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Wo Busfahren zum Abenteuer wird

Der private Öffentliche Personennahverkehr

Ein Foto in der Zeitung. Die kleine Beatriz schaut auf fünf Särge: die ihrer Großmutter, einer Cousine, zweier Onkel und einer Schwester – Opfer des Busunglücks vom 25. Dezember 2006. Die Polizei hat den Unfall aufgenommen wie viele andere davor und danach. Die Ursachen sind klar, nicht immer werden sie in den Zeitungen vermerkt, denn es sind immer dieselben: Der Bus war eine 20 Jahre alte Kiste, abgefahrene Reifen, defekte Bremsen, zu viele Passagiere. Der Fahrer, zu jung, nie ausgebildet für den Personentransport, ständig unter Zeitdruck, ist gerast. In San Salvador sind die ganz schweren Busunfälle selten. Hier steht über dem Alltag der Hungerleider geschrieben: Stirb langsamer, Stress, Aggression, handfester Streit, Totschlag, Luftverschmutzung begleiten dich auf Schritt und Tritt und bei jeder Busfahrt.

Eduard Fritsch

Seit 1996 gibt es in El Salvador ein gesetzliches Höchstalter für Busse und Minibusse im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV): 15 Jahre. Aber noch immer fahren in San Salvador Busse rum, denen man ansieht, dass sie die 30 Jahre gefahren sind, die entsprechende Statistiken ausweisen. Auch die Anzahl der Busse mit über 15 Jahren Laufzeit (2004 noch an die 70 Prozent) nimmt nur langsam ab, denn mit schöner Regelmäßigkeit werden im nationalen Parlament ausnahmsweise Verlängerungen der Lizenzen beschlossen. Und auch anlässlich der x-ten Verlängerung brachte es Präsident Saca im dritten Jahr seiner Amtszeit (2006) fertig zu beteuern, man wolle die alten Busse aus dem Verkehr ziehen, um die „Servicequalität zu verbessern“. Werden solche Verlängerungen zum Beispiel an die Bedingung geknüpft, dass der Busunternehmer Abgasmessergebnisse und Kfz-Prüfberichte beibringt, schwant allen Beteiligten von vorneherein, wie derlei Papierkram erledigt werden wird. Bei der Pflichtversicherung für Fahrzeuge des ÖPNV sieht es ähnlich aus. Seit dem Jahre 2000 gibt es ein Gesetz über Straßenverkehr, Landtransporte und Straßensicherheit, das eindeutig festschreibt, dass diese Fahrzeuge, ihre Fahrer und die in San Salvador an einer Hand zu zählenden Fahrerinnen Unfall- und Personenschadensversicherungen haben müssen. Von der Verabschiedung des Gesetzes bis zu seiner Umsetzung kann es ewig dauern – nicht weil der Heilige Erlöser (San Salvador) seine Hand im Spiel hat, sondern weil sich zum üblichen, von Interessen geleiteten politischen Aushandeln ein spezifischer Klientelismus gesellt. 

In der polarisierten Gesellschaft El Salvadors verwundert es zunächst, wenn im nationalen Parlament Einstimmigkeit herrscht, eben nicht nur darüber, dass die Anzahl der Verkehrsunfälle vermindert werden muss, sondern auch darüber, dass man für eben diese Unfälle mitverantwortliche Busunternehmer ein ums andere Mal bedient. In einem Land, das seine nicht unbedeutenden Eisenbahnstrecken längst stillgelegt hat, in einer Hauptstadt, wo die letzten Gleise der einst von Pferden gezogenen Straßenbahnen längst verschwunden sind, spielen Busse, Minibusse und Pick-ups für den Personentransport eine zentrale Rolle. Dito deren Eigentümer, allen voran die buseros – das sind nicht die Busfahrer, sondern die Busunternehmer, darunter auch Transportgenossenschaften. Sie haben es bis heute sehr geschickt verstanden, die Wählerstimmen, die sie mit klientelistischen Methoden mobilisieren können, an die meistbietende Partei zu verkaufen. Wenn dann jeder Flottenboss seine Partei hat (und jede Partei ihren Flottenboss), lässt sich leicht Gegenwehr organisieren, wenn das allen Busunternehmern gemeinsame Interesse, nämlich möglichst ungehindert Profit zu machen, in Gefahr gerät, ein wenig geschmälert zu werden. Man kann es auch so ausdrücken: Für eine Handvoll Stimmen mehr sterben Leute bei Busunfällen, versinkt San Salvador im Verkehrschaos, geht all jenen, die nicht das Privileg haben, in luftigen Höhen zu wohnen, allmählich die Luft aus. 

Der Öffentliche Personennahverkehr heißt öffentlich, erstens weil er die allgemeine Öffentlichkeit transportiert, zweitens weil er ein öffentlicher Dienst und drittens weil er in öffentlicher Hand ist, also von staatlichen Instanzen betrieben (Zentralregierung, Gemeinden) wird und nicht von der Privatwirtschaft. Das war hierzulande bis vor kurzem selbstverständlich. Nicht so in El Salvador. Dort ist der transporte público zwar auch dafür da, das público en general zu transportieren, aber es ist selbstverständlich, dass private Verkehrsbetriebe diesen öffentlichen Dienst anbieten. Wer früher besagte von Pferden gezogene Straßenbahnen betrieben hat, weiß heute niemand mehr. Unabhängig von der Frage, wie lange die menschliche Erinnerung eigentlich unter abhängig-kapitalistischen Bedingungen reicht, gibt es einfach keine Diskussion über eine Entprivatisierung der Dienstleistung ÖPNV. Das ist umso verwunderlicher, als in El Salvador 15 Jahre Erfahrung mit Privatisierungen von Staatsbetrieben und öffentlichen Dienstleistungen vorliegen. Vor allem die Privatisierung der Stromversorgung spürt in San Salvador, im Hauptstadtbezirk Area Metropolitana de San Salvador (AMSS), mit seinen zweieinhalb Millionen Menschen und im ganzen Land jeder Geldbeutel – der der kleinen Frau und des kleinen Mannes am meisten. Auch gab und gibt es massiven Widerstand gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens. Über ein Jahr lang waren es 2001/2002 die „weißen Märsche“ dagegen, die den ÖPNV in San Salvador zum Erliegen gebracht haben. 

Auch die Preiserhöhungen für Busfahrten in den Jahren 2005 und 2006 haben zu derart massiven Protesten geführt, dass eigentlich nichts näher liegt als eine grundlegende Reform des Personenverkehrswesens. Zwar werden die Buspreiserhöhungen mit den gestiegenen Kosten für die Treibstoffe begründet, aber unter der Herrschaft der mafiösen Busunternehmer gilt noch mehr als unter „normalen“ kapitalistischen Verhältnissen, dass Kostenerhöhungen durch überproportionale Preiserhöhungen profitabel auf die EndverbraucherInnen abgewälzt werden. Wenn in San Salvador die Preise um drei US-Cent, zum Beispiel von derzeit 20 auf 23 US-Cent für Fahrten in den großen Bussen angehoben werden, erscheint das in der Perspektive europäischer Großstädte nicht der Rede Wert. Im privaten ÖPNV von San Salvador bedeutet das aber für viele Leute zwei- oder gar dreimal drei US-Cents, denn es gibt keinerlei Verbundsystem. Für die Straßenhändlerin, die in einem semiurbanen Teil von Apopa im Norden der AMSS wohnt, aber einen Standplatz am zentralen Busbahnhof in San Marcos im Süden hat, bedeutet es zum Beispiel, drei mal zu bezahlen für die Fahrt zur Arbeit und drei mal zurück, macht 1,20 Dollar bei einem Tagesverdienst von fünf bis zehn Dollar. 

San Salvador ist die Hauptstadt des Landes, in Groß San Salvador lebt ein Drittel der gesamten Bevölkerung, hier ballt sich die wirtschaftliche Macht des Landes, und hier sitzt die Zentralregierung – in Feindesland, denn das Munizip San Salvador wird seit 1997 von der FMLN regiert. Dessen unbeschadet haben weder die Zentralregierung noch die in der AMSS insgesamt mächtigen FMLN-Gemeinderegierungen substantielle Anstrengungen unternommen, den von Blut, Schweiß und Tränen strotzenden ÖPNV radikal neu zu ordnen oder auch nur mal andere Modelle als das auf der Allmacht privater Busunternehmen beruhende kennen zu lernen. Dabei könnte die Geschichte der Eisenbahnprivatisierung in Großbritannien und in der Bundesrepublik Deutschland eines deutlich machen: Egal ob eine öffentliche Dienstleistung schon immer privat war oder privatisiert wird, es scheint einen qualitativen Unterschied zu geben zwischen dem privaten Betreiben eines ÖPNV und eines nationalen Telefonnetzes. In diesem Fall geht es um Telefongespräche usw., in ersterem um den Transport von Menschen. Sowohl das Ansteigen der Eisenbahnunglücke nach der Privatisierung oder Teilprivatisierung der Eisenbahnen in Europa als auch der privatwirtschaftliche Betrieb des ÖPNV in San Salvador kosten Menschenleben. Anders ausgedrückt: den öffentlichen Transport von Menschen sollte man nie dem Gewinnmaximierungsprinzip unterwerfen.

Die Anforderungen an öffentliche Dienstleistungen sind eigentlich klar: Sie müssen sicher sein; insofern sie für die Mehrheit der Bevölkerung unerlässlich sind, muss Rentabilität dem öffentlichen Wohl untergeordnet bleiben; sie müssen allen, die auf sie angewiesen sind, auch zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen; sie müssen frauenfreundlich sein; sie müssen immer auf dem neusten Stand der Technik sein, auch was die Umweltbelastung betrifft; in den öffentlichen Dienstleistungsbetrieben muss es Organisations- und Tarifvertragsfreiheit geben, angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen; die Qualität der Dienstleistungen, der für sie benötigten Ausrüstungen und der Aus- und Fortbildung des hier arbeitenden Personals müssen unabhängig kontrolliert werden. Vor dem Hintergrund solcher Kriterien lassen sich auch Mindestanforderungen für den ÖPNV in San Salvador formulieren: eine technisch hochwertige Flotte von Bussen und/oder alternative Transportsysteme wie U- oder Straßenbahnen oder Busse/Oberleitungsbusse auf eigenen Fahrbahnen wie in Bogotá und Quito; gut aus- und fortgebildete Fahrer und Fahrerinnen, mit Arbeitszeiten und Löhnen, die ihren spezifischen Berufsstress berücksichtigen; ein Tarifsystem, das denen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, das Leben erleichtert und nicht zusätzlich erschwert. Unnötig zu betonen, dass so was privatwirtschaftlich nicht zu regeln ist. Wann also wird in Groß San Salvador und im ganzen Land der öffentliche Nahverkehr der öffentlichen Hand übergeben, wann werden die FMLN- und alle anderen Stadtverwaltungen städtische Verkehrsbetriebe haben?

Zur Zeit ist das kein Thema. Seit drei Jahren hat der ÖPNV in San Salvador ein weiteres Problem. In der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt, die ihnen den Krieg erklärt hat, sind die maras, die Jugendbanden, organisiert in den clickas (lokale Einheiten) der mara salvatrucha und der mara 18, dazu übergegangen, neben kleinen LadenbesitzerInnen auch Busunternehmen zu erpressen, Schutzgelder zu kassieren. Sie nennen es renta, Rente. Entfernt erinnert es an die Kriegssteuern, die die Guerilla während des Krieges eingetrieben hat – freilich von Kaffeebaronen und anderen Reichen. Anfang Mai hat die Vereinigung der salvadorianischen Transportgenossenschaften (FECOTRANS) auf einer Mitgliederversammlung vorgerechnet, dass die Eigentümer von 5000 Bussen und Minibussen in Groß San Salvador jeden Tag 12 000 US-Dollar renta bezahlen müssen. Catalino Miranda, der Präsident von FECOTRANS, machte bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, dass ca. 40 Prozent der Erpressungen auf das Konto von Trittbrettfahrern der maras gehen. „Es gibt keine einheitliche Führung unter den drei Gruppen (Salvatrucha, 18 und „Freischaffende“). Zuerst verlangen die einen renta, dann die anderen, dann steigen die dritten ein, um den Bus auszurauben. Die operieren in völlig ungeordneter Weise“, erläuterte Miranda. Das erschwert den Busunternehmern das Unternehmen. Vor allem aber macht es den Stadtarmen, die auf Busse z.B. der häufig angegriffenen und erpressten Linien 41, nach Soyapango, 38, nach Apopa, und 140, nach San Martín, angewiesen sind, das Leben noch schwerer.