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Die Hoffnung gilt immer dem Abenteurer

Peru vor der Stichwahl

Am 9. April 2006 wurde in Peru gewählt. Mehr als 16 Millionen Menschen gaben ihre Stimme ab. Es ging um den neuen Präsidenten und 120 Abgeordnete. Da im ersten Wahlgang niemand mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt, wird es im Juni eine Stichwahl zwischen den beiden Meistgewählten geben. Das sind zur Zeit Ollanta Humala mit seiner nationalistischen Partei Unión por el Perú und Alan García Pérez für die Apristas. Die komplexe Situation macht den endgültigen Wahlausgang schwer voraussagbar.

Ramiro Escobar La Cruz

Vierundzwanzig PräsidentschaftskandidatInnen in einem Land mit 26 Millionen EinwohnerInnen (also ein Kandidat pro eine Million EinwohnerInnen) – nicht gerade ein Ausdruck politischer Reife. Auch für ein Land mit 200 Millionen EinwohnerInnen wäre es das nicht, aber in Peru ist dies nicht die einzige Auffälligkeit. Die Menge der KandidatInnen hängt mit der Krise der traditionellen Parteien zusammen, als da wären: die Partido Aprista Peruano (sozialdemokratisch), die Unidad Nacional (konservativ) und die Acción Popular (populistische Mitte-Rechts-Partei). Alle anderen Parteien sind neu und ohne eine bestimmte Doktrin. Seit 1985 hat keine der traditionellen Parteien mehr gewonnen. Das Politbarometer zeigt einen sozialen, regionalen und kulturellen Zerfall, der immer größer wird und dessen Bruchstücke wiederum selbst zur Auflösung neigen. Peru ist kein Balkanstaat, aber ein Land, das von einer klaren Linie weit entfernt ist,.

Eine kurze Analyse der Wahlergebnisse bestätigt das. Bisher (20.4., 17:49 Uhr) hat Ollanta Humala 30,8 Prozent, Alan García 24,3 Prozent und Lourdes Flores 23,6 Prozent der Stimmen. Der Unterschied zwischen den Zweit- und Drittpatziertenn ist minimal. Ollanta Humala ist ein Ex-Offizier der peruanischen Armee, der ursprünglich für die Partido Nacionalista Peruano (PNP) antrat, dann aber zur Unión por el Péru wechselte. Das hätte in einem Land mit einem stabilen Parteiensystem sicherlich für Aufregung gesorgt, gilt aber in Peru als normal. Da die historischen Parteien zerfallen, sind Abenteurer – mehr oder weniger gebildet, mehr oder weniger organisiert – nicht schlecht angesehen und werden alsbald zum Hoffnungsträger der ärmsten Bevölkerungsschichten. Humala gewann den ersten Wahlgang also mit knapp einem Drittel der Stimmen und erhielt z.B. in Ayacucho 66 Prozent. Ayacucho liegt auf der Hochebene, ist ökonomisch verarmt und war eine der Regionen, die am meisten unter der politischen Gewalt 1980 bis 2000 zu leiden hatte, als der bewaffnete Kampf zwischen Sendero Luminoso und der Armee allein fast 70 000 Tote forderte. In den Regionen Cusco und Puno, ebenfalls in den Anden, aber im Süden, erreichte er ebenfalls mehr als 50 Prozent der Stimmen. Die zahlreichen Anschuldigungen gegen ihn, darunter wegen Menschenrechtsverletzungen (er soll während seiner Militärzeit im Alto Huallaga für die Entführung und das Verschwindenlassen von Menschen verantwortlich gewesen sein) und seine Nähe zu Vladimiro Montesinos – der grauen Eminenz des Fujimori-Regimes (1990-2000) – haben ihm allerdings nicht besonders geschadet.

Kurz hinter Humala stand bis ungefähr einen Monat vor den Wahlen Lourdes Flores Nano, eine konservative Anwältin, die der rechtsgerichteten Unidad Nacional (UN) vorsteht. Monatelang führte sie in den Umfragen, aber kurz vor der Wahl brachen ihre Werte ein. Flores verfügt über eine organisierte Partei und hat ein einwandfreies Curriculum vorzuweisen – weder Korruptionsfälle noch Menschenrechtsverletzungen. Allerdings trat ihre Nähe zur wirtschaftlichen Elite bei mehreren Gelegenheiten klar zutage, vor allem als sie sich für Arturo Woodman als ihren Vizepräsidenten aussprach. Woodman war Direktionsmitglied der Romerogruppe, des mächtigsten peruanischen Wirtschaftskomplexes, dem u.a. eine Bank und mehrere Unternehmen gehören. Verschiedene Parteimitglieder sprachen sich vor den Wahlen öffentlich gegen die Wahrheitskommission und für die Todesstrafe aus. Aber das war nicht der Grund für den Stimmenverlust der Konservativen. Trotz ihrer Anstrengungen gelang es der Kandidatin nicht, bei der ärmeren Bevölkerungsmehrheit einen nachdrücklichen Eindruck zu hinterlassen.

Auf dem dritten Platz lag Expräsident Alan García Pérez (1985-90), dessen katastrophale Amtszeit jegliche Wiederwahl unmöglich erscheinen ließ. Aber García ist politisch geschickt und seine Partei die älteste und am besten organisierte Perus. Wider Erwarten sieht es so aus, als würde er jetzt zur Stichwahl mit Humala antreten. Wie kam es zu diesem Ergebnis, und was bedeutet das für die Stichwahl? Außer der Krise der Parteien, die in Peru noch stärker zu sein scheint als im Rest Lateinamerikas, zeigt sich schon seit mehreren Wahlen, dass ein großer Teil der Wählerschaft große Sympathien für den jeweiligen politischen Außenseiter hat. Der Außenseiter lebt vom Untergang der Parteien, aber um zu gewinnen, muss er bestimmte Qualitäten aufweisen (denn es sind schon viele politische Außenseiter angetreten und nicht alle haben gewonnen). Er muss auf die traditionelle Politik schimpfen, schnelle Lösungen anbieten, „direkte Demokratie“ versprechen und ein „hartes Durchgreifen“. Fujimori war ein klassischer Außenseiter, der diesen Stil als Präsident praktisch umsetzte und ihn bis ins Extrem skandalöser Korruptionspraktiken und autoritärer Führung trieb. 

Alejandro Toledo, der aktuelle Präsident, war in gewisser Hinsicht auch ein Außenseiter (seine Partei war eine um seine Person aufgebaute Erfindung), obwohl er die demokratischen Institutionen respektierte. Jetzt scheint Ollanta Humala der neue Caudillo zu werden. Denn die Faszination, die Humala auf große Teile der WählerInnen ausübt, hängt mit dem Bild des harten Mannes, des Ex-Militärs zusammen, der „den Korrupten ein Ende bereiten wird“. Das ist durchaus wörtlich gemeint. Bis vor einigen Monaten erschien die Zeitschrift Ollanta, die sein Bruder Antauro herausgab, wo ohne Scheu von Massenprozessen und Hinrichtungen geschrieben wurde. Während des Wahlkampfs distanzierte sich Ollanta Humala zunehmend von diesen Äußerungen und seinen Brüdern (ein anderer Bruder, Ulises, kandidiert ebenfalls für die Präsidentschaft) sowie seinen Eltern (seine Mutter hat z.B. gesagt, dass Homosexuelle erschossen werden müssten). Aber für viele seiner WählerInen bleibt er der harte, unbestechliche, konsequente Militär. Dieser Nimbus ist ihm geblieben, obwohl es Anzeichen gibt, dass er mit Montesinos in Verbindung steht. Allerdings muss man berücksichtigen, dass ihn nur rund ein Drittel gewählt hat. Wenn er auch viele AnhängerInnen unter den Armen hat, gibt es viele Menschen, die ihn nicht gewählt haben, vor allem an der Küste und im Norden des Landes. Dort haben die Apristen den größten Teil der Stimmen bekommen, während Flores vor allem in Lima gewählt wurde. Die Stimmen verteilen sich also folgendermaßen: In und um Lima wurde die UN gewählt, in den Anden und bei den verarmten StädterInnen erhielt Humala begeisterten Zuspruch, und für García stimmten die mittlere und untere Mittelklasse, vor allem im Norden des Landes, wo seine Partei traditionell stark ist.

Das ist ein besorgniserregendes Bild, denn es zeigt ein Land, das tiefe regionale, soziale, kulturelle und sogar ethnische Gräben aufweist. In der oberen Klasse in Lima erhielt Humala z.B. weniger als ein Prozent, während er in den armen Regionen in den Anden weit über 50 Prozent erhielt. Die Polarisierung ist und bleibt das Kennzeichen dieser Wahlen. Dennoch zwingt diese Stimmverteilung die Parteien dazu, zu verhandeln, denn keine Partei hat die Mehrheit im Parlament. Obwohl Peru keine parlamentarische Demokratie ist, sondern ein Präsidialsystem hat, kann der Präsident nicht gegen das Parlament regieren, denn der Kongress könnte z.B. seine Gesetzesvorlagen blockieren. So stehen die Dinge vor dem zweiten und entscheidenden Wahlgang. UN und Apristen haben angefangen, miteinander zu kokettieren, während Humala gesagt hat, „er suche nur die Allianz mit seinem Volk“. Dieser Nervenkrieg wird hoffentlich nicht die notwenigen politischen Debatten vergessen lassen. Schließlich hat keiner der Gewählten die ganze Macht. 

Die Urnen haben wieder einmal gezeigt, dass die extrem ungerechte Verteilung des Wohlstands in Peru das Hauptproblem ist. Keine Gesellschaft kann mit solchen sozialen Abgründen existieren. 51 Prozent der Bevölkerung gelten als arm und 19 Prozent als bedürftig. Trotz makroökonomischer Erfolge bleibt der soziale Riss. Alle fünf Jahre wählt die benachteiligte Mehrheit, damit sich das ändert, aber bisher haben alle PolitikerInnen, neue wie alte, die Botschaft nicht verstanden.

Ramiro Escobar La Cruz ist Journalist und spezialisiert auf internationale Politik.

Übersetzung: Laura Held