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Massaker als Lokalkolorit

Kathy Reichs’ Roman „Knochenlese“
Anika Oettler

Als Tempe Brennan in den Brunnenschacht hinabsteigt, ahnt die forensische Anthropologin, dass sie am Grund ein grausiger Fund erwartet. Hier wurden vor Jahrzehnten die Leichen von über zwanzig Bewohnern eines kleinen Dorfes in Guatemala verscharrt, Frauen und Kinder, die ein Militärkommando hingerichtet hat.“ So beginnt der Klappentext des neuen Bestsellers der „Top-Thrillerautorin“ (Brigitte). Nun, besonders spannend ist das nicht, was da zwischen den Buchdeckeln steht. Eine reichlich konstruierte Kriminalgeschichte, die eigentlich nur am Rande etwas mit der guatemaltekischen Terrorvergangenheit zu tun hat. Diese ist vielmehr der schaurige Aufhänger für eine Geschichte, die fast durchgängig im Milieu der diplomatischen Elite und zum Teil in der kanadischen Heimat der Autorin und der Protagonistin spielt. 

„In Guatemala war ich eine Außenseiterin mit nur höchst oberflächlicher Kenntnis der Landesseele. Ich wusste wenig von den Menschen, hatte keine Ahnung, welche Autos, welche Jobs, welche Wohnviertel und welche Zahnpasta sie bevorzugten. Ihre Vorlieben und ihre Abneigungen waren mir fremd, ich wusste nicht, worauf sie vertrauten und was sie begehrten. Und ich kannte ihre Gründe für Mord nicht.“ Wohl wahr. Ein wenig in der Hauptstadt ist sie anscheinend herumgekommen, die Autorin, die als forensische Anthropologin u.a. für UNO, US-Verteidigungsministerium und FBI arbeitet. Aber mehrere Episoden zeugen tatsächlich von der Oberflächlichkeit der Stadt- und Landeskenntnis. Etwa, wenn die Protagonistin sich nachts um elf seelenruhig mit der Botschaftergattin in einem Park trifft. Eine Kleinigkeit zwar, doch hanebüchen wird das Ganze, wenn die Normen kanadischer Polizeiarbeit auch als Standard der polizeilichen Ermittlungstätigkeit in Guatemala angenommen werden. 

Eigentlich geht es in dem Krimi um eine Mordserie an jungen Frauen in der guatemaltekischen Hauptstadt; eines der Opfer scheint die Tochter des kanadischen Botschafters zu sein. Von den vier (angenommenen) Morden sind nun die ProtagonistInnen des Romans so entsetzt, dass sie alles daran setzen, die Geschichte aufzuklären. Angesichts der Tatsache, dass allein im vergangenen Jahr 527 Frauenmorde von der guatemaltekischen Polizei registriert wurden, mutet die Aufregung der Hauptpersonen des Romans etwas seltsam an (dies konnte die Autorin natürlich 2002 noch nicht wissen, aber der sprunghafte Anstieg von Gewalt und Homizidraten wurde damals sehr wohl diskutiert). Über den weiteren Verlauf der Handlung ist nicht viel zu berichten. Es gibt solche Stellen wie „Einen Herzschlag lang rührte sich keiner von uns. Meine Wange fühlte sich heiß an seiner Brust an.“ Oder ethnologisch interessante Absätze wie „Als Nächstes badete ich, massierte mir Conditioner in die Haare, rasierte Achselhöhlen und Beine, zupfte mir die Augenbrauen und cremte meinen ganzen Körper ein. Haarlos und glatt kletterte ich ins Bett.“

Was hat das nun mit dem eingangs erwähnten Massengrab zu tun? Tempe Brennan/ Kathy Reichs ist als forensische Anthropologin nach Guatemala gereist, um die Fundación de Antropología Forense de Guatemala FAFG bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Und so erfahren wir (S. 96-99) die basics über die lateinamerikanische Praxis des Verschwindenlassens und über die Bemühungen um die professionelle Exhumierung der in geheimen Friedhöfen Verscharrten. Wir erfahren auch, dass die Amerikanische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaften AAAS die Gründung von Organisationen für forensische Anthropologie in ehemaligen Krisengebieten unterstützt und auch im guatemaltekischen Prozess der Aufarbeitung von Vergangenheit eine Rolle spielt. Zu Beginn des Buches wird von den Strategien des Terrors Anfang der 1980er Jahre berichtet, als das guatemaltekische Militär unter Zuhilfenahme der „Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen“ unzählige Massaker verübte. Exemplarisch für die „Politik der verbrannten Erde“ stehen die Gräueltaten in dem fiktiven Dorf Chupan Ya. 

In der Danksagung bestätigt sich der Eindruck, der beim Lesen entstand: Kathy Reichs war tatsächlich in Guatemala und hat eine Zeitlang mit der FAFG gearbeitet. Die Protagonistin des Romans, Tempe Brennan, verweist an einer Stelle explizit auf die Motivation, die die FAFG bewogen haben mag, die Krimiautorin zu unterstützen: „Wer für Menschenrechte kämpft, hat immer Geldsorgen.“ Folgerichtig steht in der Danksagung: „Die Arbeit, die die FAFG durchführt, ist unglaublich schwierig und enorm wichtig.“
„Knochenlese“ – so etwas wie ein Spendenaufruf? Oder Bewusstseinsarbeit? Wenn es die primäre Motivation der Autorin wäre, für die Arbeit der forensischen AnthropologInnen in Guatemala zu sensibilisieren, stellt sich allerdings die Frage, warum das Schicksal der BewohnerInnen des Dorfes Chupan Ya nicht mehr ist als ein sensationeller Nebenstrang einer – noch nicht einmal besonders gelungenen – Erzählung. So wirkt es letztlich, als reise die Autorin betroffen um den Globus, um besonders schaurige Aufhänger für ihre Kriminalgeschichten zu finden, die ansonsten aus den üblichen Versatzstücken schlechter Thriller bestehen. Wo die anderen Romane der Autorin – „Tote lügen nicht“, „Knochenarbeit“, „Lasst Knochen sprechen“ oder „Durch Mark und Bein“ – spielen, möchte ich lieber nicht wissen.

Kathy Reichs, Knochenlese, Roman, München Blanvalet 2004, 384 Seiten

Anika Oettler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. 2004 ist ihr Buch „Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala“ bei Vervuert erschienen.