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Reformen zum Erhalt der Revolution

Die begonnenen Veränderungsprozesse in Cuba unter Raúl Castro

Am 31. Juli 2006 erfuhren die cubanische und die internationale Öffentlichkeit von der schweren Erkrankung Fidel Castros, der an diesem Tag – zunächst vorübergehend – von seinen politischen Ämtern zurücktrat. Die cubanische Führung nutzte seitdem die Zeit zu einer Kollektivierung der Führungsstruktur, zur Konsolidierung der Macht und zum Nachdenken. Inzwischen wurden die politischen Strukturen neu sortiert. Das Land wird auf einen Sozialismus ohne Fidel vorbereitet. Knapp zwei Jahre nach der Notoperation des Comandante en Jefe ist der nunmehr 77-jährige Raúl Castro eindeutig zum Mann an der Macht avanciert und es zeichnen sich erste Konturen ab, wohin Cuba unter seiner Führung steuern wird.

Silke Helfrich

Schon während der „provisorischen Regierungszeit“ Raúl Castros, der als erster Vizepräsident, zweiter Sekretär der Kommunistischen Partei und Oberkommandant der Streitkräfte verfassungsgemäß die Ämter seines Bruders übernommen hatte, setzte er erste Meilensteine auf dem langen Weg der Reform zum Erhalt der Revolution. Er weiß, wie schwer die CubanerInnen daran tragen, dass der Lohn nicht zum Leben reicht und dass die Nahrungsmittelversorgung 2006 auf einem Tiefpunkt angelangt war. Er weiß, dass unzählige Ver- und Gebote, Wohnungs- und Transportprobleme viele Menschen in Schach halten und für Fragen jenseits des Alltags unansprechbar machen.

Im Juli 2007 benannte Raúl Castro zentrale Aspekte dieses Reformprozesses: mehr  ArbeiterInnen- beteiligung in der Produktion sowie mehr BürgerInnenbeteiligung in Politik und Gesellschaft. Nach dem endgültigen Verzicht Fidel Castros auf alle Ämter hielt Raúl Castro am 24. Februar 2008 seine Antrittsrede als Staatspräsident. Sie ist mit 20 Minuten ungewohnt kurz. Die Schwerpunkte sind schnell umrissen: Restrukturierung der Institutionen zur Stärkung derselben, mehr Effizienz in der Regierungsarbeit, Dezentralisierung der Verwaltung sowie die „fortschreitende, graduelle und vorsichtige“ Aufwertung des cubanischen Peso im Zusammenhang mit einer umfassenden Analyse des Lohnsystems, der Sozialleistungen und der millionenschweren internen Stützungen. Letztere kommen – wie die libreta, die Bezugskarte für die monatliche Ration hochsubventionierter Lebensmittel – allen gleichermaßen zu Gute. Raúl Castro findet dieses Gießkannenprinzip unter gegenwärtigen Bedingungen „irrational und unhaltbar“. Nun scheint die Abschaffung der libreta in Sicht. Das Forschungsinstitut der cubanischen Wirtschaft (CEEC) plädierte für ein Ende dieser Institution der Revolution, weil sie zum „Anachronismus“ geworden ist und „Ungleichheit statt Gleichheit“ schaffe (ND, 9.6.2008). Welche neuen Verwerfungen das auslöst, wird sich zeigen, denn nach wie vor ist die Lebensmittelkarte für jenes Drittel der CubanerInnen unverzichtbar, dem der Zugang zu Devisen weitgehend versperrt ist.

Dass der legal erarbeitete Lohn wieder zum Leben reicht, bezeichnet Raúl Castro als „strategisches Ziel“. Bisher liegt das durchschnittliche Einkommen bei 408 cubanischen Pesos, dem Gegenwert von 17 US-Dollar. Die Mindestrenten wurden von 164 auf 200 Pesos erhöht, wovon zwei Millionen RentnerInnen profitieren. Mitte Mai 2008 legte der Vizeminister für Arbeit, Carlos Mateu, im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der „Allgemeinen Regelung der Formen und Systeme der Bezahlung“ des Ministeriums für Arbeit und Soziales in aller Deutlichkeit nach. „Diese Gleichmacherei“, sagte er in Bezug auf den Einheitslohn, „ist nicht zweckmäßig.“1 Laut Granma soll der Einheitslohn, den Mateu „paternalistisch“ nennt, schon ab August 2008 differenziert werden, je nach Leistung und Charakter der jeweiligen Tätigkeit. EinE ArbeiterIn kann dann soviel mehr verdienen, wie sie/er mehr leistet. Bei Führungskräften ist der Zuverdienst auf 30 Prozent begrenzt.

Dann das Thema Partizipation: Anhörung der Bevölkerung und Auseinandersetzung mit (berechtigter) Kritik. „Es gibt keinen Grund, Diskrepanzen in einer Gesellschaft wie der unsrigen zu fürchten, in der es im Kern keine antagonistischen Widersprüche gibt“, ermuntert der neue Staatschef die CubanerInnen in seiner Antrittsrede. Es sei wichtig, „ohne Ängste irgendwelcher Art“ Probleme und Verantwortlichkeiten zu benennen. Adäquat vorgebrachte Kritik sei „unverzichtbar, um voranzuschreiten“. Schließlich bedeute eine Revolution, „all das zu ändern, was geändert werden muss“, wie Fidel Castro in allen offiziellen Reden zitiert wird. Was genau „all das“ ist, was „berechtigte“ Kritik von „unberechtigter“ unterscheidet und wann sie als Stärkung, wann als ein Untergraben der Revolution verstanden wird, wird in erster Linie Raúl Castro definieren. Doch eine Diskursverschiebung innerhalb der Revolution ist zweifelsfrei vollzogen.

Jenseits der Diskurse wird es praktisch. Schon ab März 2008 versetzte die Regierung die CubanerInnen mit wahren Turboentscheidungen in Erstaunen. Am 28. April gelang es, das Maßnahmenpaket zur „Stärkung der kollektiven Führung und der Institutionen“ an einem einzigen Tag durch drei Instanzen (Politbüro der PCC, Staatsrat und Plenum des Zentralkomitees der PCC) zu bringen und am Abend der Bevölkerung im Fernsehen vorzustellen. Auch in der Wirtschaft gibt es schnelle Veränderungen, Freiräume sollen ausgeweitet werden. Die Landwirtschaft spielt bei all diesen Reformen eine Vorreiterrolle. Auch die „Arbeit auf eigene Rechnung“ erfährt Erleichterungen, die Verpachtung staatlicher Cafeterien an private BetreiberInnen ist in der Diskussion. Unterhaltungselektronik, Handys und Mopeds sind seit Mai 2008 – wenngleich zu unerschwinglichen Preisen – frei erhältlich. Und CubanerInnen ist es künftig gestattet, in Hotels zu übernachten, die bisher nur ausländischen Touristen zugänglich waren. Diese Erleichterung des privaten Konsums zielt darauf ab, der zunehmenden Diskriminierung der Bevölkerung im eigenen Land Einhalt zu gebieten. Die „Touristenapartheid“ ist auch für jene TouristInnen unangenehm spürbar, die sich – der Situation des Landes bewusst – im Freilandmuseum der Altstadt Havannas bewegen, Bars, Restaurants und Läden frequentieren, zu denen DurchschnittscubanerInnen keinen Zugang haben, für die diese „Rollenteilung“ in den touristischen Zentren eine Demütigung sein muss. 

Die Verarbeitung von Demütigungen ist ein wichtiger Aspekt vieler cubanischer – revolutionärer – Lebensgeschichten. Eindrucksvoll dokumentiert wurden jüngst einige davon in der vom Centro Teórico Cultural Criterios herausgegebenen Dokumentation der Debatte der Intellektuellen über die Zeit des „grauen Jahrfünfts“2 (vgl. auch ila 306). Eduardo Heras, der in der Erinnerung die erlittenen Erniedrigungen Revue passieren lässt, zieht ein bitteres Fazit: „für uns, ... ist das Leben zerbrochen oder es wurde komplett umorientiert, oft gegen unseren Wunsch... oder es hat uns schlicht die Zukunftsvision genommen.“ Desiderio Navarro, Essayist, hat in seiner Aufarbeitung des Quinquenio Gris die Frage nach der Rolle der Intellektuellen aufgeworfen. „Ohne das Schweigen und die Passivität fast aller (um nicht auf Komplizentum und Opportunismus ... einzugehen) wäre das Quinquenio Gris ... nie zu dieser Zerstörungswut gekommen…“, so die mutige Analyse der moralischen Mitverantwortung seiner Zunft. In seiner Rede anlässlich der Buchvorstellung im Februar 2008 gelingt es Navarro, die ethisch-moralische Essenz dieser kollektiven Reflexion zu filtern. Er zitiert aus seiner Korrespondenz mit – nach wie vor in Cuba lebenden – damals unmittelbar Betroffenen und später Rehabilitierten: Der Architekt Mario Coyula schreibt selbstkritisch: „Definitiv, auch wir atheistischen Heterosexuellen und Revolutionäre haben Kollateralschäden dieser Pogrome erlitten. Sie haben uns zu schlechteren Menschen gemacht. Ich war dort und ich bin nicht aufgestanden. So wie andere nicht aufgestanden sind, trotz der Pros und Contras mit Blick auf das große soziale Projekt, dem ich mein Leben gewidmet habe. Ich habe damals abgewogen und geschwiegen.“

Dem Kulturminister Abel Prieto, der in diesem befreienden Reflexionsprozess (viele der Beteiligten bezeichnen das Erscheinen des Buches als ein Wunder) für die Regierung Verantwortung übernimmt, teilt Navarro eine Analyse mit, die sich auf viele Lebensbereiche der cubanischen Realität übertragen lässt: „Ich glaube, eines der Probleme, deren wir uns noch nicht bewusst sind, ist, wie „sowjetisch“ wir im schlimmsten Sinne sind (nicht im sozialistischen oder marxistischen Sinne) – jeder Einzelne von uns und die Gesellschaft als Ganzes – mit diesem Stil des orthodoxen Denkens, dem mentalen Gerüst, das wir haben, den reflexartigen Automatismen...“ 

Die nun anstehenden Reformen innerhalb der Revolution setzen aber das Abstreifen dieses orthodoxen Denkens voraus. Sie brauchen nicht nur pragmatische Maßnahmen, sondern vor allem eine Zukunftsvision, eine Definition des Sozialismus, den die CubanerInnen wollen. Und sie brauchen sozialen Zusammenhalt. Die massive Unterstützung der Revolution (also deren Legitimierung) verlange, so der neue Staatschef, täglich zu hinterfragen, wie viel die Regierung für die Verbesserung derselben tue. Das Volk wird nur dann fest zur Einheitspartei stehen, wenn sie „demokratischer als jede andere Partei ist“: Trotz allen Reformeifers, Einheitspartei oder Einheitslisten stehen nicht zur Debatte. So kandidierten auch bei den jüngsten Wahlen zur Nationalversammlung (von November 2007 bis Januar 2008) exakt 614 Kandidaten für 614 Sitze. 

Die Führungsriege der Übergangszeit (zu der unter anderem der noch relativ junge Außenminister Felipe Pérez Roque gehörte, der in jüngster Vergangenheit keine höheren Weihen erhielt) hat ausgedient. Raúl Castro ist es mit den ersten Umstrukturierungs- und Personalentscheidungen gelungen, Kongruenz zwischen der langjährigen Praxis (die Partei ist der Staat) und den offiziellen Strukturen herzustellen. Durch das Einziehen einer neuen Machtebene mit der Gründung einer siebenköpfigen Führungskommission innerhalb des Politbüros hat er die Strukturen der Partei jenen des Staates komplett angepasst. Das neue Parteigremium besteht aus exakt jenen Personen, die im Februar 2008 bereits zum Präsidium des Staatsrats ernannt wurden. Sein Durchschnittsalter liegt bei circa 72 Jahren. Der alte Kader und neue Minister zur Koordination der Ministerien für Bildung und höhere Bildung, José Ramón Fernández, schlägt dabei mit 85 Jahren alle Rekorde. Frauen gibt es in der cubanischen Staats- und Parteiführung nicht (vgl. Bert Hoffmann, Kuba: Wohin führt die Ära Raúl? GIGA Focus, Nr 2/2008). Der Führungskommission des Politbüros unterstehen die neu geschaffenen permanenten Kommissionen (für Ideologie und Kultur, Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung, Import und Export, Bildung, Wissenschaft und Sport, Gesundheit und Internationale Beziehungen), diesen wiederum fast 30 Ministerien, von denen einige in Zukunft fusioniert werden sollen. 

Die wirklich spannende Frage, die der Nachfolge Raúl Castros, wird bewusst offen gehalten. Raúl Castro nutzt stattdessen die Zeit, um Eliten und Bevölkerung einzubinden und so für die neue Etappe der Revolution (zurück)-zugewinnen. Er braucht Spielraum zur Konsolidierung der Macht der Partei, zur Etablierung der neuen Strukturen und zur Wahl eines Nachfolgers, der in der Lage wäre, das in hohem Maße auf dem Charisma und der Geschicklichkeit der Castros ruhende Projekt der Revolution fortzusetzen. Gleichzeitig berief Raúl für das zweite Halbjahr 2009 den sechsten Parteikongress ein, der laut Satzung der Partei bereits seit fünf Jahren überfällig ist. Dort wird sich zeigen, ob ein Umdenken eingesetzt hat, ob es eine Bereitschaft gibt, die Definitionsmacht über den cubanischen Sozialismus mit den CubanerInnen zu teilen, ob es gelingt, den Kongress als Kulmination eines breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozesses zu sehen, nicht als allein entscheidende und richtungweisende Instanz.

Doch egal wie viel Wert der neue Staatschef auf die Konsolidierung der Institutionen, auf Partizipation und die Lösung dringender Alltagsprobleme legt, aus seinen Reden spricht, dass auch er nicht sicher ist, ob Ankurbelung der Produktion, Mitentscheidungsrechte und Kaufkraftstärkung genügen, die Unterstützung zu gewinnen, die die Revolution braucht. Raúl Castro kennt die emotionalen und biographischen Dimensionen, um die es geht: „Wenn jemand aus Verzweiflung agiert, angesichts persönlich schwieriger Situation oder wegen mangelnder Information, dann müssen wir geduldig sein und die notwendigen Argumente beibringen.“

Frust und Enttäuschung über Jahre des Wartens und Durchhaltens, über die Spaltung in CubanerInnen erster und zweiter Klasse (d. h. Devisen- und Nichtdevisenbesitzer), über das Aufschieben lösbarer interner Problem mit dem Dauerverweis auf die Bedrohung durch den politischen Feind sitzen tief. Zudem bestimmen eingeschliffene Handlungsmuster aus dem Staatssozialismus (in dem Produktionsmittel auf allerlei besondere Weise, nicht aber im marxschen Sinne angeeignet wurden) die Alltagskultur. Das Nachdenken über Lebensverläufe im Kontext der Revolution prägt zwei bis drei Generationen. Auch Raúl Castro weiß das. Und er ist sich vermutlich bewusst, dass nicht nur Risse im Machtapparat oder – vom Feind mitgehörte – selbstkritische Debatten den Machterhalt bedrohen, sondern dass die wirkliche Bedrohung tiefer liegt. Zu unklar ist, was jenseits der Institutionen und jenseits geographisch-kultureller oder sozialer Bindung den Kitt des sozialistischen Cuba der Gegenwart ausmacht. Zu wenig sind die Verschiebungen in den Wertesystemen erforscht. Zu wenig statistisches Material gibt es zum Bürgersinn der CubanerInnen. 

Raúl Castro wird es zweifellos gelingen, für eine Weile neue Energien und Hoffnungen zu aktivieren. Er gibt (durchaus alten) Ideen Raum. Doch die psychische, soziale und demographische Struktur der cubanischen Bevölkerung hat sich geändert. Wer 20 Jahre vor dem Sieg der Revolution geboren wurde, ist heute 69. Sie/er hat entweder die Insel verlassen oder – mit Enthusiasmus und Idealismus – die Revolution aufgebaut, den Vergleich zur Ära des Diktators Batista vor 1959 immer präsent. Die Revolution hatte ihre Probleme, aber sie war verbunden mit Souveränität, Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Diese Generation kannte bis Ende der 80er Jahre, während eines Großteils ihres Arbeitslebens, ein relativ einträgliches Auskommen und soziale Sicherheit. Sie erlebte dann, wie die ökonomischen und politischen Spielräume enger wurden, wie die Realität dem Traum von der Revolution die Flügel stutzte, bis Gesetzesüberschreitung zwecks Einkommenssicherung zur Alltagspraxis avancierte und es darum ging, por la izquierda (irgendwie linksrum) durchzukommen. Jetzt geht ihre Lebenszeit zu Ende.

Wer 1959, im Jahr des Triumphs der Revolution, geboren wurde, ist heute 49 und im Glauben an die Revolution, im Bewusstsein um deren Errungenschaften (Bildungs- und Gesundheitswesen) aufgewachsen. Doch dann folgten „die besten Jahren“ in der Doppelherausforderung von beruflicher Entwicklung und Kindererziehung nicht etwa in relativer wirtschaftlicher Stabilität, sondern unter den harschen Bedingungen der Spezialperiode. Ich erinnere mich, wie ein anerkannter Ökonom (der vorrevolutionären Generation) mir einmal sagte: „Man müsste allen CubanerInnen, die durch diese Zeit gekommen sind, ein Denkmal setzen.“ Der emotionale Ton, der aus der ganz persönlichen Erinnerung des Sprechers rührte, klingt noch heute in mir nach. Würdigung, Aufwertung und Respekt angesichts der erstaunlichen Alltagsbewältigungs- leistungen wären an der Tagesordnung gewesen. Stattdessen erzwang die Realität die Abwertung der Karrieren. Der Staat hat den Menschen den Sozialvertrag aufgekündigt, vielleicht auch aufkündigen müssen. Doch unabhängig von den Ursachen ist das Ergebnis fatal: „Der Staat tut so, als würde er die Leute bezahlen, also tun die Leute so, als würden sie arbeiten.“ Als gesamtgesellschaftlicher Kitt hat diese neue Moral nicht gewirkt. Viele Energien, die nötig gewesen wären, um die Gesellschaft mitzugestalten, verbrannten sich im Alltag, das Verständnis der Rolle des Einzelnen für die Gesellschaft gleich mit. 

Der linke Autor und Filmemacher Saul Landau, ausgewiesener Cubakenner, drückt es in Anlehnung an Eduardo Galeano so aus: „Um zu überleben, musste jeder Cubaner sich selbst verändern – von den Werten des Kommunismus (des Teilens) zu denen des Individualismus (des Rette sich wer kann)... Der revolutionäre Geist hat sich allmählich abgeschliffen in ein 'Den Befehlen von oben Gehorchen' (Saul Landau: La Lucha continúa. 18.05.08). Jetzt sind die 'besten Jahre' dieser Generation vorbei.“  Wer 20 Jahre nach dem Triumph der Revolution geboren wurde, ist heute 29. Für diese Generation sind die Errungenschaften der Revolution Selbstverständlichkeit, nichts was es täglich neu zu erkämpfen gilt. Der Vergleich mit der Batistazeit ist abstraktes Schulbuchwissen, Sozialismus indes – jenseits des Zugangs zu (prekärer werdender) Bildung und Medizin – Entbehrung. 

Nicht umsonst wurde Carlos Lage Dávila in der zentralen Veranstaltung zum 45. Geburtstag der Kommunistischen Jugend so deutlich: „Die Jugendlichen von heute... haben den Wohlstand, die soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, die die Revolution erobert hat, nicht kennen gelernt... Wir idealisieren die Gesellschaft nicht, die wir in den 80er Jahren genießen konnten, ... aber am Ende jener Dekade war die Idee des Sozialismus an keinem Ort unseres Planeten so real wie auf dieser kleinen karibischen Insel. Ihr seid geboren und aufgewachsen, als die Stromversorgung täglich 10 Stunden und mehr unterbrochen war, als Medikamente fehlten und die Lebensmittel dramatisch knapp waren, als kaum ein Fahrzeug auf den Straßen unterwegs war, nicht einmal auf den Straßen der Hauptstadt. Diese Umstände haben das Leben unseres Volkes grundlegend verändert, sie haben bittere Widersprüche hervorgebracht, Lastern und Privilegien Auftrieb gegeben, die bereits überwunden waren ... Die Jugendlichen von heute kennen den Kapitalismus nicht, aber auch nicht den Sozialismus, den wir bereits erreicht hatten, und sie haben Jahre erlebt, in denen sie sahen, wie Verwerfungen und Ungleichheiten zunehmen.“3

Eine Kultur des Misstrauens, der Korruption im Kleinen, die Sicherung des Lebensunterhalts mit allen legalen, halblegalen und illegalen Mitteln, gepaart mit vorauseilendem Gehorsam auf Funktionärsseite (der dem Leistungsdruck entspringt, „effiziente“ Arbeit nachzuweisen) prägte die vergangenen Jahre, verbunden mit diversen Kontrollmechanismen, die von den Menschen im Alltag mitgedacht und subtil in ihre Verhaltensweisen eingewoben werden: Vorsicht ist die Mutter aller Weisheit. Wo viel zum Delikt erklärt wird, finden sich viele Delinquenten. Wo ein „rechtschaffenes Leben“ und das Auskommen mit dem Einkommen zu bestreiten fast unmöglich ist, erodieren Normen und Werte. Jeder wird etwas mehr sich selbst zum/r Nächsten. Im Ergebnis steht – wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas – ein schleichender Zerfallsprozess der Bürgerkultur, der calidad de ciudadanía.

Es geht für das Überleben eines alternativen, sozialistischen Projektes nicht zentral um – die nunmehr frei erhältlichen – Mobiltelefone und DVDs. Es wird auch nicht genügen, die Regierungsarbeit effizienter und transparenter zu gestalten, die Mitbestimmung in den Betrieben auszuweiten und die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln. Vielmehr wird entscheidend sein, ob die Wunden, die der politischen und der Alltagskultur Cubas vor allem in den vergangenen 20 Jahren, aber auch in den 70ern und 80ern geschlagen wurden, heilen. Das komplexe Netz von sozialer Sensibilität und Integrität, von (sozialistischen) Normen und Werten hat so erhebliche Veränderungen erfahren, dass auch mit demokratischer Öffnung, erfolgreicher Konsolidierung der politischen Strukturen innerhalb der Revolution und weiterer wirtschaftlicher Erholung die Zukunft der Insel ungewiss ist.

Zentral wird sein, ob es mittel- und langfristig gelingt, angesichts der beschriebenen generationsspezifischen Lebenslagen genug Energien und Bereitschaft für weitere Jahre Verteidigung der Revolution zu mobilisieren, ob das Erbe der „Spezialperiode“ überwunden werden kann, in der individuelle Interessen den kollektiven den Rang abliefen, und ob es gelingt, mit diesem Erbe die von beiden Seiten (Regierung und Regierten) über Jahrzehnte gepflegten Rituale zwischen Volk und „Vater Staat“ zu wenden. Unzählige der Revolution verbundene Menschen, ArbeiterInnen, Studierende oder Intellektuelle, haben in ebenso unzähligen Initiativen immer wieder versucht, Räume partizipativer, autonomer, transparenter Problemdiskussion und -lösung in enger Kooperation mit dem Staat zu öffnen, sei es im Wohnungsbau, in der Umweltbildung, in der Kommunalentwicklung oder im kulturellen Bereich. Viele von ihnen haben die vergangenen zehn Jahre nicht überstanden. Anderen ist es mit Geduld und taktischem Geschick gelungen, auf lokaler Ebene Freiräume zu verteidigen und neue Netze zu knüpfen. Gesellschaft und Staat zusammen zudenken fiel dem Staat unter Bedingungen der Spezialperiode sichtlich schwer. Bleibt zu hoffen, dass es nun der Staatsführung gelingt, Macht nach unten abzugeben und den Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie wieder mehr Kontrolle über ihr Leben gewinnen. 

Dies alles bedarf der Überwindung von Denkverboten, von inneren Blockaden und Rassismen (ein im vergangenen Jahrzehnt zunehmend diskutiertes Thema). Ein voraussetzungsvolles Unterfangen, zu dem unter anderem gehören: die „Personalisierung der Politik“, die die Übernahme persönlicher Verantwortung ermöglicht (auch im Sinne des Zurücktretens statt des Zurückgetreten-Werdens), ein Anknüpfen an die Traditionen kommunaler Autonomie, die bedingungslose Förderung von sozialer Initiative und Kreativität in horizontalen Strukturen und das Entstehen einer „dialogischen Gesellschaft“. 

Der Schlüssel, so der Jurist Juan Guerra, liegt darin, die Gemeinden so zu organisieren, dass aus der Selbstreflexion Vergewisserung, Halt und Lösungen erwachsen. Und dann diese „Knoten“ von der lokalen zur nationalen Ebene zu verknüpfen. Im Prinzip bietet die cubanische Gesellschaft dafür exzellente Voraussetzungen. Überall gibt es Strukturen und Räume, die genutzt werden können. Die Consejos Populares4, die Talleres de transformacion integral5 oder die bereits erwähnten zivilgesellschaftlichen Initiativen im kirchlichen, kulturellen und humanitären Bereich. Sie alle könnten die Delegation der Macht von oben nach unten katalysieren, also eine radikale Demokratisierung des cubanischen Sozialismus ermöglichen. Die Lösung für die Probleme Cubas kommt von den Menschen, nicht vom Staat. Er, und mithin Raúl Castro, kann nur Geburtshelfer sein.

  • 1. Lourdes Pérez Navarro: Nuevo sistema de pago por resultados. http://www.granma.cubaweb.cu/2008/06/11/nacional/artic02.html
  • 2. Das „Graue Jahrfünft“ bezeichnet eine der repressivsten Zeiten cubanischer Kulturpolitik zwischen 1970 und 1975 unter Luis Pavón Tamayo als Leiter des Nationalen Kulturrates (daher auch „Pavonat“).
  • 3. Discurso de Carlos Lage Dávila en el acto central por el aniversario 45 de la Unión de Jóvenes Comunistas - 4 de abril de 2007. http://emba.cubaminrex.cu/Default.aspx?tabid=10841
  • 4. Die „Volksräte“ sind 1976 in einer Dezentralisierungsinitiative des Staates entstanden. In jedem Stadtteil, jedem Dorf gibt es einen solchen Rat.
  • 5. Ein in der ersten Hälfte der 90er Jahre entstandender Kompromiss zwischen Staat und Zivilgesellschaft zur intersektoriellen und interdisziplinären Bearbeitung kommunaler Probleme.