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Neoliberalismus–Autonomie–Widerstand

Neue Publikation zu sozialen Bewegungen in Lateinamerika
Ulrich Mercker

Das neoliberale Modell kann nicht mit kraftvollen und mobilisierungsfähigen sozialen Bewegungen koexistieren. Eines seiner Hauptziele in dieser Etappe besteht, ganz wie in den Dokumenten von Santa Fe festgelegt, in der Neutralisierung der organisierten Zivilgesellschaften, da sie zum wichtigsten Faktor seiner Delegitimierung zu werden drohen“, schrieb der uruguayische Sozialwissenschaftler und Journalist Raul Zibechi am 3. Januar 2005 in einem Kommentar der mexikanischen Tageszeitung La Jornada anlässlich der Wahl des bewährten Kämpfers für die politische Unabhängigkeit der ecuadorianischen Indígena-Bewegung CONAIE, Luis Macas, zum Vorsitzenden der Organisation. Macas hatte sich in den 80er und 90er Jahren um den Aufbau der Organisation verdient gemacht, war aber 1996 aus der Führungsriege zurückgetreten, um fortan als Rektor der „Interkulturellen Universität indigener Nationalitäten und Völker“ in Quito zu wirken. Seine Rückkehr an die Spitze der CONAIE ist gleichbedeutend mit dem Versuch der Organisation, ihre durch Spaltungen und erfolgte Kooptationen verloren gegangene Autonomie zurück zu erobern. 

In einer politischen Konjunktur, die durch die massive Implementierung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf dem gesamten Kontinent, zugleich aber auch durch Wahlerfolge linker bzw. sozialdemokratischer Parteien in den meis-ten Ländern Lateinamerikas gekennzeichnet ist, kommt ein Buch, das sich mit dem Stand sozialer Bewegungen in der Region auseinander setzt, sehr gelegen. Denn die durch aggressiven Marktfundamentalismus und globalen „Krieg gegen den Terrorismus“ aufgeheizte weltpolitische Situation lässt nationalen Regierungen nur geringen Spielraum in der Ausgestaltung einer programmatisch auf soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung ausgerichteten Politik. Die z.T. hämischen Medienkommentare zu den vergleichsweise dünnen sozialpolitischen Erfolgen in der bisherigen Amtszeit des brasilianischen Hoffnungsträgers Lula sprechen hier eine beredte Sprache.

Das deutliche Erstarken neuer sozialer Bewegungen in weiten Teilen Lateinamerikas seit dem Ende der 90er Jahre gibt jedoch Anlass zu Hoffnungen, dass sich genügend gesellschaftlicher Druck mobilisieren lässt, um gewählte Regierungen dazu zu zwingen, ihre in Wahlkämpfen propagierten Ziele weiter zu verfolgen. Von entscheidender Bedeutung dafür wird allerdings die Fähigkeit der Bewegungen sein, autonom zu agieren und nicht den Verlockungen der Machtbeteiligung zu erliegen. Nur unabhängige, in weiten Teilen der Bevölkerung verankerte soziale Organisationen sind in der Lage, als Korrektiv bzw. gelegentlich auch als Antipode zur staatlichen Politik aufzutreten. Die letzten sieben Jahre rot-grüner Regierungspolitik in Deutschland liefern den leidvollen Beweis für diese These.

Mit dem Band „Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand, Soziale Bewegungen in Lateinamerika“, verbindet das Herausgeberteam nicht den Anspruch, „einen allgemeinen Überblick“ zu geben, „vielmehr sollen beispielhaft Reaktionen sozialer Bewegungen auf die Zumutungen der neoliberalen Ordnungen“ (S. 11 f.) untersucht werden. Dabei begreifen sie zutreffend den Neoliberalismus als „Projekt, das über seine wirtschaftlichen Implikationen und deren gewaltsame Durchsetzung hinaus eine umfassende Ökonomisierung des Sozialen“ beinhaltet und damit nicht nur ein „ökonomisches, sondern auch sozialkulturelles Programm“ (S. 14) ist. Hieraus leitet sich ihre Forderung nach stärkerer Einbeziehung der auf dem amerikanischen Kontinent verbreiteteren Ansätze der Cultural Studies an die hierzulande betriebene Bewegungsforschung ab. Äußerst verdienstvoll ist in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung der erstmals ins Deutsche übertragenen Studie einer in den USA wirkenden lateinamerikanischen Autorengruppe (Sonia E. Alvarez, Evelina Dagnino, Arturo Escobar, 1998) „Kultur und Politik in sozialen Bewegungen Lateinamerikas“ (S. 31-58), die sämtlichen anderen AutorInnen des Buches als Referenzrahmen diente. 

In elf weiteren Einzelbeiträgen kommt die Unvergleichbarkeit sozialer Bewegungen in ausgewählten Ländern Lateinamerikas hinsichtlich ihres jeweiligen Status und ihrer politischen Reflektiertheit deutlich zum Ausdruck, wobei vereinzelt die politisch-historische Einordnung in den Entwicklungsprozess des jeweiligen Landes ein wenig zu kurz kommt. In einer Mischung von Länderanalysen und theoretischer Auseinandersetzung mit den Foucaultschen grundlegenden Macht- und Herrschaftsfragen sowie mit solchen zum Verhältnis von Ethnizität und Nation, zur Geschlechterfrage, zur Bündnisfähigkeit und Transnationalität mancher Bewegungen wird ein „weites Feld“ durchpflügt, das vom zapatistischen Konzept des expliziten Machtverzichts im Norden des Kontinents über die Bolivarianische Bewegung Venezuelas bis zu den „Situationisten“ im Großraum Buenos Aires reicht. 

In kenntnisreichen Analysen werden die je spezifischen Verhältnisse in Kolumbien, Chile, Guatemala, Brasilien, Argentinien, Venezuela, Bolivien, Uruguay und Mexiko dargestellt. Verbindende Fragestellungen sind dabei die nach dem Demokratisierungspotential der unterschiedlichen Bewegungen, ihrem Verhältnis zu politischen Parteien bzw. zum System der repräsentativen Demokratie überhaupt und zum ambivalenten Charakter der Forderung nach Autonomie. So kann die Schaffung autonomer Räume auch durchaus im Sinne der von Dieter Boris diagnostizierten „Zersplitterungs- und Pulverisierungstendenz der gegenwärtigen Sozialstrukturen Lateinamerikas“ (zit. nach O. Kaltmeier et al., S. 17) insofern funktional sein, als sie den Souveränitätsverlust von Nationalstaaten beschleunigen hilft und damit neoliberalen Deregulierungsbemühungen Tür und Tor öffnet. Das Buch enthält eine Fülle hochspannender Anregungen zum Weiterdenken (und -handeln) und vermittelt wertvolle aktuelle Einblicke in die gebrochenen Realitäten lateinamerikanischer Gesellschaften.

Hrsg. v. Olaf Kaltmeier, Jens Kastner u. Elisabeth Tuider: Neoliberalismus - Autonomie - Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika 2004, Westfälisches Dampfboot,  278 Seiten, 24,80 Euro