ila

Hat er oder hat er nicht?

„Liberaturpreis“ für die uruguayische Autorin Andrea Blanqué
Gaby Küppers

Als wir vor vielen Jahren in der ila zum ersten Mal über den Liberaturpreis berichteten, kam die korrekte Bezeichnung des Wortspiels aus Literatur und Befreiung leider nicht bis in die Druckfassung. Beim Korrekturlesen hatte jemand allzu eifrig das „b“ durch ein „t“ ersetzt, wodurch ein ganz ordinärer „Literaturpreis“ enstanden war. Dies ist der Liberaturpreis zwar auch, aber das Besondere an ihm ist, dass er der einzige deutsche Literaturpreis ist, der alljährlich für ein ins Deutsche übersetztes Buch einer Autorin aus Afrika, Asien oder Lateinamerika verliehen wird. In diesem Jahr geht der Preis an die Uruguayerin Andrea Blanqué für ihren Roman „Die Passantin“. Gaby Küppers hat das Buch gelesen.

Tagebücher sind, mehr noch als Briefwechsel, die intimsten nichtlyrischen Niederschriften, die in die Literatur Eingang gefunden haben. Sofern es sich nicht um – nicht selten zur Veröffentlichung gedachte – Reisetagebücher handelt, sind sie angelegt als Versuche der Selbstfindung, der Lebensbewältigung, oft assoziiert mit weiblichem Schreiben. Der Text richtet sich allein an die schreibende Person, ein Leser/eine Leserin ist nicht mitgedacht. Was, wenn es doch einen Leser gibt? „Die Passantin“ der uruguayischen Autorin Andrea Blanqué verzweifelt fast an der Frage.

Ehemann David ist nicht mehr da. Eines Tages stieg er in ein Flugzeug, das ihn in ein neues Leben nach Israel bringen würde. Seine Frau bleibt mit den beiden Kindern in Montevideo, weil sie den Ort für sicherer hält, aber auch aus einem anderen Grund, den sie beim Abschied in den einfachen Satz packt: „Ich will nicht mehr deine Frau sein“. Die Liebe ist erloschen, aber da ist nichts Neues, das sie ersetzt. Die Lehrerin ist einsam. Seit sie 37 ist, vertraut sie ihre Gedanken einem unscheinbaren Tagebuch an, das sie immer gut versteckt hält. Bis sie es eines Tages auf dem Grund ihres Rucksacks im Auto eines Schülers vergisst, der sie im Regen aufgelesen hatte. Der Schüler, seit einem Unfall behindert und daher mit 25 noch in der Schule, gibt ihr den Rucksack bei nächster Gelegenheit wieder. Aber die Zweifel nagen: Hat er das Tagebuch gelesen oder hat er nicht? Die Aufzeichnungen aus einem unspektakulären Leben sind nicht für andere Augen bestimmt. Aus Sicht der wenig selbstbewussten Schreiberin handelt es sich nicht einmal um ein Tagebuch, da die Datumsangaben fehlen. Aber sie braucht die niedergeschriebene Reflexion, um zu sich selbst zu kommen. Ungeordnete Gedanken, lediglich durch Kapitelnummern getrennt, Variationen der gleichen Situationen und Erinnerungen, wie wenn man ein Ding dreht und wendet, um an ihm eine weitere Seite zu entdecken.

Hat sie sich nun mit dem vergessenen Tagebuch der Öffentlichkeit und damit der Lächerlichkeit preisgegeben? Hat der Schüler gelesen, wie sie sich mit der Persönlichkeit und Geschichte ihrer starken und beliebten Mutter auseinandersetzt, ebenfalls Lehrerin? Oder mit ihrem Vater, der sich scheiden ließ und später in die USA verschwand? Mit der Mutter ihrer Mutter, eine Deutsche, die sieben Monate nach ihrer Ankunft bei der Geburt eines Mädchens starb und keinen Hinweis auf Herkunft oder Vater hinterließ? Weiß er, was sie über das Lehrerkollegium denkt und über die offenbar anorektische Philosophielehrerin, die sich aufhängt, als ihr Vertrag gekündigt wird? Las er von ihrem Bedürfnis nach einer Beziehung zu einem Mann?

Die Tagebuchschreiberin schreibt bei allem Zweifel weiter – eben den Roman, den wir lesen, und verliebt sich dabei unversehens in den behinderten Schüler. Erschrocken über sich selbst versucht sie, sich mit einem Krankheitsattest monatelang dem Unterricht und damit dem Angesicht des Schülers zu entziehen. Aber während andere dramatische Ereignisse in ihr Leben einbrechen – ihr Mann wird bei einem Anschlag in Israel verletzt, ihre Tochter läuft mit einem Zirkus davon – beginnt sie zu ihrer ungewöhnlichen Liebe zu stehen. Und merkt, dass das Tagebuch eine Krücke war, das sie am Ende nicht mehr braucht.
Andrea Blanqué, 1959 in Montevideo geboren, ist in Uruguay eine bekannte Forscherin und Essayistin zum weiblichen Blick in der Literatur. Aus diesen Erfahrungen schöpft „Die Passantin“. Der Versuch, ein „weibliches Genre“ aufzuheben und fortzuentwickeln, hat gleichzeitig viel uruguayisch-melancholisches Lokalkolorit aus Montevideo. „Die Passantin“ ist der zweite Roman der Autorin, daneben hat sie zahlreiche Arbeiten zu Schriftstellerinnen wie auch Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben.

Andrea Blanqué, Die Passantin. Rotpunktverlag Zürich 2005, 243 Seiten, 22,- Euro