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Die Briefe, die nie angekommen sind

Eine Erzählung von Mauricio Rosencof
Gert Eisenbürger

Ein kleiner Junge erzählt aus seiner Kindheit. Einer jüdischen Kindheit in Montevideo. Mikrokosmos seiner kleinen Welt ist der Patio, der Innenhof des Hauses, in dem er mit seinen Eltern lebt. Die Welt des kleinen Moishe/Mauricio ist zweigeteilt. Im Patio erlebt er die jüdische Welt der erst kurz vor seiner Geburt aus Polen eingewanderten Familie, draußen die Welt des Arbeiter- und Handwerker-Stadtteils Palermo, den Moishe zusammen mit seinem Freund Fito erkundet.
Aus diesen beiden Realitäten berichtet Moishe mit seinem kindlichen Blick. Oft glaubt man die staunenden Augen sehen zu können, wenn er Dinge erzählt, und schmunzelt über seine Logik und Weltsicht. Die Schilderung seiner Umgebung und der Typen, die dort leben, erinnert an die Beschreibung der jüdischen Schtetl Osteuropas in den Romanen und Erzählungen der großen jiddischen Autoren Mendele Mojcher Sforim, Scholem Alejchem, Isaac Lejb Perez, Scholem Asch oder zuletzt Isaac Bashevis Singer. Mauricio Rosencof steht in seiner Erzählung „Briefe, die nie angekommen sind“ ganz in der Tradition dieser Literatur, ihrer Bilderwelt, ihrer Poesie und ihrer sozialkritischen Inhalte, die freilich nie pamphletartig vorgetragen werden. Das jüdische Milieu, das Moishe beschreibt, ist nicht das der frommen Juden, sondern das der jüdischen Arbeiterbewegung, der Vater ist internationalistischer Kommunist, sonntags trifft man sich im Komitee zur Unterstützung der spanischen Republik, wo selbstverständlich Jiddisch gesprochen wird. Trotz der sozialistischen Orientierung des Vaters ist die Religion mit ihren Gesetzen und Geschichten als identitätsstiftendes Element in der Familie durchaus präsent.
Die Beschreibung von Moishes kleiner Welt gerät fast zur Idylle, etwa dann, wenn der Schuster Don Evelio, der einen Filmapparat hat und sonntags in seiner Werkstatt Stummfilme mit Charlie Chaplin zeigt, auch die zuschauen läßt, die die 20 Centavos Eintritt nicht zahlen können, „weil: das ist Sozialismus“.
Doch die Idylle ist kein Selbstzweck, kein süßliches Beschwören einer vermeintlich unbeschwerten Kindheit, sondern Gegenentwurf zum Grauen, das die Familienmitglieder auf der anderen Seite des Ozeans erleben.
Der Vater wartet jeden Tag auf den Briefträger, auf die Briefe der Verwandten aus Polen. Irgendwann kommen keine Briefe mehr. Diese Briefe, die nie angekommen sind, hat später der erwachsene Autor Mauricio Rosencof geschrieben. Sie durchziehen die Erzählung, wechseln sich mit den Beobachtungen des kleinen Moishe ab. Die Briefe erzählen den Leidensweg der polnischen Juden, beginnend mit den ersten judenfeindlichen Verordnungen nach der deutschen Besetzung. Die Verwandten beschreiben, wie man sie erniedrigt, im Getto zusammenpfercht, mit Versprechungen ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort zu zerstören sucht. Die Fakten sind bekannt, aber die Briefe illustrieren in kleinen Episoden den Horror und die grenzenlose Perfidie des KZ-Systems. Mich überkam beim Lesen einiger Stellen blanke Wut und unendliche Traurigkeit, ich konnte kaum weiterlesen. Etwa wenn beschrieben wird, wie die kranken und schwachen weiblichen Häftlinge zur Vernichtung selektiert werden und ihre Mitgefangenen unter Androhung ihrer eigenen Ermordung gezwungen werden, die Todeskandidatinnen zu bewachen. Oder als geschildert wird, wie eine besonders widerwärtige KZ-Aufseherin den Gefangenen überraschend ein Stück Seife überläßt: „Grete hat uns heute ein Stück Seife dagelassen. Es wird dir dumm vorkommen, aber das hat uns großen Auftrieb gegeben. Vielleicht bekommen wir noch andere Extras, eine Kartoffel, ein paar Strümpfe, was weiß ich. Ich spüre auf meiner Hand die weiche Haut der Seife, und ich lächle ein wenig. Ich denke an eine Dusche, an heißes Wasser, das lange über meine Schultern strömt, an saubere Wäsche.  Grete geht wieder. Sie hat einen zugleich kriegerischen und weiblichen, eleganten Gang. Wir sind ein wenig neidisch.
Als wir die Seife an unsere Nase halten, sehen wir die Prägung. Wir sind so bestürzt, daß wir kein Wort von uns geben, nicht einmal ein Stöhnen. Wir weinen nur, Isaac, leise, still, weil uns in diesem Augenblick nur Tränen bleiben, die langsam wie ein Trauerzug über die Wangen rollen, unaufhörlich, während wir die Seife begraben und dabei ein Kaddish flüstern.“
Der letzte Brief berichtet nicht vom Ende. Das will und kann der Autor Mauricio Rosencof nicht zulassen. Er beschreibt eine Widerstandsaktion im Lager. Die Leichenträger hatten einige Kanister Benzin beiseite schaffen können. Es gelingt den Häftlingen, zwei SS-Männer zu töten, die ukrainischen Wächter zu entwaffnen und die Gaskammer in Brand zu stecken.
„Jetzt werfen wir uns gegen den Stacheldraht, wir schreien.
Schreien, einfach schreien, schreien in verschiedenen Tonlagen, Schreie schreien, Isaac, nur Schreie, die die Luft zerschneiden, Schreie, die in unseren Kehlen explodieren; zuerst, vor allem anderen, befreiten wir den verbotenen, den unterdrückten, den eingeäscherten Schrei. Den reinen Schrei, den Schrei ohne Konsonanten, den uralten, überlieferten. Den ewigen Schrei.“