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Szenen einer kollektiven Hetzjagd

Buchbesprechung
Klaus Jetz

Von sich selbst sagt der argentinische Autor Antonio Dal Masetto (geb. 1938 in Norditalien), er sei nicht nur Schriftsteller, sondern auch Dieb, Jäger und Spion, ein escritor-espía. Ob in der Bar oder bei der Zeitungslektüre, immer sei er auf der Jagd nach einer Story, nach einer ungewöhnlichen Nachricht, nach einem Gerücht, kurz nach all den Stoffen und Zutaten, die das Leben liefert, die er sich nimmt und sammelt und bei Gelegenheit wieder hervorholt und variiert, um einen spannenden Roman zu komponieren. Der Zeitschrift Página 12 verriet Dal Masetto, der Stoff für den Roman „Noch eine Nacht“, dessen Original „Siempre es difícil volver a casa“ bereits 1985 erschien, basiere auf einer Zeitungsnotiz, auf die er Ende 50er Jahre in Rio de Janeiro gestoßen sei. Auf dieser Grundlage schrieb er über Jahre hinweg immer wieder Szenen und Dialoge und entwarf Charaktere, und dies auf Papierfetzen oder Servietten, die er in Schuhkartons sammelte. Eines Tages machte er sich daran, all diese Schnipsel zu ordnen und zu einem Roman zusammenzufügen.

Die eigentliche Romanhandlung lässt sich mit knappen Worten zusammenfassen: Vier Männer kommen nach Bosque, ein verschlafenes Nest in der argentinischen Provinz, mit dem Vorsatz, am kommenden Tag die Bank zu überfallen. Das gelingt ihnen auch, doch dann erwacht das Dorf wie aus einem langen Mittagsschlaf, der über die glühende Hitze und das schmerzende Weiß einer unerbittlichen, alles versengenden Sonne hinweghilft. Den Bankräubern ist der Fluchtweg versperrt, die wenigen Ausgänge des Dorfes sind abgeriegelt. Eine kollektive Treibjagd setzt ein, einer nach dem anderen werden die Bankräuber in einer wahren Orgie der Gewalt zur Strecke gebracht. Zuvor hatten sie sich getrennt, um jeder für sich einen Ausweg aus dem dörflichen Labyrinth zu finden.

In der Schilderung dieser vier Schicksals- und Leidenswege, auf denen die Opfer Ramiro, Cucurucho, Jorge und Dante auch zu Beobachtern ihrer Verfolger und Peiniger werden, liegt die ungewöhnliche, den Leser bis zum Schluss fesselnde Spannung des Romans. Abgründe tun sich auf: Bevor der ungezügelte Mob seinen Gewaltphantasien freien Lauf lässt, erhält der Leser Einblicke in die scheinheilige Doppelmoral der vermeintlich intakten dörflichen Gemeinschaft. Eine Nymphomanin missbraucht ihren minderjährigen Neffen, ein Anwalt nutzt die allgemeine Hetzjagd, um seiner stets launischen, greinenden Ehefrau endlich ein Messer in den Bauch zu rammen, in der Hoffnung, die Tat werde auf die Bankräuber zurückfallen, ein verhinderter Großwildjäger entpuppt sich als grausamer Tierquäler, bevor er Ramiro mit seinem nie genutzten Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr, das eigentlich für die Jagd auf Löwen, Tiger, Nashörner bestimmt ist, in wahrsten Sinne des Wortes erlegt. „Tatsächlich hatte er nie auf etwas geschossen, das es wert gewesen wäre. Jetzt, nach all den Jahren spürte er, dass hier, in seinem eigenen Dorf, seine Stunde gekommen war, und er schärfte sich ein, dass er sie sich nicht entgehen lassen durfte, dass er nicht versagen durfte.“

Diese Gewaltbereitschaft scheinbar normaler Leute, die latente, unter der Oberfläche schlummernde Mordlust, die nur eines kleinen Anstoßes von außen braucht, um mit aller Gewalt auszubrechen, ist das eigentliche Thema des Romans. Den Autor interessiert nicht die kriminelle Tat der vier Protagonisten, sondern die unerhörte Reaktion der normalen Bürgerinnen und Bürger in einem typisch argentinischen Dorf. In „Noch eine Nacht“ geben sich die Bewohner von Bosque zunächst fröhlich, gastfreundlich, arbeitsam und führen hinter der Fassade des ruhigen, verschlafenen Provinznestes scheinbar ein geregeltes Leben. Das ändert sich erst, nachdem die vier Protagonisten versuchen, in ihrem Peugeot aus Bosque zu fliehen. Und nach dem Gewaltausbruch, nach der kollektivem Hetzjagd, die von einem nächtlichen Gewitter gekrönt wird, dem großen Regen, der all den Schmutz, das Blut und die Spuren wegwischt, verfallen die Täter, in Mörder verwandelte Bürger wieder in ihren Alltagstrott, als sei nichts geschehen. Página 12 erzählte Dal Masetto, den Stoff zum Roman habe er sich schon vor dem Militärputsch von 1976 im Kopf zurecht gelegt, doch ohne die Exzesse der brutalsten aller argentinischen Militärdiktaturen hätte die Romanhandlung sicherlich anders ausgesehen, zumal es ihm im Roman auch um Themen gehe wie Gleichgültigkeit und Apathie als eine Form der Gewalt, da sie mitschuldig machten.

Es verwundert nicht, dass dieser spannende und in seinem Aufbau perfekte Roman in Argentinien verfilmt wurde. „Noch eine Nacht“ weist viele Elemente eines Drehbuchs auf. Dorfszenen werden aus der Vogelperspektive beschrieben oder spielen sich im Rückspiegel des Fluchtwagens ab, Ereignisse wiederholen sich in verschiedenen Kapiteln und werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben, überzeugend sind auch die Dialoge. Sprachlich kommt der Roman ohne überflüssiges Bei- und Zierwerk daher. Alles in allem macht er Lust auf weitere Romane von Dal Masetto, der erst jetzt mit „Noch eine Nacht“ dank des Schweizer Rotpunktverlages auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eingeführt wurde.

Antonio Dal Masetto, Noch eine Nacht, aus dem Spanischen von Susanna Mende, Zürich 2006 (Rotpunktverlag), 268 Seiten, 22 Euro