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Massenmord für liberale Wirtschaftspolitik

Vor 30 Jahren errichtete das Militär in Argentinien eine brutale Diktatur

Am 24. März 1976 putschten die argentinischen Streitkräfte gegen die Regierung der Präsidentin Isabel Perón. Schon nach wenigen Tagen war klar, dass dies nicht einfach eine Machtübernahme der Militärs war, wie sie Argentinien in seiner Geschichte schon mehrfach erlebt hatte. Mehrere aufeinanderfolgende Militärjuntas sollten in den folgenden sieben Jahren eines der größten Massaker in der lateinamerikanischen Geschichte anrichten, das Land hemmungslos verschulden und es wirtschaftlich an die Wand fahren. Die Militärs hatten zwei grundlegende Projekte, die sie mit aller Gewalt durchsetzten: Die physische Vernichtung der linken Opposition und die Durchsetzung eines ultraliberalen Wirtschaftsmodells im Interesse des Finanzkapitals und der internationalen Unternehmen.

Gert Eisenbürger

In den frühen siebziger Jahren hatte Argentinien ein enormes Anwachsen der sozialen Kämpfe erlebt. Die seit 1966 amtierende Militärregierung sah sich mit wachsender Opposition aus den verschiedensten sozialen Lagern konfrontiert. Die Gewerkschaften forderten Militärs und Unternehmer ein ums andere mal durch Streiks heraus, die StudentInnen kämpften für universitäre Reformen, Demokratie und eine soziale Modernisierung. Ihre radikalen Flügel organisierten sich in revolutionären Organisationen, die den bewaffneten Kampf gegen die alten Machteliten proklamierten und eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft anstrebten. Auch Teile der Mittelschichten hatten den Eindruck, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung an Argentinien vorbei ging und verlangten größeren politischen Einfluss. Die Machthaber aus Militär und Oligarchie wussten sich nicht anders zu helfen, als auf den zu setzen, den sie knapp zwei Jahrzehnte zuvor vertrieben hatten: Juan Domingo Perón. Der ehemalige Oberst hatte von 1943 bis zu seinem Sturz im Jahr 1955 gestützt auf die städtischen Eliten und die ArbeiterInnen ein nationales Industrialisierungsmodell und einen autoritären Sozialstaat durchgesetzt. Aus den Wahlen am 11. März 1973 ging der Linksperonist Héctor Cámpora als Sieger hervor. Cámpora verstand sich aber nur als Platzhalter für Perón, der am 20. Juni aus seinem Exil im Spanien Francos zurückkehrte. Im September 1973 wurde Perón dann mit 62 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.

Doch der Peronismus war längst keine homogene politische Bewegung mehr. Im Zuge des politischen Aufbruchs Anfang der siebziger Jahre hatte er sich in zwei, sich erbittert bekämpfende Flügel aufgespalten. Auf der einen Seite stand die peronistische Linke, vor allem die Juventud Peronista, die die Macht der Oligarchie und den Einfluss der USA brechen wollte und für ein sozialistisches Argentinien kämpfte. Während dieser Sektor auf die sozialen Tendenzen des Peronismus rekurrierte, vertrat die peronistische Rechte, die vor allem aus den Repräsentanten des Partei- und Gewerkschaftsapparates bestand, die autoritär-faschistoide Tradition der Bewegung. Perón stellte sich nach seiner Rückkehr eindeutig auf die Seite der Rechten. Im Mai 1974 kam es zum endgültigen Bruch, die linksperonistischen Gruppen gingen in den Untergrund. 

Nach dem Tod Peróns am 4. Juli 1974 eskalierte die Situation. Leute aus dem Umfeld Isabel Peróns, die ihrem verstorbenen Mann ins Präsidentenamt nachgefolgt war, organisierten zusammen mit Angehörigen der Sicherheitskräfte die Alianza Anticomunista Argentina (AAA - in Argentinien meist Triple A genannt), eine Todesschwadron, die Jagd auf linke und linksperonistische AktivistInnen machte. Die bewaffneten Organisationen der Linken verübten ihrerseits Attentate auf rechtsperonistische Funktionäre und entführten Manager von multinationalen Unternehmen, für deren Freilassung sie hohe Lösegelder, die Veröffentlichung ihrer politischen Manifeste in den Medien oder Lebensmittelspenden für Armenviertel verlangten. Die wichtigsten dieser Guerillagruppen waren die linksperonistischen Montoneros und die sozialistische Revolutionäre Arbeiterpartei (PRT). Die bewaffneten Auseinandersetzungen kosteten in den Jahren 1974/75 2500 Menschen das Leben, allein 2000 Morde gingen auf das Konto der Triple A.
Am 24. März 1976 putschten die Militärs, „um das Vaterland zu retten“. Angesichts der vorangegangenen politischen Instabilität wurde der Staatsstreich von Teilen der Mittelschichten durchaus begrüßt, weil man sich von den Streitkräften die Wiederherstellung der Ruhe im Land versprach. Selbst Fraktionen der Linken, namentlich die Kommunistische Partei (PCA), die sich seit den vierziger Jahren vor allem über die Ablehnung des Peronismus, auch seiner linken Varianten, definierte, verurteilte den Putsch nicht und sah dahinter sogar die „fortschrittlichen Teile“ des Militärs stehen.

Doch die Generäle machten schnell klar, was sie unter „Ruhe im Land“ verstanden. Während die bürgerlichen Parteien, die liberale UCR und die peronistische PJ sowie die PCA nur „suspendiert“ wurden, begannen die neuen Machthaber einen Vernichtungskrieg gegen die linke Opposition. Ihr wichtigstes Instrument dazu wurde das systematische „Verschwindenlassen“ von Personen, d. h. Menschen wurden auf der Straße oder aus ihren Häusern entführt. Wenn Autos der Marke Ford Falcon ohne Nummernschilder auftauchten und Zivilisten mit getönten Sonnenbrillen heraussprangen, bestand höchste Gefahr. Die Menschen, die auf der Straße verschleppt wurden, versuchten noch verzweifelt PassantInnen ihren Namen zuzurufen, in der Hoffnung, dass Angehörige dadurch von ihrer Entführung erfuhren und bei den Sicherheitskräften nachfragten. Die Verschleppten wurden in geheime Gefängnisse gebracht, dort oft wochenlang brutal gefoltert, um Informationen aus ihnen herauszupressen und danach fast alle ermordet. Sie tauchten nie mehr auf, ihre Leichen wurden entweder in Massengräbern verscharrt oder aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Wenn unter den Verschleppten schwangere Frauen waren, ließ man sie noch ihre Kinder gebären und tötete sie erst danach. Die Babys wurden Familien von Militärs, unter denen Unfruchtbarkeit offensichtlich besonders häufig war, zur Adoption übergeben.

Die Repression richtete sich nicht nur gegen die Mitglieder der Organisationen der revolutionären Linken, sondern auch gegen GewerkschafterInnen, Leute, die Verfolgten Unterschlupf gewährten, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und alle, die den Militärs verdächtig waren, die „Subversion“ zu unterstützen. Verdächtig war man oft allein schon dadurch, dass man jung war oder als Mann einen Bart trug. Insgesamt sind in den sieben Jahren der Militärdiktatur (1976-83) 30 000 Menschen „verschwunden“. Wirtschaftsminister der ersten Militärjunta wurde José Alfredo Martínez de Hoz. Am 2. April 1976, neun Tage nach dem Putsch, verkündete er sein Wirtschaftsprogramm, das genau das formulierte, was später unter dem Namen „Neoliberalismus“ weltweit zur Wirtschaftsdoktrin wurde. Kernpunkte seines Programms waren die Privatisierung öffentlicher Unternehmen sowie die besondere Förderung und Begünstigung ausländischer Investitionen. Zollschranken wurden rigoros abgebaut, so dass die multinationalen Konzerne ihre Produkte ungehindert in Argentinien absetzen konnten. Begründet wurde diese Politik mit dem Modernisierungsbedarf der argentinischen Industrie. Die Betriebe des Landes sollten durch verstärkte ausländische Konkurrenz zur Modernisierung gezwungen werden; faktisch ging es darum, die argentinische Industrie im Interesse des internationalen Kapitals zu zerschlagen. Dass damit Massenarbeitslosigkeit, eine massive Absenkung des Lohnniveaus und die Verarmung breiter Bevölkerungskreise einhergingen, war gewünscht, und für die, die dagegen Widerstand leisteten, gab es die Ford Falcons und die geheimen Gefängnisse. Wenn von konservativen und neoliberalen Ökonomen bis heute behauptet wird, der Neoliberalismus „habe sich durchgesetzt“, weil das bis dahin in Lateinamerika praktizierte Modell der importsubstituierenden Industrialisierung gescheitert sei, dann ist das eine schönfärberische Lüge. Eine Krise des Importsubstitutionsmodells gab es zwar, aber der Neoliberalismus wurde in Ländern wie Argentinien oder Chile mit brachialer Gewalt durchgesetzt und seine Etablierung wäre ohne die Folterkammern nicht möglich gewesen.

Die internationalen Finanzinstitutionen und Banken waren entzückt über die Politik des Herrn Martínez de Hoz und offerierten den Militärs Kredite in nahezu unbegrenzter Höhe. Die nahmen diese natürlich dankend an, inves-tierten einen Teil in fragwürdigen Infrastruktur- (z.B. dem deutsch-argentinischen Atomgeschäft), den größeren Teil aber in skandalösen Finanzgeschäften. Wie das ablief schilderte Eric Toussaint vom „Internationalen Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt“ in der ila 249 (Oktober 2001): „Staatsbetriebe wurden gezwungen, ausländische Kredite aufzunehmen. Nominell wuchsen damit die Devisenreserven des Landes, ohne dass diese tatsächlich investiert oder von der Zentralbank kontrolliert worden wären. Stattdessen wurden diese Mittel umgehend bei denselben ausländischen Banken angelegt – freilich so, dass die Habenzinsen niedriger ausfielen als die Sollzinsen. Zweck der Übung war die Bereicherung der Militärs durch Provisionen und – ganz nach Wunsch des IWF (Internationaler Währundsfonds - G.E.) – die Verbesserung der internationalen Glaubwürdigkeit der Diktatur.“ Später wurden diese Staatsbetriebe u.a. mit dem Argument, sie seien hoch verschuldet, unter Wert an private Investoren aus dem Norden verkauft. Der IWF war übrigens direkt in diese Politik involviert. Während der Militärdiktatur saß Dante Simone, ein Mitarbeiter des IWF, bei der argentinischen Zentralbank und segnete derartige Transaktionen ab.

Die Regierungen der meisten westlichen Staaten und der Sowjetunion unterhielten beste Beziehungen zur brutalsten Diktatur in der Geschichte Südamerikas. Dabei tat sich besonders die damals von SPD und FDP gestellte deutsche Bundesregierung hervor. Während die US-Regierung unter Präsident Carter 1977 ein Waffenembargo gegen die Junta verhängte, genehmigte man in Bonn mehrere große Rüstungsgeschäfte, durch die bundesdeutsche Unternehmen zu den wichtigsten Waffenlieferanten der Diktatur wurden. Martínez de Hoz wurde bei seinem Besuch in der BRD als guter Freund empfangen und in Sachen Menschenrechte setzte der damalige Bundesaußenminister Genscher auf „stille Diplomatie“. Die war so unglaublich still, dass kein Wort der Kritik zu hören war. Selbst als BundesbürgerInnen wie der Münchener Student Klaus Zieschank oder die Tübinger Soziologin Elisabeth Käsemann „verschwanden“, gab es keine deutlichen Worte der Bundesregierung. Elisabeth Käsemann wurde am 9. März 1977 verschleppt, wenige Tage später entführten die Militärs auch ihre britische Freundin Diana Houston in Buenos Aires. Während die britische Regierung sofort energisch intervenierte, setzte das Auswärtige Amt auch hier auf „stille Diplomatie“. Diana Houston überlebte, Elisabeth Käsemann wurde am 23. Mai 1977, zehn Wochen nach ihrer Verschleppung, ermordet.

Als am 2. April 1981 argentinische Truppen auf den Malvinen-Inseln im Südatlantik, die Großbritannien als Kolonie beansprucht, landeten, schrieb der damals im bundesdeutschen Exil lebende argentinische Publizist Osvaldo Bayer im ila-info 55 (Mai 1982): „Den Beitrag größter Ironie in dieser Tragikkomödie liefern ausgerechnet die beiden Länder, welche die Diktatur der Generäle wirtschaftlich und politisch am meisten unterstützt und ihr die meisten Waffen verkauft haben. Es sind England und die Bundesrepublik, die erst jetzt entdeckt haben, daß es in Argentinien eine Diktatur gibt, die die Menschenrechte und ebenso das internationale Recht verletzen. Die Panzerfahrzeuge, die auf den Malvinen ausgeschifft wurden, sind Produkte bundesrepublikanischer Technologie und die Schiffe und Unterseeboote, welche der „Flotte ihrer Majestät“ gegenüber stehen, wurden in Westdeutschland oder in England gebaut. Als der (ehemalige) Wirtschaftsminister der Diktatur, Martínez de Hoz, seinerzeit London und Bonn besuchte, durchbrach man alle protokollarischen Vorschriften, und so wurde er nicht nur von seinem gleichrangigen Amtskollegen sondern auch vom Premierminister, in Bonn sogar von Präsident Carstens empfangen.“

Die Niederlage im Malvinenkrieg gegen Großbritannien leitete das Ende des argentinischen Militärregimes ein. Bereits die Besetzung der Inseln war ein Zeichen der Schwäche. 1980/81 erlebte Argentinien die bis dahin größte Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die Menschen begannen die Angst vor dem Terrorapparat zu verlieren, immer häufiger gab es Demonstrationen und Streiks. Menschenrechtsorganisationen, allen voran die Mütter und die Großmütter von der Plaza de Mayo forderten Aufklärung über das Schicksal der „Verschwundenen“. Die Militärs standen unter Druck und wollten durch eine populäre Aktion punkten. Die Mehrheit der ArgentinierInnen ist – zu Recht – der Meinung, dass die Briten im Südatlantik nichts verloren haben und ihr Anspruch auf die Inseln ein Relikt des Kolonialismus ist. Allerdings hatten die argentinischen Generäle als treue Vasallen Washingtons erwartet, dass die US-Regierung ihr Abenteuer decken und die Briten von einer militärischen Antwort abhalten würde. Doch die Reagan-Regierung dachte gar nicht daran, sondern gab der damaligen britischen Premierministerin Thatcher grünes Licht für eine Invasion. „Wenn Filialleiter selbstständig werden wollen, wird der Chef grob,“ titelten wir dazu im ila-info 56. Die britische Regierung sandte ihre Kriegsflotte in den Südatlantik, es kam zum Krieg, Am 14. Juni 1982 kapitulierten die argentinischen Streitkräfte. Vier Tage später trat General Galtieri als Staatschef zurück. Sein Nachfolger General Bignone begann mit den bürgerlichen Parteien die Rückkehr zu einer zivilen Regierungsform auszuhandeln. 

Am 30. Oktober 1983 gab es Wahlen, aus denen der Kandidat der liberalen Radikalen Bürgerunion (UCR), Raúl Alfonsín, als Sieger hervorging. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Einrichtung einer „Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen“ (CONADEP). Diese veröffentlichte im November 1984 den Bericht Nunca Mas (Nie wieder), der das Schicksal von 8960 „Verschwundenen“ und die Funktionsweise des Terrorapparats der Diktatur dokumentiert. Im April 1985 begannen die ersten Prozesse gegen die höchsten Repräsentanten der Diktatur, die im Dezember mit lebenslangen Haftstrafen für die Angeklagten endeten. Erstmals in Südamerika hatten sich hohe Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen vor zivilen Gerichten zu verantworten und wurden verurteilt. Doch die Zufriedenheit der Menschenrechtsorganisationen und die Erwartung weiterer Verfahren gegen die Schergen der Diktatur währte nicht lange. 

Am 24. Dezember 1986 verkündete die Regierung Alfonsín das so genannte „Schlusspunktgesetz“, die den 24. Februar 1987 als letzten Tag festlegte, an dem Verfahren wegen Beteiligung an Verbrechen der Militärdiktatur eingeleitet werden konnten. Wenige Monate später, am 5. Juni 1987, folgte das Befehlsnotstandsgesetz, dass alle niedrigrangigen Militärs, gegen die Verfahren liefen, vor weiterer Strafverfolgung schützte, weil sie bei ihren Straftaten auf Befehl gehandelt hätten. Zwischen 1987 und 1990 gab es mehrere Militärrebellionen, deren Ziel eine vollständige Amnestie für die von den Streitkräften begangenen Verbrechen war. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem begnadigte schließlich 1989/90 die verurteilten Militärs und brachte eine Reihe von Gesetzen durch, die die Straflosigkeit für die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur festschrieben.

Nachdem die zivilen Regierungen deutlich gemacht hatten, dass für sie das Kapitel juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur abgeschlossen war und die Verantwortlichen für das Schicksal der 30000 „Verschwundenen“ wieder auf freiem Fuß waren, begann der zähe Kampf der Menschenrechtsorganisationen gegen die Straflosigkeit. Die argentinischen Gruppen und ihre AnwältInnen suchten nach Lücken in den Amnestiegesetzen, die verhinderten, dass die Verbrechen für immer ungesühnt und zu den Akten gelegt werden konnten. Ein Ansatzpunkt war das Schicksal der Babys von „verschwundenen“ und ermordeten Frauen: Die Amnestiegesetze galten nicht für den Straftatbestand der Kindesentführung. Der lag aber in all den Fällen vor, in denen die Kinder an Adoptiveltern aus dem Militär vermittelt wurden. Aufgrund dieses Vorwurfs sind inzwischen zahlreiche hohe Militärs wieder in Haft bzw. stehen unter Hausarrest. Unabhängig von der Justiz versuchen die Organisationen von Kindern von „Verschwundenen“, wie die H.I.J.O.S. die Täter heute sozial zu isolieren. Durch Flugblattaktionen, Straßentheateraufführungen und Kennzeichnung der entsprechenden Häuser machen sie die BewohnerInnen eines Viertels darauf aufmerksam, dass in ihrer Nachbarschaft ein Mörder/Folterer unbehelligt lebt.

In den Jahren der Militärdiktatur gab es eine weltweite Solidaritätsbewegung mit den Verfolgten in Argentinien. Diese Bewegung hat versucht, die Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Ländern über die Zustände in Argentinien zu informieren und darauf hinzuwirken, dass ihre Regierungen Druck auf das Militärregime ausüben und Flüchtlinge aufnehmen. Gleichzeitig wurden Menschenrechtsorganisationen in Argentinien unterstützt, ihre Berichte in Europa und den USA übersetzt und veröffentlicht. Die größte Solikampagne in der Bundesrepublik war sicherlich die von der ila koordinierte Kampagne „Fußball ja – Folter nein“ im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien. Eine breite Resonanz hatte auch die Kampagne gegen das deutsch-argentinische Atomgeschäft, die nicht nur von der Solibewegung, sondern auch von der damals sehr starken Anti-AKW-Bewegung getragen wurde.

Seit Ende der achtziger Jahre unterstützen Gruppen in Europa und den USA den Kampf der argentinischen Menschenrechtsorganisationen gegen die Straflosigkeit. Da es zeitweilig nicht mehr möglich schien, die Täter in Argentinien zur Verantwortung zu ziehen, wurde versucht, Strafverfahren in Europa einzuleiten. Ausgangspunkt dieser Initiativen war die Tatsache, dass im klassischen Einwanderungsland Argentinien unter den „Verschwundenen“ auch zahlreiche Menschen waren, die europäische Vorfahren und deshalb doppelte Staatsbürgerschaften hatten. Die Verantwortlichen für Verbrechen gegen BürgerInnen Spaniens, Italiens, Frankreichs oder Deutschlands können auch in diesen Staaten angeklagt werden, unabhängig davon, ob es für ihre Taten in Argentinien ein Amnestiegesetz gibt. In den genannten Ländern gab es mehrere Ermittlungsverfahren, die zu internationalen Haftbefehlen führten, in Frankreich und Spanien gab es auch Prozesse, in denen Täter verurteilt wurden. In Deutschland hat sich 1998 die „Koalition gegen Straflosigkeit“ gegründet, die das Schicksal deutschstämmiger „Verschwundener“ dokumentiert und die Taten bei den deutschen Behörden zur Anzeige bringt.

Ausgehend von einem Unbehagen, dass meist nur über die Straftäter in Uniform, selten aber über die hinter ihnen stehenden Wirtschaftskreise gesprochen wird, begannen die Journalistin Gaby Weber und der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen und Anwältevereins (RAV), Wolfgang Kaleck, Ende der neunziger die Rolle von Mercedes-Benz Argentina während der Diktatur unter die Lupe zu nehmen. Aus dem Mercedes-Werk in Gonzales Catán/ Provinz Buenos Aires waren 1977 mindestens 13 Kollegen „verschwunden“ und es gab Hinweise darauf, dass ihre Namen von der Werksleitung an die Repressionsorgane weitergegeben worden waren. Gaby Weber dokumentierte ihre diesbezüglichen Recherchen in zwei Büchern, einem Dokumentarfilm und zahlreichen Rundfunk- und Pressebeiträgen. Auf dieser Basis erstattete Wolfgang Kaleck im Namen des RAV Anzeige gegen die Verantwortlichen von Mercedes-Benz in Stuttgart bzw. Argentinien. Die Verfahren in Deutschland wurden zwar inzwischen aus Mangel an Beweisen eingestellt, in den USA ist aber weiter ein Zivilverfahren gegen Daimler-Chrysler anhängig, ebenso ein ähnliches Verfahren gegen Ford. Auf mehreren Aktionärsversammlungen von Daimler-Chrysler mussten die Vorstandsmitglieder des Konzerns Fragen nach der Rolle des Unternehmens während der Diktatur in Argentinien beantworten.

Auf einer anderen Ebene setzt sich das „Internationale Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt“ (CADTM) mit den wirtschaftlichen Hintermännern der Diktatur auseinander. Das vor allem im französischen und spanischen Sprachraum aktive Schuldennetzwerk vertritt überzeugend die Position, dass es sich bei den von der Militärdiktatur aufgenommenen Schulden um illegitime Schulden handelt. Wenn der Internationale Währungsfonds und die internationalen Banken einer demokratisch nicht legitimierten Regierung unter derart fragwürdigen Bedingungen wie oben geschildert, Kredite gibt, dann dürften dafür spätere gewählte Regierungen nicht haftbar gemacht werden. Das CADTM fordert deshalb die Annullierung aller während der Diktatur gegebenen Kredite. 

Dreißig Jahre nach dem Militärputsch ist die Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen und Nutznießern der argentinischen Militärdiktatur noch lange nicht abgeschlossen, in manchen Bereichen hat sie gerade erst begonnen. Die Vorstellung der Täter, dass man eine ganze Generation politischer AktivistInnen ermorden und später so tun kann, als sei nichts geschehen, hat sich nicht erfüllt. Wo die erste Generation der Angehörigen der „Verschwundenen“ langsam alt und vielleicht müde wird, sind längst die Kinder der Opfer mit neuen radikalen Aktionsformen auf den Plan getreten. Die „Verschwundenen“ werden noch lange keine Ruhe geben!