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Palenque als historisches Vorbild

Soziale Afrobewegungen in Kolumbien

Eine Verfassungsreform von 1991 verhalf den Afro-Gemeinden, die im kolumbianischen Pazifikgebiet wohnen, zur rechtlichen Anerkennung ihres traditionellen Landes. Der harsche neoliberale Kurs, der sich ab den 90er Jahren durchsetzte, nahm den neu erworbenen Rechten auf Territorium und Diversität jedoch den Wind aus den Segeln. Das Pazifiktiefland wurde wegen seiner reichen natürlichen Ressourcen interessant und für Infrastrukturvorhaben lukrativ. Der bewaffnete Konflikt verschärfte sich, Tausende AfrokolumbianerInnen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. In Anbetracht dieser widrigen Umstände sind die vielfältigen Aktivitäten, die die Afro-Organisationen im Pazifikgebiet und anderen Landesteilen entwickeln, beachtlich. Auch wenn, was Geschlossenheit und innere Einheit betrifft, die Afro-Bewegung noch weiter vorankommen muss, wie Autor Carlos Rua meint.

Carlos Rua

Der 21. Mai ist in Kolumbien der nationale Tag der Afrocolombianidad, der Tag der afrokolumbianischen Kultur. Er erinnert an die formale Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1851. An diesem Tag finden viele Veranstaltungen statt, so auch in Tumaco und Umgebung, wo unsere Organisation Ecotambor tätig ist. Tumaco ist eine Hafenstadt an der Grenze zu Ecuador, die zum südlichen Departement Nariño gehört. Sie ist Teil des Pazifiktieflandes, in dem neben indigenen vor allem schwarze Gemeinschaften beheimatet sind. Als Hommage an den Freiheitskampf, den die Sklaven dort führten, wurde am 21. Mai in Miras Palmas, ein Ort am oberen Mira-Fluss, bei einer Versammlung dieser Teil unserer Geschichte in Erinnerung gerufen. In der Stadt Tumaco debattierten LehrerInnen und Mitglieder von Consejos Comunitarios, afrokolumbianische GemeindevertreterInnen, über den Zusammenhang von Biodiversität und ethnisch-kultureller Identität. Es wurden typische Tänze wie Mapalé und Bambasu aufgeführt und einheimische Gerichte wie Krabben-Ceviche und in Kokosmilch gedünsteter Fisch serviert. 

Die soziale Bewegung der AfrokolumbianerInnen, um die es hier geht, ist in einer schwierigen Situation. Ihre Bedingungen sind prekär und sie ist aufgespalten. Mit Blick auf die eigene Geschichte versucht die Afro-Bewegung, eine Perspektive für größere Einheit zu entwickeln. Bei dieser Suche nach mehr Geschlossenheit ist der Palenque das wichtigste Erbe unserer Vorfahren. Der Palenque war eine Schule für Selbstregierung, Widerstand, Bildung von kultureller Identität und Anwendung von Afro-Justiz. Er war der Ort, an dem sich entflohene SklavInnen und solche, die sich frei gekauft hatten, sammelten. Sie mobilisierten sich für die Abschaffung der Sklaverei und für Freiheit. Das erklärt, warum der Palenque bis heute ein Kampfessymbol ist. Er verkörpert das historische Emanzipationsprojekt der AfrokolumbianerInnen. 

In Kolumbien gibt es eine große Bandbreite von afrokolumbianischen Prozessen. Im städtischen und ländlichen Raum zählen wir derzeit 5000 Organisationen, davon sind tausend offiziell beim Innen- und Justizministerium, Abteilung Ethnien, eingetragen. Sie arbeiten daran, Prozesse aufzubauen, die die Afro-Identität stärken, bemühen sich um die Rückkehr von Binnenflüchtlingen auf ihr Land, treten für die Menschenrechte ein, entwickeln Konzepte von traditionell-ländlicher und städtischer Territorialität oder sind mit der Formulierung von Entwicklungsplänen mit einem Gender- und Generationsansatz befasst. So breit das Spektrum der Initiativen von AfrokolumbianerInnen ist, so breit ist auch ihr Betätigungsfeld.
Innerhalb dieser Gesamtdynamik agieren afrokolumbianische Basisorganisationen, die wir als autonome Räume bezeichnen. Sie entwickeln ihre Arbeit in Städten und Regionen, die für die Afro-Bewegung bedeutend sind: in Bogotá und dem Hauptstadt-Distrikt, an der Atlantikküste, im Pazifiktiefland, in den Departements Risaralda, Antioquia, Caldas, der Amazonasregion Putumayo und den Karibikinseln San Andrés und Providencia. Sie sind autonom, da sie ganz im Sinne der afrokolumbianischen Gemeinden funktionieren und sich von den staatlichen – oder staatlich vorgegebenen – Regierungs- und Organisationsformen unterscheiden. Dem widerspricht jedoch nicht, dass sie mit staatlichen Behörden bestimmte Programme und Projekte abstimmen. Es sind gefestigte, permanent arbeitende Organisationen, die sich regional und national vernetzen. Zu diesen Basisorganisationen gehören die afrokolumbianischen Bauernorganisationen des Pazifikbeckens, wie zum Beispiel die Asociación Campesina Integral del Atrato, ACIA. 

Außerdem gibt es andere wichtige Prozesse mit Netzwerkcharakter. Zu nennen sind der Proceso de Comunidades Negras de Colombia, PCN (Prozess der Schwarzen Gemeinschaften von Kolumbien), Cimarrón, Ecotambor, Conferencia Afrocolombiana und die Asociación de Afrocolombianos Desplazados, Afrodes, eine Organisation der afrokolumbianischen Binnenflüchtlinge. All diese Ausdrucksformen der Afro-Gemeinden haben gemeinsame Ziele, insbesondere in Bezug auf Arbeiten, die zur Stärkung der Identität und zum Schutz der Rechte und des Lebensraums beitragen. Jedoch unterscheiden sie sich in den Auffassungen, wie man zur Einheit gelangt und welche Rolle Mobilisierungen zukommt. Einige stellen sich eine Art bürokratische Einheit von oben vor, andere gehen davon aus, dass die Einheit von unten nach oben vollzogen werden muss, d.h. zuerst muss Einheit auf lokaler, dann auf regionaler und nationaler Ebene hergestellt werden. Auch bei der Bewertung der Regierungspolitik bestehen Unterschiede. Es gibt Abgeordnete, die im Namen der schwarzen Gemeinschaften gewählt wurden und sich für Vorhaben der Regierung aussprechen, die gegen diese gerichtet sind. Auch schweigen sie zur Kriegspolitik. Andrerseits gibt es auch viele afrokolumbianische Führungspersonen, die sich vehement gegen die Regierungspolitik stemmen. 

Die Versuche, die soziale Afro-Bewegung zu spalten, sind heftig. Bei ihrer Strategie, den Freihandelsvertrag mit den USA durchzubringen, bemüht sich die Regierung insbesondere um die Unterstützung von schwarzen Kongressabgeordneten. Paula Moreno wurde zur Kulturministerin ernannt, Pastor Elías Murillo Leiter der Abteilung Afro-Gemeinden des Innenministeriums, Andrés Palacios Vizeaußenminister. Damit soll die Botschaft verbreitet werden, dass „die Afros“ in der aktuellen Regierung vertreten sind. Dabei handelt es sich aber um eine formale Präsenz, zu der die sozialen Bewegungen nicht befragt wurden. Sie ist nicht von einer staatlichen Politik zugunsten der Afro-Gemeinden begleitet. Im Grunde soll damit die Öffentlichkeit verwirrt und die sozialen Kämpfe der AfrokolumbianerInnen verdeckt werden.

Nach unserer eigenen Einschätzung ist ein Viertel der Gesamtbevölkerung – ca. 12 Mio. Menschen – afrokolumbianisch. Beim amtlichen Zensus 1993 wurde lediglich eine halbe Million EinwohnerInnen als AfrokolumbianerInnen registriert, zwölf Jahre später 4,2 Millionen. Dies ist der enormen Sensibilisierungsarbeit der Afro-Bewegung geschuldet, auch wenn diese offizielle Zahl für uns nicht den wirklichen Bevölkerungsanteil widerspiegelt. Warum gibt es einen so großen Unterschied zwischen unserer Einschätzung und den amtlichen Zahlen? Das hängt damit zusammen, wie ethnische Zugehörigkeit abgefragt wird. Würde man diese Indikatoren, die sog. etnónimos, erweitern und mit einer intensiven Bewusstseinsarbeit bezüglich Identität und Begleitung der schwarzen Gemeinden verbinden, würden sich andere Zahlen ergeben. 

Das Recht der AfrokolumbianerInnen auf Anderssein, auf ethnische und kulturelle Diversität, wurde lange missachtet. Kolumbien verstand sich als Nationalstaat mit monokulturellem Charakter, was man vornehmlich auf die europäischen Wurzeln bezog. Die Abstammung von AfrikanerInnen und Indígenas wurde ins Hinterstübchen verbannt. Erst die Verfassung von 1991 definierte Kolumbien als multiethnische und plurikulturelle Nation. Dadurch wurde die Existenz zahlreicher Ethnien und Kulturen im Land konstitutionell anerkannt. 

Diese Verfassungsreform von 1991 leitete einen Prozess der rechtlichen Anerkennung von traditionellem Lebensraum der Afro-Gemeinden im Pazifiktiefland ein. Inzwischen wurden dort 5,3 Mio. Hektar Kollektivland, 500 000 Hektar Mangrovenwälder und 500 000 Hektar Naturparks mit Landtiteln versehen. Das Pazifiktiefland besteht aus zehn Mio. Hektar von tropischem Regenwald, der nur wenig besiedelt ist. Die Dichte des Waldes, die häufigen Überschwemmungen der Flüsse und eine fragile Biodiversität charakterisieren eine durchweg komplexe Überlebenssituation. 

Die rechtliche Anerkennung ihres traditionellen Landes bedeutet für die Afro-Bewegung einen Bruch mit der hegemonialen Kontrolle, das Zurückgewinnen des angestammten Territoriums kann man im Sinne von historischer Wiedergutmachung verstehen. Auch wenn die vergebenen Landtitel gut der Größe einer Karibik-Republik entsprechen, ist der Prozess der Titulierung von Gemeindeland noch lange nicht abgeschlossen. Bisher kommt er erst 300 000 Pazifik-BewohnerInnen zugute. Im ländlichen und städtischen Raum gilt es, den Aufbau autonomer Territorien fortzusetzen. Der Kampf um Land und Territorium steht auf der Agenda der afrokolumbianischen Bewegung ganz oben.

Wie die indigenen Völker sind die Afro-Gemeinden durch das Übereinkommen 169 der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) geschützt und genießen das Recht auf Konsultierung und vorinformierte Zustimmung bei Vorhaben, die sich auf ihr Kollektivland beziehen. Bezüglich dieses wichtigen Rechtes gibt es einen dauernden Disput, oft wird es nicht respektiert oder eingeschränkt. Konkretes Beispiel: Das „Allgemeine Forstgesetz“ (Ley General Forestal) wurde von der Regierung von Präsident Uribe vorangetrieben und schließlich 2006 vom Kongress beschlossen. Klare Absicht dabei war, ausländischen Investoren die kommerzielle Nutzung von Naturwald zu erleichtern und diesen mit anderem Wald und Baumarten zu ersetzen. Dies würde die Lebensbedingungen der Afro- und indigenen Gemeinden stark beeinträchtigen. 2008 fällte der Verfassungsgerichtshof ein Urteil, in dem er wegen der fehlenden Konsultierung der indigenen und Afro-Gemeinden das Gesetz zurückwies. Dies ist ein positives Beispiel. Bei vielen Bergbauvorhaben, wie z.B. dem Kohleabbau in La Guajira, wurde die Pflicht zur Konsultierung der Afro- und indigenen Gemeinden de facto außer Kraft gesetzt.

Historisch bedingt ist die afrokolumbianische Bevölkerung in den Küstenregionen von Pazifik und Atlantik konzentriert, zum Beispiel hat das Pazifik-Departement Chocó 85 Prozent schwarze BewohnerInnen. Von den Großstädten hat Cali mit über einer Million den höchsten Afro-Anteil. Aber auch in anderen Städten – wie Barranquilla, Cartagena, Santa Marta, Montería, Sincelejo und Medellín – leben viele AfrokolumbianerInnen, die meisten unter bedrückenden Bedingungen in Armenvierteln. In Bogotá ist ihre Zahl (900 000 Personen) infolge der gewaltsamen Vertreibungen im letzten Jahrzehnt stark gewachsen. 
Die soziale Situation der afrokolumbianischen Bevölkerung ist prekär. In materieller Sicht gehören die Afros zu den Ärmsten der Armen. 74 Prozent haben Einkünfte, die unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns (ca. 165 Euro) liegen. Auf dem Land ist die Analphabetenrate weiter enorm hoch. Die Gesundheitsversorgung ist miserabel. Von hundert Jugendlichen mit Abitur gelingt nur zweien der Sprung an die Universität. 

Ein Überlebensproblem sind Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Gewalt, der vor allem die ländliche Afro-Bevölkerung ausgesetzt ist. In Buenaventura, dem wichtigsten Pazifikhafen, reißt die Kette von Morden an Afro-Jugendlichen nicht ab. Dies hat einen ökonomischen Hintergrund, denn dort soll der Hafen erweitert werden. Armenviertel, die von Schwarzen bewohnt werden, stehen dem im Wege. Im Pazifikgebiet von López de Micay (Dept. Cauca) hagelt es Bomben von Flugzeugen der regulären Armee, eine Maßnahme innerhalb des Drogenkriegs. Schwarze Führungspersonen vom Naya-Fluss wurden im Vorfeld einer Veranstaltung zum Gedenken an ein Massaker der Paramilitärs bedroht. Dabei wurden im Jahr 2001 über hundert AfrokolumbianerInnen und Indígenas umgebracht. Die Verbrechen sollen also verschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden. Im ganzen Pazifik-Gebiet haben die Vertreibungen nicht aufgehört, oft wandern die Familien still und leise, nach und nach, ab. Ursache dafür sind wirtschaftliche Interessen, darunter der Rauschgifthandel, und das Agieren der bewaffneten Akteure. 

Rassismus und Diskriminierung sind Alltag. Ein aktuelles Beispiel: Die Senatorin Piedad Córdoba, mittlerweile international bekannt, setzt sich energisch für ein humanitäres Abkommen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla ein. Nicht zuletzt aufgrund ihres Engagements hat im Januar die FARC einige zivile Geiseln freigelassen. Von regierungsnahen Kreisen, denen ihre Arbeit nicht passt, wird sie wegen ihrer Hautfarbe beschimpft. Sie wird als „doofe Schwarze“, eine „Schwarze, die das Vaterland verrät“ oder als „Guerillera-Schwarze“ verunglimpft. Sie erlitt mehrmals tätliche Übergriffe.
Auch die Gleichgültigkeit staatlicher Behörden ist ein großes Problem für die Afro-Bewegung. Bereits 2005 wurde eine Vereinbarung mit der Nationalen Fernsehkommission unterzeichnet, um die ethnischen Gruppen mehr am öffentlichen Fernsehen zu beteiligen. Sie sollen sich selbst vorstellen, um das allgemeine Bewusstsein zu verändern und damit das Zusammenleben zu verbessern. Aber es gab bisher keinerlei Schritte, dieses für uns wichtige Vorhaben umzusetzen.
 
In diesem schwierigen und komplexen Umfeld verlaufen die alltäglichen Prozesse, vielfältigen Proteste und Kämpfe der Afro-Bewegungen, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Die afrikanischstämmige Diaspora in Lateinamerika muss den Kampf für ihr Territorium verstärken und gegen alle Formen von Gewalt, Rassismus und Diskriminierung vorgehen. So wird sie mit all ihren Kräften zum Aufbau eines neuen Kontinents beitragen, der den Afro- und indigenen Gemeinden und allen anderen Gruppen, die in den zwei Jahrhunderten von Pseudorepubliken ausgegrenzt wurden, eine Perspektive von Freiheit und voller Entfaltung vermittelt.

Carlos Rua ist Leiter der afrokolumbianischen Organisation Ecotambor: ecotambor@yahoo.com. Bearbeitung und Übersetzung: Bettina Reis