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Dieser Alten werden wir's zeigen

Die Geschichte von Marisela Ortiz von der Organisation „Nuestras Hijas de Regreso a Casa“

Im Februar 2001 schlossen sich in Ciudad Juárez Familienangehörige von verschwundenen und ermordeten Frauen und Mädchen zu der Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa („Unsere Töchter sollen nach Hause zurückkehren”) zusammen. Mit Unterstützung von Gruppen aus Mexiko und anderen Ländern fordern sie die Wahrung ihrer Rechte, Aufklärung der Verbrechen und Bestrafung der Verantwortlichen. Die Lehrerin und Journalistin Marisela Ortiz ist von Anfang an dabei und hat auf Rundreisen in Europa über Frauenmorde und Straflosigkeit in Ciudad Juárez berichtet. Im Mai 2008 hat ihre ganz persönliche Bedrohungssituation eine neue dramatische Wendung erhalten. Zusammen mit anderen Aktivistinnen wollte sie an der Werbekampagne für den Film Bordertown teilnehmen. Der Hollywoodspielfilm über die Thematik der feminicidios lief im Mai in mehreren mexikanischen Kinos an. Aufgrund von Morddrohungen via E-mail und Mobiltelefon sagten alle Aktivistinnen ihre Teilnahme an den Werbeveranstaltungen ab. Im Folgenden erzählt uns Marisela noch einmal ihre persönliche Geschichte: wie sie direkt mit den Frauenmorden konfrontiert wurde, wie sich ihr Leben als Aktivistin verändert hat, welche Auswirkungen die feminicidios auf die Gesellschaft haben und wie Straflosigkeit in Mexiko funktioniert. 

Marisela Ortiz

Ich war Alejandras Lehrerin in der Mittelschule gewesen, bis sie 15 wurde, und in gewisser Weise war ich ihre Vertrauensperson. Ich sah, wie sie sich von einem Mädchen in eine Frau verwandelte, für mich war dies wunderbar, denn ich mochte sie sehr. Sie war ein Mädchen mit viel Talent, eine Jugendliche mit viel Kraft. Als sie verschwand, war das für mich ein schrecklicher Schlag. Erst am Freitag erfuhr ich, dass sie bereits am Mittwoch die Fabrik um sieben Uhr abends verlassen hatte. Normalerweise holte Norma, ihre Mutter, sie von der Arbeit ab, manchmal brachte sie sie auch hin. Norma passte auf die Kinder auf, sie arbeitete in der Schule und auch in der Fabrik. Später musste sie damit aufhören, um die Kinder von Alejandra zu betreuen. An diesem Nachmittag hatte Norma ein Seminar, deshalb holte sie Alejandra nicht von der Fabrik ab.Wir vermuten, dass sie direkt vor der Fabrikhalle entführt worden ist, aber wir wissen nicht wie. Der Platz ist absolut einsam, im Februar um sieben Uhr abends – der Zeitpunkt, als sie verschwand – ist es schon vollständig dunkel. In dieser Zeit wird es schon gegen halb sechs oder sechs dunkel. Viele Frauen wurden aber auch bei Tageslicht verschleppt, das scheint kein Hindernis für diejenigen zu sein, die diese Verbrechen begehen.

Ich habe verfolgt, wie die verschwundenen Frauen in den Zeitungen dargestellt werden. Die Frauen, die ermordet wurden, werden im allgemeinen beschuldigt, selbst für ihr Unglück verantwortlich zu sein. Man behauptet, sie hätten mit Drogenhändlern zu tun oder nähmen selbst Drogen, gingen der Prostitution nach oder seien aufreizend gekleidet gewesen. Zusammengefasst: Sie waren selber schuld. Ich schrieb deshalb einen Leitartikel, in dem ich darstellte, wie Alejandra gewesen war, ihr Talent, ihre Art und Weise zu sein, ihr Engagement, auch ihren Patriotismus, denn sie liebte ihre Heimat. Sie war eine Jugendliche, die viele Spuren im Gedächtnis der Schule hinterlassen hatte.

Man fand Alejandra sieben Tage nach ihrem Verschwinden, ihr Körper war mit Folterspuren übersät. Sie war nur wenige Stunden, bevor man ihre Leiche fand, ermordet worden. Sie wurde erdrosselt, von zahlreichen Männern vergewaltigt und gefoltert, ihr Körper wies die Spuren von Verbrennungen von Zigaretten auf. Man hatte sie in verschiedene Teile ihres Körpers gebissen, ihre Unterlippe war vollständig abgerissen. Sie muss schrecklich gelitten haben, bevor sie starb. Die Bemühungen, die wir seit dem Zeitpunkt ihrer Verschleppung gestartet hatten, reichten nicht, sie noch lebend zu finden. Das war unsere Absicht gewesen. Wir wollten auch die Behörden antreiben, eine gründliche Suche zu starten. Es war umsonst. Aber es führte dazu, die Aufmerksamkeit anderer Familien zu wecken, denen dasselbe passiert war und die auch nicht wussten, was mit ihren Töchtern geschehen war.

Was wir uns wünschen? Wir wünschen uns, dass unsere Töchter nach der Schule oder nach der Arbeit nach Hause kommen, denn die Angst jeder Mutter in Ciudad Juárez ist, dass sie ihre Töchter aus dem Haus gehen sehen und nicht wissen, ob sie zurückkehren. Ich habe selbst Töchter, und jedes Mal, wenn sie auf die Straße gehen, sehe ich sie an und merke mir die Sachen, die sie anhaben. Das hab' ich vorher nicht gemacht. Du denkst immer, wenn was passiert, wie willst du beschreiben, was sie anhatten? Ich beobachte genau, was sie tragen, für den Fall, dass ich sie vermisst melden muss. Es gab so viel Verwirrung, auch mit der Kleidung der ermordeten Mädchen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass das notwendig wäre. Es ist grausam, aber dein eigenes Leben ändert sich mit diesen Dingen.

Wir waren unterwegs, um Infozettel zu verteilen, und ich hatte meine Töchter dabei, sie saßen im Auto. Ich hatte den Wagen vor einem Supermarkt geparkt, denn ich wollte sie im Blick haben. Ich werde unruhig, wenn ich meine Kids allein lasse.Wir verteilten also unsere Suchmeldungen an die Autofahrer an einer Kreuzung. Dabei sah ich mich um, um nachzuschauen, ob mit meinen Töchtern alles in Ordnung war. Sie hatten die Suchmeldung des verschwundenen Mädchens in der Hand und spielten. Eine fragte, die andere antwortete: „Wie sieht sie aus?“ – „Wie heißt sie?“ – „Wann ist sie verschwunden?“ Das schien mir grausam, makaber. Ich sagte zu ihnen: „Nein, ihr sollt das nicht spielen. Das ist kein Spiel.“ Sie haben es schon als Teil ihrer Kultur verinnerlicht, dass Mädchen verschwinden!

Eines Tages sagte meine Tochter zu mir: „Ich will wie du sein, wenn ich groß bin.“ Ich antwortete ihr: „Du wirst viel besser sein, außerdem bist du ein sehr schönes Mädchen und ich bin sicher, dass du ein wunderschöner Teeny sein wirst.“ Was sie mir darauf antwortete, erfüllte mich mit Angst. Sie sagte: „Wenn ich so alt werde, Marisela, wenn ich's überhaupt schaffe, so alt zu werden!“ Ich sagte: „Sag das nicht!“ – „Wieso? Merkst du nicht, dass sie Mädchen umbringen? Glaubst du, ich werde mich retten?“, bemerkte sie. Das macht mir Angst. Warum sollen unsere Töchter so denken? Warum sollen sie von klein auf annehmen, dass sie eines Tages umgebracht werden?! Das ist so ungerecht!

Wir leben mit der Straflosigkeit und immer mit Risiko. Das darf doch nicht sein! Viele Leute stellen keine Strafanzeige, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Wir kennen viele Mütter, deren Töchter vor vielen Jahren verschleppt wurden und das niemals zur Anzeige gebracht haben, weil sie nicht wissen, dass sie dieses Recht haben. Weil unsere Gesellschaft sehr patriarchalisch ist, müssen wir folglich akzeptieren, eines Tages durch die Hand eines Mannes zu sterben? Das ist doch auf keinen Fall normal. Viele Leute in Ciudad Juárez sagen, dass es normal ist, wenn eine Frau von einem Mann umgebracht wird. Nein, das ist nicht normal, es ist hier vielleicht üblich, aber wir dürfen niemals zulassen, dass diese Gewalt zur Normalität wird, das ist das Beunruhigende. Die Mütter haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren: Warum wurden ihre Töchter ermordet? Warum wurden sie verschleppt? Wer ist dafür verantwortlich? Wo hielt man sie gefangen? Das sind die Fragen, die ihr Leben bestimmen. Was ist tatsächlich passiert? Wie ist es abgelaufen? Viele Mütter wurden zu Ermittlerinnen und versuchten auf eigene Faust herauszufinden, was geschehen ist. Einigen Müttern ist es gelungen ist, den Ort zu finden, wo ihre Töchter entführt wurden und wo sie festgehalten und gefoltert wurden. Manchmal ist es ihnen gelungen, die Namen von Polizeibeamten festzustellen, Autokennzeichen oder Angaben zu den Häusern, in denen ihre Töchter die letzten Augenblicke ihres jungen Lebens verbrachten. 

Im Fall von Alejandra gab es einen Zeugen, der uns berichtete, was er im direkten Umfeld erfahren hatte. Es gibt in Mexiko eine Figur parallel zur Polizei, eine Art Hilfspolizisten, man nennt sie Madrinas, was eigentlich „Patinnen“ heißt. Sie machen die Drecksarbeit. Die Poli-zisten bezahlen sie, aber sie haben keine Polizeiplakette und sind nicht als PolizistInnen registriert. Der Zeuge sagte, er sei ein solcher „Helfer“ eines Polizisten gewesen. Dieser Mann sagte bei Amnesty International aus. Wir haben ihn zu Amnesty gebracht, um seine Aussage zu machen, denn er sagte: „Ich habe Angst. Wenn sie erfahren, dass ich geredet habe, bringen sie mich um.“ Er wollte keine offiziellen oder öffentlichen Erklärungen in Juárez abgeben. Was er wusste, ist grauenhaft. Er sagt, dass zwei Polizisten des Bundesstaates Chihuahua Alejandra entführt hatten und sie einem sehr bekannten Unternehmer übergaben, der Kopf einer Drogenhändlerbande ist. Er nannte auch die Namen, sowohl die der Polizisten als auch dieses Unternehmers. Er sagte uns sogar, wo man sie festgehalten hatte. Die Angaben stimmen mit den Daten überein, die wir aus dem Bericht der Journalistin Diana Washington entnommen hatten, der aus sehr sicheren Quellen stammt. Sie hatte sie über das FBI erhalten. Alles passte. Es stimmte haargenau überein! Wir hatten kaum noch Zweifel, aber keine Beweise. Die Aussage kann nicht als Beweis dienen. Selbst wenn dieser Mann eine offizielle Zeugenaussage machen würde, hätte sie keinen Wert. Es muss bewiesen werden, um so mehr, wenn es sich um eine reiche und mächtige Person handelt. 

Im Fall von Alejandra haben wir keine Zweifel mehr. Das ist wie bei einem Puzzle, du setzt es zusammen, immer mehr Teile, eins nach dem andern. Einige fehlen, aber mit den Teilen, die du hast, kannst du das Bild schon erkennen. Du kannst dir wirklich ein Bild machen, was passiert ist. Der Fall Alejandras ist sehr wichtig in Bezug auf die übrigen Opfer. Man hat bei ihr gefunden, was man auch bei anderen Körpern Ermordeter fand, bis hin zu der Art und Weise, wie die Leiche abgelegt wurde, um sie loszuwerden. Nein, es ging nicht einfach darum, irgendwo hinzugehen und sie wegzuwerfen. Es ging auch nicht darum, das Verbrechen zu verbergen. Ganz im Gegenteil: Es war wichtig, dass das Verbrechen bekannt wurde. Das war so wichtig, dass es sogar anonyme Anrufe gab, um mitzuteilen: Da und da ist sie. Die Körper werden nicht versteckt, weil es – wie es die brasilianische Anthropologin Rita Segato formuliert – eine Art Schrift gibt, wie eine Inschrift auf dem Körper der ermordeten Frauen.

Ich glaube, niemand hätte 2001 voraussagen können, wie sich mein Leben verändern wird. Ich erhielt viele Drohungen und es gab sogar Mordversuche. Der letzte war im August 2007, da war ich mit meiner Familie im Auto unterwegs und wir wurden beschossen. 2004 haben mir drei Fahrzeugevon dem Typ, den die Staatspolizei benutzt, den Weg abgeschnitten und die Insassen rissen meine Autotür auf. Ich dachte, sie wären verärgert, weil ich zu hupen begann, als sie mir den Weg versperrten. Also dachte ich mir, diese Machos haben sich geärgert, weil ich sie angehupt habe. Aber sie zogen eine Pistole und setzten sie an meine Schläfe. Einer sagte: „Ist das die Alte“?“ „Ja, das ist sie.“ „Dann mach sie fertig!“ sagte ein anderer der Typen. „Jetzt werden wir dich zum Schweigen bringen!“ Ich hörte gar nicht zu, mir schwirrte der Kopf. Einer der Typen brüllte: „Lass sie aussteigen, lass sie aussteigen und steck ihr die Pistole in den Hintern und zieh ab!“ Ich bereitete mich also darauf vor zu sterben. Ich hörte, wie ein anderer der Männer sagte: „Nein, nein, wisst ihr was? Diese Alte hier will wissen, was mit den Frauen von Juárez passiert, also werden wir's ihr zeigen. Lasst sie und wir werden ihre Töchter entführen, wir werden sie vergewaltigen und vor ihren Augen töten.“

Es war schrecklich. Schließlich verschwanden sie. Ich weiß nicht, wie lange ich da blieb. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie hatten mir gesagt: „Wenn du dich rührst, bringen wir deine ganze Familie um und mit dem Jüngsten von allen fangen wir an.“ Der Jüngste damals war mein Enkel, der zwei Jahre alt war. 
Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte, ich hatte Angst, nach Hause zu gehen. Und so fuhr ich in die Schule, wo ich arbeitete. Der Direktor ist auch ein Freund von mir, der diesen Kampf unterstützt. Zuerst schickte er mich nach Hause, aber als er meine Panik sah, sagte er, ich solle in sein Büro gehen und von dort meine Kinder anrufen. Als sie meine Stimme hörten, schrieen sie: „Mama, bist du entführt?“ Ich versuchte sie zu beruhigen, aber ich bat sie, die Türen zu schließen, das Licht auszumachen und keinen Lärm zu machen. Mein Sohn schrie: „Wo bist du?“ Ich traute mich nur, sie zu bitten, nicht auf die Straße zu gehen. Aber sie blieben nicht drinnen, sie setzten sich alle in den Wagen und kamen zur Schule. Inzwischen hatte ich die Schwester von Alejandra angerufen, um ihr zu sagen, was vor sich ging, damit sie Bescheid wusste, wenn sie uns töten sollten. Aber Marilu, die Schwester von Alejandra, suchte Hilfe, sie rief bei Amnesty an und bei der mexikanischen Bundespolizei.

Meine Kinder kamen in der Schule an, sie wollten in die Vereinigten Staaten fliehen, aber wir konnten nicht, draußen vor der Schule waren dieselben Typen, die mir gefolgt waren, und beobachteten uns. Als wir uns in Bewegung setzten, kamen sie hinter uns her. Meine Schwiegertochter fuhr und mein Sohn telefonierte. Leute aus der Bewegung warteten in einem zentral gelegenen Hotel auf uns und dorthin fuhren wir, während die Typen auf uns schossen, mit dem Körper halb aus dem Wagen hängend, um uns zu töten. Ich drückte meine Töcher und mein Enkelkind auf den Boden des Autos. Eines meiner Mädchen schrie: „Mama, was haben wir gemacht? Was haben wir getan, dass sie uns umbringen wollen? Warum? Sind wir schlecht?“ Wie kannst du ihnen erklären, dass sie dich umbringen wollen, obwohl du nichts gemacht hast? Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, auf jener Flucht, verfolgt von drei Autos mit Männern, die auf uns schossen, mit dem Oberkörper aus den Fenstern hängend. Schließlich kamen wir bei dem Hotel an. Die Leute, die auf uns warteten, bildeten ein Spalier, damit wir rein konnten. Mein Sohn drehte in diesem Moment durch, wollte nicht in das Hotel hinein und schrie: „Sie werden uns töten! Sie werden uns alle umbringen. Hier können wir nicht bleiben.“ Und ich schrie: „Aber jemandem müssen wir vertrauen!“

Das war eine sehr harte Erfahrung, ich glaube, die härteste von allen. Einer der Staatsanwälte feindete mich sehr an, weil ich nicht zu seinen Vorladungen erschien. Eines Tages fuhr ich hin. Er lud mich vor um mich zu bedrohen und anzuschreien, dass ich mit dieser Bewegung aufhören solle. „Sofort!“ Ich sagte ihm: „Das kann ich nicht, sprechen Sie mit den Familien, ich unterstütze sie nur, ich entscheide nichts.“ Er schrie: „Das ist nicht wahr! Sie beeinflussen sie!“ Ich antwortete ihm: „Sie hätten sich nicht an mich wenden sollen, Herr Staatsanwalt.“ Er versuchte, mich davon abzubringen und fragte: „Gibt es irgendeinen Weg, damit Sie diesen Protest abstellen?“ Ich dachte: „Unglaublich!“ „Ja“, sagte ich, „es gibt einen.“ Ich sah seine Augen aufleuchten, er dachte, das ließe sich mit Geld regeln. Ich sagte: „Finden Sie die Mädchen. Bringen Sie sie lebendig und die Mütter werden zufrieden sein. Und ich werde das Ganze stoppen.“ Der Staatsanwalt sagte zu mir: „Es ist besser, wir lassen die Toten in Ruhe. Sie haben Töchter, die leben; nicht, dass ihnen noch dasselbe passiert.“

Aufgezeichnet von Graciela Salsamendi, Carlos Müller und Brigitte Czyborra bei einem Interview mit Marisela Ortiz im Dezember 2007 in Köln.