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Ein Künstler hat vor allem frei zu sein

Interview mit dem Fotografen Luis Cruz

Ich erinnere mich daran, wie ich Luis Cruz in der Mensa der Universität Köln kennen gelernt habe. Nach dem Mittagessen pflegten wir uns in der Cafeteria zusammenzufinden und im Zuge hitzig-leidenschaftlicher Diskussionen über Lateinamerika hatten wir im Nu alle Probleme unserer Länder gelöst. Auf gerechte Art und Weise teilten wir die Aufgaben der nagelneuen demokratisch-revolutionären Regierungen unter uns auf. Jeder brachte es zum Minister und ich glaube, dass wir Luis Cruz den Posten des Ministers für Kultur und Kunst zuwiesen. Auch wenn sich niemand darum schlug Präsident zu sein, so ist eines auf jeden Fall sicher: Enrique Schmidt wurde Minister für Verkehr und Infrastruktur im sandinistischen Nicaragua. Zumindest stehen wir immer noch auf der Warteliste, ohne die Hoffnung zu verlieren. Luis lenkte seine Aufmerksamkeit immer auf die Gesten, die Gesichtszüge, die Gruppen – und seine Kamera sicherte ihnen ihren Fortbestand. Sie durfte auf keinem kulturellen oder politischen Ereignis fehlen. Um die menschliche Seite dieses Künstlers kennen zu lernen, habe ich mit ihm gesprochen, während wir weiter darauf warten, eines Tages Minister zu sein.

Walter Lingán

Wie ergab sich dein Hang zur Fotografie, zur Fotografie als Kunst?

Der Onkel meines Großvaters begann mit der Fotografie in der Familie. Mein Großvater und mein Vater folgten ihm und schließlich auch ich. Mit neun Jahren machte ich meine ersten Fotos. Es ist klar, dass die eigene Entwicklung und Vergrößerung von Fotos als Kind Anfang der 60er Jahre etwas Besonderes war. Ich arbeitete schon früh für meinen Vater, indem ich ihm die Chemikalien und das Fotopapier kaufte, seine Arbeiten zu den Kunden auslieferte und mit 14 Jahren selbst im Labor tätig war. Damit will ich sagen, dass die Fotografie wie etwas Natürliches in mir existiert, sie ist ein Teil von mir.

Wozu nützt die Fotografie als Kunst, als kultureller Ausdruck wirklich?

Die künstlerische Fotografie kann zu vielerlei „nützlich“ sein, abhängig davon, was wir unter nützlich verstehen. Auf dem kulturellen Gebiet dient sie als Beweisstück, als etwas Dokumentarisches, was als objektive Fotografie bezeichnet wird. Es gibt auch die abstrakte Fotografie, die konzeptionelle Fotografie etc., deren Nutzen nicht weit von einem Bild Picassos oder Dalís entfernt ist und ebenso Teil der Kultur ist.

Du hast bereits in Chile mit der Fotografie begonnen. Was genau hast du gemacht?

Um mein täglich Brot zu verdienen, arbeitete ich als Fotograf auf Trauungen, Taufen und zudem auf gesellschaftlichen Festen. Aber Ende der 70er Jahre vollzog ich eine bedeutende Wendung. Es waren die Jahre der Pinochet-Diktatur, gegen die ich im Untergrund kämpfte. Ich entschied mich zur kulturellen Arbeit gegen die Diktatur überzugehen. Gegen Ende 1979 präsentierte ich meine erste Ausstellung, und danach trat ich der Gruppe „Mistral“ bei, einer Organisation, die sich aus vielfältigen Disziplinen zusammensetzte, aus Dichtern, Schriftstellern, Musikern, Malern, Radiomachern. Wir veranstalteten große kulturelle Akte in Botschaften, wie der deutschen oder der französischen, eine neue Version von Nerudas „Canto General“ feierte ihr Debüt und ein literarischer Neruda-Preis wurde verliehen, alles mit riesigen Fotos dekoriert, die ich aus dem Privatarchiv von Matilde Urrutia, der Witwe Nerudas, vergrößert hatte. Das Publikum war auf der Straße, ohne überhaupt etwas sehen zu können. „Dabeisein“ war wichtig, aber auch die Geheimpolizei kam und es gab Bombendrohungen. 

Parallel dazu begann ich in der Kulturwerkstatt „Taller Sol“ zu arbeiten, wo Intellektuelle und KünstlerInnen zusammenkamen, die mit der revolutionären Linken in Verbindung standen. Dort gab ich den ArbeiterInnen Unterricht in Fotografie, wirkte bei der Projektion von Dias auf Gewerkschaftsveranstaltungen mit und nahm an den Diskussionen über eine Alternativkultur teil. Diese Jahre waren voller Arbeit, Angst und Traurigkeit, weil ständig einige meiner Bekannten ermordet oder gefoltert wurden. Ich fotografierte ihre Beerdigungen. Das waren sehr harte Jahre, die ich zusammen mit meiner Kamera durchschritt.

Am 12 Juli 1983 wurde ich zusammen mit Mitgliedern und AnhängerInnen der „Taller Sol“ festgenommen. Wir wurden in die Kartei aller Sicherheitsorgane aufgenommen und ein Jahr später fiel ein Freund und Kollege „im Gefecht“, der mit der Gruppe festgenommen worden war. Andere mussten aufgrund anderer Auseinandersetzungen ins Exil gehen. Damit war es nur eine Frage der Zeit, bis auch ich der Repression ausgesetzt werden würde. Dazu kam noch meine absolute Unzufriedenheit mit der Politik der Linken, die mich dazu führte, das Land zu verlassen.

Auf welche Weise beeinflusst Chile immer noch dein aktuelles fotografisches Schaffen?

Chile oder die Tatsache, Lateinamerikaner zu sein, bestimmt mein Interesse, das Ästhetische, das Technische und das Inhaltliche zusammenzubringen. Ich betone das, weil hier in Deutschland die technisch-ästhetische Effekthascherei vorherrscht. Und wenn von konzeptueller Kunst gesprochen wird, bezieht sich dies auf die theoretische „Dekoration“, die das Werk begleitet und die regelmäßig nach der Erschaffung des Werkes stattfindet, als Teil des Marketings. Wenn ich von diesen drei Elementen spreche, dann beziehe ich mich auf ein harmonisches Gleichgewicht zwischen ihnen. Es scheint absurd, Werke zu lesen oder zu betrachten, die nichts von der Gegenwart erzählen, nichts von der Unsicherheit, der Angst und der Ablehnung imperialer Kriege. 

Es darf nicht sein, dass wir im Privaten sprechen oder dass wir an einer Demo gegen den Irakkrieg teilnehmen und dies danach in der künstlerischen Produktion keinen Niederschlag findet. Damit stellt sich nicht die Frage, was Kunst ist oder nicht, aber ich mache einen Unterschied zwischen der assimilierten und passiven Kunst einerseits und derjenigen, die rebelliert oder sogar Vorschläge formuliert. In Chile führten wir den Terminus „kultureller Arbeiter“ ein, um den Künstler zu bezeichnen, der sich nicht vom Rest der Gesellschaft abtrennt und dessen Interessen mit denjenigen der Gesamtheit übereinstimmen. Ein allgemeiner Blick auf unseren Kontinent zeigt, dass es eine lange Tradition der konsequenten kulturellen Aktion gibt, wo das Werk ein wichtiger Bestandteil des Fühlens und Denkens des Künstlers ist. Das ist es, was ich in meinem kleinen Gepäck mitgebracht habe, abgesehen von einem Haufen Negativen.

War dein Aufenthalt in Köln wichtig für deine künstlerische Entwicklung?

In Köln studierte ich künstlerische Fotografie an der Fachhochschule und schloss mit dem Titel Meisterschüler ab, was sehr wichtig für meine professionelle Entwicklung war. Dieses Konzept der künstlerischen Fotografie gab es 1986 in Chile nicht, das war neu für mich. Beim Besuch der Seminare von Professor Arno Jansen lernte ich neue Techniken und viel über Ästhetik, die meiner Arbeit einen anderen Schliff gaben. Ich möchte auch noch meine Zusammenarbeit mit dem Künstler Johannes Blume erwähnen, von dem ich lernte, Fotografie auf eine andere Art zu sehen, freier und weniger auf die technische Perfektion fixiert, die ich von Haus aus mitbrachte.

Glaubst du an den engagierten, aktivistischen Künstler?

Ein Künstler hat vor allem frei zu sein, und das Aktivistische ist das Gegenteil von Freiheit. Die Kunst ist so kreativ wie die Wirklichkeit. Es gibt einen Widerspruch zwischen der Kristallisierung der Ideen und der sich ändernden Wirklichkeit. Andererseits fällt mir schwer auszublenden, dass heutige Künstler nicht den Druck der wirtschaftlichen Entwicklung spüren, dass sie dies nicht beeinflusst, denn frei zu sein in ihrer Wahrnehmung der Umgebung bedeutet auch, auf diese reagieren und diesbezüglich produzieren zu müssen. Für mich ist die künstlerische Schöpfung ein Akt der Wahrnehmung der Gegenwart, des Hier und Jetzt und des Raumes. 

Was willst du mit deinen Fotografien vermitteln?

Die Reportagen aus Chile hatten zum Ziel, die Diktatur anzuklagen, das Elend und die Repression, denen unser Volk unterworfen wurde. Dies war etwas, das aus meinem tiefsten Innern kam, da ich ja Teil der politischen Opposition war. Die Protestfotos stammen zum größten Teil aus dem Ort, wo ich lebte, sie zeigen auch die Fotos der Beerdigungen, Bilder von FreundInnen oder Bekannten. Die Serie „Antifuturismo“ enthält Aussagen darüber, welche Folgen die Einbindung der Technologie in unser alltägliches Leben haben, über die Hassliebe, die wir mit ihr verbinden. „Veräußerlichung“ ist autobiografisch, aber sucht nach einem Zusammentreffen mit den Anderen, weil die Trauer um die Gefallenen im Kampf gegen die Diktatur keine persönliche Sache ist, ebenso wenig wie der Identitätskonflikt, den die Völker von Kanada bis Feuerland zu erleiden haben. In anderen neueren Arbeiten zeige ich Graffitis von Köln oder die Proteste gegen den Irakkrieg. Damit will ich meine Beunruhigung, meine Fragen, meinen Ärger vermitteln.

Welche Techniken oder Stile hast du am besten entwickelt und wann setzt du sie ein? 

Ich glaube, dass die künstlerische Reportage eine der bestgelungensten Stile ist, ebenso die digitalen Collagen. Die Reportage hat eine Zeugnis ablegende und dokumentarische Bedeutung und die Verwendung von Schwarz-Weiß-Material erlaubt eine Konzentration auf das Wesentliche. Diese Technik der Schwarz-Weiß-Fotografie verwende ich für die Reportagen über z.B. die Antikriegsproteste oder den CSD und andere soziale Themen. Bedauerlicherweise wurde ein Großteil dieser Arbeit nicht gezeigt, aus Mangel an finanziellen Mitteln. Es gibt eine Sorte Fotos, die von kulturellem und weniger von kommerziellem Interesse ist, Fotos, die wir gerne im Museum betrachten, aber nicht kaufen würden, um sie uns ins Wohnzimmer zu hängen. Ich glaube, dass die Funktion des Künstlers bis zur Umsetzung seiner Arbeit verläuft, danach müsste immer der Staat ins Spiel kommen, wenn dieser Interesse an Kultur hat. Das Andere ist die digitale Collage, die eine ganze Geschichte in einem einzigen Bild zu erzählen erlaubt und die Malerei integriert, genauso wie es mir gefällt.

Wie reagiert das Publikum auf deine Ausstellungen?

Ich würde sagen, dass die Reaktionen bis heute und die Anerkennung von Teilen des künstlerischen und intellektuellen Milieus positiv waren. Besonders stach in den letzten Jahren die Reportage über den Kölner CSD heraus, die auf der letzten Ausstellung der Kunsthalle der Kölnkunst 6 zu sehen war. Außerdem gab es neuere Publikationen wie das Buch „ExilBilder“ (s. Rezension in diesem Heft), wo neben schriftstellerischen Texten einige meiner Fotos zusammen mit einem analytischen Text veröffentlicht wurden.

Das E-Mail-Interview führte Walter Lingán mit Luis Cruz im Mai 2005. Übersetzung: Andreas Hetzer