den Geburten meiner Kinder habe ich insgesamt 14 Jahre in dem Kinderhort des jüdischen Hilfswerks gearbeitet. Die letzten sieben Jahre leitete ich das Heim. Später unterrichtete ich an der Pestalozzi-Schule (nach der Gleichschaltung der deutschen Schulen in Argentinien 1934 gegründete antifaschistische Schule, die vor allem von den Kindern der aus Deutschland und Österreich geflohenen Juden und Linken besucht wurde – die Red.), als mein Junge zwei Jahre alt war. Ich gab in der ersten Klasse Deutschunterricht für Kinder aus nicht-deutschsprachigen Familien. Von 1970 bis 1990 habe ich in der jüdischen Gemeinde als Sekretärin gearbeitet und bewegte mich viel in deutschen und jüdischen Zusammenhängen.

Als der Krieg zu Ende war, gab es für die EmigrantInnen die Möglichkeit, Argentinien wieder zu verlassen. Nach Deutschland wollte sicher kaum jemand, aber Israel oder auch die USA waren Länder, in die viele jüdische EmigrantInnen, die nach Südamerika geflohen waren, später gingen. Haben Sie eine zweite Emigration in Erwägung gezogen?

Israel ist selbstverständlich immer ein gewisser Anziehungspunkt gewesen. Die große Auswanderungswelle von hier nach Israel fand Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre statt. Das war eine politisch furchtbare Zeit in Argentinien, der Antisemitismus nationalistischer Gruppen war in dieser Zeit enorm. Eine Gruppe hieß Tacuara. Diese Gruppe war sehr aggressiv. Ihr Anführer, Padre Filipo, ein katholischer Priester, wohnte in unserem Stadtviertel. Er eröffnete direkt vor unserer Synagoge ein Lokal. Es gab dann bei uns im Stadtviertel Belgrano, wo viele deutsche und jüdische Einwanderer lebten, Straßenkeilereien, Demonstrationen, antisemitische Schmierereien und eingeschlagene Fensterscheiben, zum Beispiel bei uns im Kinderheim.

Meine Kinder nahmen das damals sehr bewusst war. Diese Bewegung war einer der Gründe dafür, dass sie eingesehen haben, dass man als Jude nirgendwo sicher lebt. Alle unsere Kinder waren daher in jüdischen Gruppen organisiert, die sich als Gegenreaktion gebildet hatten. Sie haben sich dort politisiert und unsere älteste Tochter und der ältester Sohn sind später nach Israel ausgewandert. Ich selbst habe in dem Moment an Auswanderung gedacht, als meine älteste Tochter Miriam nach Israel ging. Da sagte mein Mann ungefähr dasselbe, was mein Vater Ende 1938 gesagt hat. Er war nicht dafür zu begeistern, dort noch einmal bei Null anzufangen. Wir haben zwar auch in Argentinien eher bescheiden gelebt, aber wir hatten unser Auskommen. Die Auswanderung meiner Tochter war für mich der letzte Anstoß, zur deutschen Botschaft zu gehen und mir wieder einen deutschen Pass zu holen, mich in die Bundesrepublik einbürgern zu lassen.

Warum?

Als die erste Tochter weg war, wollte ich wieder einen Pass und eine Staatsangehörigkeit. Ich habe übrigens später festgestellt, dass sich viele emigrierte Juden Anfang der sechziger Jahre wieder deutsche Pässe geholt hatten. So lange brauchten wir, bis wir genug Vertrauen in das neue Deutschland hatten. Wir haben natürlich sehr genau beobachtet, wie sich das in der Bundesrepublik entwickelte. Mir, aber auch vielen anderen, hat die Tatsache geholfen, dass die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen aufnahmen. Als David Ben Gurion, der damalige Premierminister, gefragt wurde, warum Israel Beziehungen zu einem deutschen Staat aufnehme, erklärte er, Israel hätte niemals Wiedergutmachungszahlungen akzeptieren können, wenn es nicht vorher „Schalom“ (Frieden) geschlossen hätte. Das erschien mir als ethische Berechtigung, dass auch ich mit diesem deutschen Staat Frieden schloss. Ich nehme an, viele andere haben etwas ganz Ähnliches empfunden. Mir war außerdem klar, dass die deutsche Kultur etwas war, das ich nicht einfach abstreifen konnte, bei aller Zuneigung zur argentinischen Lebensweise und Kultur. Man wagte sich also wieder einzugestehen, dass man die deutsche Kultur mochte.
Damals ging das mit der deutschen Staatsangehörigkeit verhältnismäßig automatisch. Wenn man den alten deutschen Auswanderungspass mitbringen konnte, setzte sich sofort der ordentliche deutsche Verwaltungsapparat in Bewegung und bald war der bundesdeutsche Pass da.

Galt die Einbürgerung nur für Sie oder auch für Ihre Kinder?

Für meine Kinder wollte ich es nicht machen. Die Älteste war bereits in Israel, unser ältester Sohn bereitete sich darauf vor. Er ist dort 1981 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der jüngste Sohn hat einen deutschen Pass. Aber als er den beantragte, war das schon etwas komplizierter, die Frist war bereits abgelaufen. Mein Mann nahm übrigens die deutsche Staatsangehörigkeit nicht wieder an. Wir haben aber beide die Entwicklung in Deutschland intensiv verfolgt, die Frankfurter Schule gelesen und die 68er Bewegung sehr stark wahrgenommen.

Wollte Ihre jüngere Tochter Nora auch nach Israel?

Meine jüngste Tochter wollte auf keinen Fall etwas anderes als Argentinierin sein. Dafür ist sie dann verschwunden unter der Militärdiktatur. Schon im Kinderhort haben die Kinder ein Gefühl für das Leben und die sozialen Probleme anderer Menschen gelernt. Denn dort waren viele Kinder aus unteren sozialen Schichten. Insbesondere Nora hat dort ein Feingefühl für die sozialen Probleme entwickelt. Sie hat es immer in ironische Wortspiele umgesetzt, was sie dort erlebt hat. Ihr Onkel nannte sie die Wolkenkönigin. Ihre Neigung waren die Naturwissenschaften. Sie hat sehr gründlich studiert. Während des Studiums zog sie teilweise aus, teilweise kehrte sie wieder nach Hause zurück und wohnte dort eine Zeitlang mit ihrem Freund.

Welche Rolle spielt der jüdische Glauben in Ihrem Leben?

Ich würde zögern, zu behaupten, dass ich gläubig bin. Man versetze sich in die geistige Situation von Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren: Urplötzlich waren wir als Juden von einem grausamen, unverständlichen Schicksal ergriffen worden. Wie sollte man da weiterleben, ohne einen Sinn in dieser Katastrophe zu finden und nicht ohnmächtiges Opfer einer übermächtigen Gewalt zu sein, und wo sollte man diesen Sinn suchen, wenn nicht in der 4000-jährigen jüdischen Geschichte, die so reich an Präzedenzfällen ist und zu der auch die Bibel und der Glaube gehören. Das war das gemeinsame Problem in unserer Jugendgruppe.

Bei diesen Studien unter Anleitung von Studenten musste jeder zu seinen eigenen Schlüssen kommen, die sich natürlich im Laufe der Jahre ändern konnten. Verpflichtend war nur der monotheistische Gottesbegriff des Schöpfers als Inbegriff von Liebe, Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit. Das höchste Gut ist das Leben, das eigene und das des Nächsten. Das Judentum stellt für mich eine ethisch-menschliche Verpflichtung dar, den Glauben an diese absoluten Werte nicht zu verlieren, jeden Menschen und seine Ansichten zu respektieren. Alles andere sind nur alltägliche Lebensregeln, die ein harmonisches Zusammenleben der Menschen ermöglichen sollen. Diese müssen natürlich dem Lauf der Zeiten und den verschiedenen Situationen angeglichen werden. Dabei kann man absolut verschiedene Meinungen äußern, kategorisch ist nur diese ethische Grundlage. 

Wie hat die letzte Militärdiktatur in Argentinien Ihr Leben verändert?

Am 21. August 1976 ist Nora verschwunden. Nach allem, was mir in meinem Leben widerfahren ist, war die Militärdiktatur durch das Verschwinden unserer Tochter die Periode, die mein Leben am allermeisten verändert hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einer Zeitung ein Interview geben würde. Oder dass ich vor einem größeren Publikum sprechen würde, außer vor meiner Schulklasse mit 20 oder 30 Kindern. Das hätte ich mir überhaupt nicht träumen lassen.

Ich bin sehr bald nach dem Verschwinden meiner Tochter in die Gruppe der Angehörigen der deutschstämmigen Verschwundenen gegangen, in der ich bis heute tätig bin. Wir halten alle zusammen, besonders wir, die wir vom ersten Moment an dabei gewesen sind. Eine ganze Anzahl lebt nicht mehr, das ist ganz klar. Jetzt ist eine meiner Aufgaben, die ich noch sehe, die zwei jüngeren Generationen zur Arbeit heranzuziehen. Denn von uns sind vielleicht noch fünf oder sechs übrig. Jetzt müssen die Geschwister und die Kinder von Verschwundenen die Arbeit weiterführen. Es sind schon einige dabei, auch zwei Überlebende, die entführt wurden, in den geheimen Lagern waren, aber nicht ermordet wurden.

Hat Ihnen das Engagement in der Menschenrechtsbewegung geholfen, mit dem Schmerz über das Verschwinden Ihrer Tochter fertig zu werden?

Helfen ist – glaube ich – nicht der richtige Ausdruck. Aber in jeder Etappe des Lebens sollte man sich die Frage stellen, was kann, darf oder muss ich tun? Welches sind meine Aufgaben jetzt? Seit dem Verschwinden meiner Tochter ist das für mich die Arbeit in unserer Gruppe. Und wenn nach all den Jahren und all den Erlebnisssen, schmerzlichen Erlebnissen, irgend etwas übrig bleibt, was noch einen Sinn hat, ist es für mich die Verpflichtung, nicht zu schweigen und auf Wahrheit und Gerechtigkeit zu bestehen. Ich weiß, dass ich sie damit nicht wieder zum Leben zurückbringen kann. Aber dann sage ich mir, ich kann und ich muss das Leben als solches aufrecht erhalten. Den Begriff des Lebens und der Hilfe für andere, um zu leben und das kann man nur, indem man die Erinnerung an diejenigen, die nicht mehr leben, und die Erlebnisse, die sie hatten, aufrecht erhält.

  • 1. Ellen Marx kam 1939 mit einer Gruppe jüdischer Jugendlicher nach Argentinien. Ihre Mutter und neun weitere Familienmitglieder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Unter der letzten Militärdiktatur in Argentinien wurde im August 1976 ihre jüngste Tochter Nora in Buenos Aires entführt und ist bis heute „verschwunden“. Zeugenaussagen sprechen dafür, dass sie die ersten Tage schwerster Folterhaft nicht überlebte. Seitdem kämpfte Ellen Marx für die Aufklärung und Ahndung der Diktaturverbrechen in Argentinien und in Deutschland. Sie leitete bis kurz vor ihrem Tod die Gruppe der deutschen oder deutschstämmigen Mütter von Verschwundenen und Diktaturopfern. Diese Gruppe gab 1998 gemeinsam mit dem argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel den Impuls zur Gründung des deutschen Menschenrechtsnetzwerks „Koalition gegen die Straflosigkeit“. Die Koalition und ihre AnwältInnen betrieben seitdem bei deutschen Strafverfolgungsbehörden Strafverfahren im Namen von Diktaturopfern, u.a. Nora Marx, gegen insgesamt 90 argentinische Militärs und Leitungspersonal der Firma Mercedes Benz, in deren argentinischem Werk mindestens 14 unabhängige Gewerkschafter „verschwanden“.

Das hier veröffentlichte Interview ist eine Montage aus zwei Gesprächen, die Wolfgang Kaleck bzw. Gert Eisenbürger mit Ellen Marx führten. Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Als Anwalt hat er den Fall der Verschwundenen Nora Marx gegenüber der deutschen Justiz vertreten. Gert Eisenbürger ist verantwortlicher Redakteur der ila.