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In Köln habe ich mich politisiert

Der uruguayisch-cubanische Schriftsteller Daniel Chavarría

Die Leute, die in den Lebenswegen zu Wort kommen, haben in Deutschland oft negative Erfahrungen gemacht. Die Naziverfolgten erlebten einen brutalen Repressionsapparat und eine überwiegend gleichgültige oder profaschistische Bevölkerung. Die Flüchtlinge aus Lateinamerika fanden hier zwar Asyl und oft auch solidarische Unterstützung, erlebten aber auch den alltäglichen Rassismus und bürokratische Schikanen der Behörden. Ganz anders Daniel Chavarría, der 1953 als Globetrotter aus Uruguay nach Deutschland kam und hier ein Jahr verbrachte. Er fand nicht nur herzliche Aufnahme, wie er erzählt, sondern wurde in der Adenauerära von Kölner Arbeitern für sozialistische Ideen begeistert. Denen blieb er in den folgenden Jahrzehnten treu, wurde nach seiner Rückkehr nach Uruguay kommunistischer Parteiaktivist, später in Kolumbien logistischer Verbindungsmann der Guerilla ELN und entführte schließlich ein Flugzeug nach Cuba. Dort wurde er seßhaft, beendete ein Studium, lehrte später an der Uni und ist heute ein erfolgreicher Schriftsteller. Im Mai war er anläßlich einer Lesereise zu Gast in Bonn. Gert Eisenbürger ließ sich natürlich die Gelegenheit nicht entgehen, seine schillernde Lebensgeschichte für die Lebenswege aufzuzeichnen.

Gert Eisenbürger

Daniel, du lebst schon lange in Cuba, kommst aber ursprünglich vom Rio de la Plata?

Ich komme aus Uruguay. Da wurde ich 1933 geboren und lebte dort, bis ich 19 Jahre alt war. 1953 kam ich nach Europa. Hier bin ich vier Jahre geblieben, in Spanien, in Italien, in Frankreich und in Deutschland.

Heute gehen sehr viele Jugendliche aus Uruguay weg, weil sie dort keine ökonomische Perspektive sehen, aber 1953 war Uruguay ein sehr wohlhabendes Land...

Ich bin nicht aus wirtschaftlichen Gründen weggegangen, sondern weil ich Lust hatte, die Welt zu sehen. Und ich hatte eine Neigung zum Theater. Ich war Mitglied einer Theatergruppe, die in Verbindung mit einem britischen Institut stand. Der Direktor des Instituts hatte mir ein Stipendium für einen Kurs in London besorgt, und ich dachte mir, wenn ich nach England gehe, finde ich dort eine Arbeit und kann irgend etwas mit Theater machen. Aber ich wollte zuerst einige Monate durch Spanien, Italien und Frankreich reisen, um mir die Städte anzusehen, die Museen usw. Als Jugendlicher hatte ich große kulturelle Interessen.
Meine Familie war nicht sehr reich, aber meine Mutter konnte mir etwa 500 Dollar geben, damit konnte ich die Überfahrt mit dem Schiff bezahlen. Ich kam nach England, aber meine Vorstellung, Theater zu machen, ließ sich nicht realisieren. So bin ich mehr als drei Jahre kreuz und quer durch Europa gefahren. Ich war fast überall in Westeuropa und habe von Spanien aus auch einen Abstecher nach Nordafrika gemacht. 1954 kam ich nach Deutschland. Ich verbrachte etwa zehn Monate in Köln, reiste danach einige Monate in Deutschland herum und war dann noch drei Monate in Hamburg.

Hast du während deines Aufenthalts in Europa gearbeitet, oder wie hast du dich finanziert?

Ich habe überall gearbeitet. Ich habe alles gemacht. Als ich in Köln war, habe ich die ersten Monate beim Studentenschnelldienst gearbeitet. Die Universität hatte damals einen Dienst, bei dem Studenten für kleine Arbeiten angefordert werden konnten. Die Studenten saßen dort morgens um acht Uhr auf Abruf, und meistens bekam man auch einen Job, je nachdem für ein paar Stunden, Tage oder vielleicht auch für ein oder zwei Wochen. So habe ich eine Woche in einer belgischen Kaserne gearbeitet, dann war ich Model im Kaufhof. Ich führte dort Kleidung vor – ich war damals ein junger Mann und nicht so dick wie jetzt. Ich habe auch als Fahrer gearbeitet. Dann bekam ich für einige Monate einen Job als Hilfsarbeiter in der Gießerei Felten & Guilleaume. Während der Zeit in Köln habe ich intensiv Deutsch gelernt und gelesen. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Nach drei Monaten konnte ich mich mit den Leuten über alltägliche Dinge unterhalten.

Das war die Zeit kurz nach dem Krieg, der Faschismus war noch nicht lange vorbei. Wie haben die Leute auf dich als Ausländer reagiert?

Die waren außerordentlich höflich. Ich weiß nicht, ob die Deutschen noch ein bißchen einen Schuldkomplex hatten. Niemand in Europa war so nett wie die Deutschen. Das stimmt wirklich, das sage ich jetzt nicht einfach so. Durch die Filme, die ich über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus gesehen hatte, kam ich durchaus mit gewissen Vorbehalten nach Deutschland. Aber ich habe hier nur positive Erfahrungen gemacht. Ich sprach schon damals sehr gut italienisch – meine Mutter kam aus Italien –, französisch und englisch, aber in all diesen Ländern fand ich die Leute nicht so nett wie hier in Deutschland. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte. Alle wollten mich einladen, die Arbeitskollegen in Köln, meine Nachbarn, das war wirklich fantastisch. Es war in Köln, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben politische Ideen hatte, mich politisiert habe.

Wodurch kam das, was war der Auslöser?

Durch die Arbeit in der Gießerei, da waren damals viele Kommunisten. Das waren gute Leute. Sie wurden meine Freunde und erzählten mir von Marx und Engels und den sozialistischen Ideen. Bis dahin war ich völlig unpolitisch gewesen, aber von da an änderte sich das.

Was hast du nach den vier Jahren in Europa gemacht?

Ich fuhr als blinder Passagier auf einem Schiff in die Vereinigten Staaten. Dort hat mich aber die Einwanderungsbehörde gekriegt und nach Uruguay ausgewiesen. Als 23-Jähriger kam ich 1957 zurück in mein Heimatland. Dort habe ich mich schnell in ein Mädchen verliebt – sie dachte auch sozialistisch –, und wir haben bald geheiratet. Damit war es spruchreif, ich wurde Kommunist. Ich begann, in der Kommunistischen Partei zu arbeiten, und ich nahm mein Studium in klassischer Philologie wieder auf, das ich vor meinem Aufbruch nach Europa begonnen hatte. Ich wollte das Studium beenden, aber das war sehr schwer. Ich mußte arbeiten, um Geld zu verdienen, ich wollte in der Partei aktiv sein, und wir hatten bald ein Kind. Das Leben war damals sehr schwer für mich. Ich widmete mich vor allem meiner Arbeit in der Partei und verzichtete deshalb darauf, mein Studium zu beenden. Ab 1959 bestand meine wesentliche Arbeit in der Partei darin, die Solidarität mit der cubanischen Revolution zu organisieren. Da begann meine Verbindung mit Cuba. Wir organisierten zum Beispiel in der Universität Informationsveranstaltungen mit Leuten, die Cuba besucht hatten, zeigten Filme, die wir über die Botschaft bekamen.
Zu der Zeit hatte ich meine erste Auseinandersetzung mit der Partei. Ich war für den bewaffneten Kampf, die internationale kommunistische Bewegung war damals dagegen. Schließlich trennte ich mich von meiner Frau und der Partei und ging weg nach Buenos Aires. Ich wollte mich einer der Guerillagruppen anschließen, die damals überall in Lateinamerika entstanden.
Meine Frau folgte mir nach Buenos Aires – sie war Argentinierin. Wir blieben noch eineinhalb Jahre in Buenos Aires zusammen, dort bekamen wir auch unser zweites Kind. Aber es gab wieder Probleme, und Anfang 1963 bin ich definitiv gescheitert und erneut weggegangen. In Buenos Aires hatte ich Verbindungen zu einer trotzkistischen Gruppe, die von Silvio Frondizi, dem Bruder des damaligen argentinischen Präsidenten, angeführt wurde. Durch diese Gruppe bekam ich Informationen über eine peruanische Guerilla, die von Hugo Blanco geleitet wurde. So machte ich mich auf nach Peru, per Anhalter, ohne Geld. Ich brauchte zwei Monate bis an die peruanische Grenze. Als ich endlich in Peru war, las ich am ersten Tag in einer peruanischen Zeitung „Hugo Blanco capturado“ – sie hatten die Guerilla zerschlagen und Hugo Blanco festgenommen.
In Argentinien hatten die Trotzkisten gesagt, daß Hugo Blanco und seine Guerilla 300 Indios unter Waffen hätten. Aber das war nicht so. Die letzten Monate bestand die Guerilla nur noch aus einer Handvoll Leuten, und das waren keine Indianer, sondern Leute aus Lima. Und die wurden völlig aufgerieben.
So war ich in Peru, ohne politische Kontakte und ohne Idee, was ich dort tun sollte. Ich blieb sechs Monate da und machte alles mögliche, um mich über Wasser zu halten. So war ich zum Beispiel Buchverkäufer, aber nicht in einem Laden, sondern ich ging von Haus zu Haus und versuchte, den Leuten die Bücher zu verkaufen. Ich verließ dann Peru, war ein paar Monate in Bolivien und kam schließlich Ende 1963 nach Brasilien.
Zu dieser Zeit war in Brasilien einiges los. Präsident João Goulart wollte eine radikale Landreform machen. Das war sehr aufregend und stimulierend für die gesamte Linke in Südamerika. Leute aus allen möglichen südamerikanischen Ländern kamen nach Brasilien, so wie später nach Chile unter der Regierung der Unidad Popular. In Brasilien war ich in Bahia. Meine erste Anlaufstelle waren dort die Kommunisten. Ich war zwar nicht mehr Mitglied der Partei, aber ich wollte etwas tun. Die KP organisierte damals eine große Alphabetisierungskampagne. Da machte ich mit. Doch im März 1964 putschte das Militär gegen die Regierung Goulart, und ich mußte untertauchen, weil mein Bild in einer Zeitung erschienen war und darunter stand, ich sei ein gefährlicher kommunistischer Agitator. Ein Inspizient vom Theater lieh mir eine Mönchskutte. In dieser Verkleidung floh ich in Richtung Norden, nach Belem an der Amazonasmündung.
Dort bekam ich Kontakt mit einer Gruppe von Goldsuchern und zog mit ihnen den Tapajós-Fluß hinauf. Bei ihnen blieb ich etwa sechs Monate. Wir machten eine sehr schwere Arbeit in einem teuflischen Klima. Ich bekam Malaria, es ging mir sehr schlecht. Ich magerte total ab. Irgendwann kamen wir nach Manaus, der Hauptstadt Amazoniens, die noch immer von ihrer Pracht während des Kautschukbooms zehrt.
Von Manaus aus fuhr ich nach Kolumbien. Dort hatte ich Glück und fand eine gutbezahlte Arbeit in einem Duty-Free-Shop im Flughafen von Bogotá. Mein Vorteil war, daß ich außer spanisch fünf Sprachen sprechen konnte: englisch, französisch, portugiesisch, italienisch und deutsch. Ich wurde dort so eine Art Manager.
Eines Tages merkte ich, daß einer der Jungs, die bei uns im Lager arbeiteten, wo Whisky und Zigaretten gelagert wurden, sich merkwürdig benahm. Ich wurde mißtrauisch, ich dachte, er würde klauen. Einmal überraschte ich ihn, als er sich in der hintersten Ecke des Lagers an einer Kiste zu schaffen machte und sie zuallerunterst stellte. Ich ging hin und räumte die oberen Kisten weg, um zu sehen, was es mit der einen Kiste für eine Bewandnis hatte. Ich dachte natürlich, er hätte Waren beiseite geschafft, um sie später mitzunehmen. Ich öffnete also die Kiste. Aber er hatte keinen Whisky oder Zigaretten gestohlen, sondern die Kiste war voll mit Exemplaren des Buches „La guerra de guerrillas“ von Che Guevara. Ich war allein mit ihm, und er dachte, er würde rausgeschmissen. Ich sagte ihm aber nur, ich hätte nichts gesehen und er solle aufpassen. Er war ein Verbindungsmann der Guerillaorganisation ELN.
Das Ergebnis dieser Episode war, daß zwei Wochen später ein Mann bei mir auftauchte und mich ebenfalls für die ELN rekrutierte. Duch unsere privilegierte Stellung auf dem Flughafen konnten wir – der Junge aus dem Lager und ich – in Zusammenarbeit mit einigen sympathisierenden Piloten und Leuten aus dem Flugpersonal wichtige Materialien, Bücher und auch Waffen ins Land bringen. Später arbeitete ich für das gleiche Duty-Free-Unternehmen in Häfen bzw. Flughäfen im kolumbianischen Cartagena, in Ecuador und Venezuela und schließlich im Hafen von Buenaventura in Kolumbien. Da ich meine Arbeit im Sinne der Duty-Free-Firma gut machte, schickte mich die Geschäftsführung immer wieder dorthin, wo sie neue Läden aufmachte. In all diesen Häfen und auf all diesen Flughäfen knüpfte ich Kontakte zu linken Leuten und konnte so für die Guerilla eine wichtige Arbeit leisten. Die Seehäfen waren besonders wichtig, weil man dort über Beziehungen mit Seeleuten in größerem Umfang Sachen ins Land bringen und auch Leute, etwa Verwundete, außer Landes schaffen konnte. Ich war selbst nie Guerillero, aber ich machte diese Verbindungsarbeit.
1969 mußte ich Hals über Kopf fliehen. Ein Verantwortlicher der Guerilla war verhaftet worden und begann, mit der Polizei zu kollaborieren. Da er über meine Tätigkeit genau Bescheid wußte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mich verhaften würden. Weil ich keine andere Möglichkeit sah, schnell wegzukommen, entführte ich ein Flugzeug. Der Flughafen von Buenaventura – ein ganz kleiner Flughafen ohne asphaltierte Piste – lag ganz in der Nähe des Hafens. Von dort verkehrten nur Flieger in Richtung Bogotá oder Cali. Ich nahm die Einnahmen aus dem Duty-Free-Shop und kaufte alle Plätze einer zwölfsitzigen Maschine für den nächsten Tag nach Bogotá. Ich gab an, ich würde mit einer Gruppe von Geschäftspartnern fliegen. Ich besorgte mir eine Waffe, und am nächsten Morgen ging ich mit meiner kolumbianischen Freundin und ihrem Kind zum Flughafen. Unglücklicherweise bat mich dort ein Matrose, den ich kannte, mitfliegen zu dürfen. Er mußte dringend nach Bogotá, und weil ich alle Plätze aufgekauft hatte, bekam er kein Ticket. Um keinen Verdacht zu erregen, willigte ich ein. Als wir gestartet waren, zog ich die Pistole und forderte den Piloten auf, Kurs auf Cuba zu nehmen. Er nahm das alles sehr gelassen. Er meinte, er habe damit gerechnet, daß ihm das irgendwann einmal passierte. In diesem Jahr 1969 wurden insgesamt 65 Flugzeuge aus Lateinamerika nach Cuba entführt. Da die Maschine nur nach Bogotá fliegen sollte, hatten wir natürlich nicht genügend Benzin. So mußten wir in Cartagena an der kolumbianischen Atlantikküste zwischenlanden, um aufzutanken. Das war die heikelste Situation, weil ich fürchtete, die Geheimpolizei könne dort versuchen, die Maschine zu stürmen. Aber es ging alles glatt, und so erreichten wir schließlich Santiago de Cuba. Der Pilot und der Passagier flogen am nächsten Tag zurück, und ich begann mein Leben in Cuba, wo ich nun schon seit 28 Jahren bin.

Was hast du in Cuba gemacht?

Zuerst arbeitete ich dort als Übersetzer und Französischlehrer im Landwirtschaftsministerium. Später ging ich an die Universität und schloß endlich mein Studium in klassischer Philologie, das ich als 18-Jähriger in Uruguay begonnen hatte, ab. Während all der Jahre, in denen ich in Europa und Lateinamerika unterwegs gewesen war, hatte ich immer Lateinisch und Griechisch gelesen. Sogar, als ich bei den Goldsuchern in Amazonien war. Vor unserem Aufbruch hatte ich in Belem das Gesamtwerk von Horaz, eine zweisprachige Ausgabe von Ovid und ein Wörterbuch geklaut, weil ich meine Klassiker bei der überstürzten Flucht aus Bahia verloren hatte. Wie andere Leute Kreuzworträtsel lösen, war für mich das Lesen lateinischer und griechischer Literatur immer eine Gymnastik für den Intellekt. Nach Abschluß meines Studiums arbeitete ich als Dozent für Lateinisch und Griechisch an der Universität. In Cuba hatte ich als Ausländer nicht mehr die Möglichkeit, politisch aktiv zu sein. In diesem Sinne war das Leben in Cuba ein bißchen langweilig. Diese Langeweile war für mich sehr positiv, sie hat mich letztlich motiviert zu schreiben.

Du wurdest also Schriftsteller, und zwar im Genre Kriminal- und Spionageroman. Wie kam das?

Da muß ich etwas ausholen. 1970 schrieb erstmals nach der Revolution ein cubanischer Schriftsteller einen Kriminalroman. Es war ein gutes Buch, im Stil der US-amerikanischen Krimiautoren der harten Linie, wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler. Im revolutionären Cuba waren die Romane dieser Autoren hochgeschätzt, wegen ihres sozialkritischen Gehalts und weil die korrupte Welt der Vereinigten Staaten in den dreißiger und vierziger Jahren sehr gut beschrieben wurde. Und der cubanische Autor Ignacio Cárdenas Acuña schrieb ein Buch in diesem Stil, das im Jahr 1957 in Havanna spielte. Das Buch hatte enormen Erfolg. Danach wollten auch andere Leute Krimis schreiben, deren Handlung im Cuba nach der Revolution spielen sollte. Da sagte das Innenministerium: „Halt, das organisieren wir.“ Sie schrieben einen Wettbewerb für Kriminal- und Spionageromane aus. Gewünscht waren Romane, die beschreiben sollten, wie der Feind gegen Cuba agiert, wie schädlich und unsozial Verbrechen sind und wie tapfer und heldenhaft die Offiziere des Innenministeriums und der Polizei sind. Die beim Wettbewerb prämierten Werke sollten veröffentlicht werden. Die Teilnahme an dem Wettbewerb war die einzige Möglichkeit, einen Kriminal- bzw. Spionageroman zu publizieren.
Ich bin bis heute kein großer Leser von Kriminal- und Spionageromanen. Aber damals ergab es sich, daß ich einige Spionageromane aus sozialistischen Ländern las. Die Sowjetunion hatte viele gute Schriftsteller in diesem Genre, die viel besser waren als James Bond und der andere Schund, der im Westen als Spionageromane veröffentlicht wurde.
Eines Tages las ich in einer Zeitschrift eine sehr positive Kritik eines cubanischen Spionageromans. Die Kritik hatte Fernández Retamar, ein sehr guter und angesehener cubanischer Literaturwissenschaftler, verfaßt. Da ich ihn als Kritiker und Lehrer – ich hatte bei ihm studiert – hoch schätzte, kaufte ich mir das Buch und war enttäuscht. Das Buch war schlecht, der Autor beherrschte sein Handwerk nicht, die Dialoge waren richtig dumm. Eines Tages traf ich Retamar auf dem Pissoir und sagte ihm: „Doktor, ich habe das Buch von dem und dem gelesen.“ Er fragte mich, ob es mir gefallen habe, und ich sagte, daß ich es schlecht fände. Er zuckte nur mit den Schultern und vermittelte mir so mehr oder weniger, daß ich keine Ahnung hätte.
Ich dachte mir, einen solchen Roman könnte ich mit der linken Hand viel besser schreiben. So fing ich an, „Joy“, mein erstes Buch, zu schreiben.

Hattest du vorher nie etwas geschrieben?

Ich hatte immer eine literarische Berufung gefühlt. 1958 habe ich in Montevideo zwei kleine Romane geschrieben. Das war schrecklich, das war wirklich Mist. Das war kommunistische Agitation, aber keine Literatur. Ich habe die letzten beiden Bände vernichtet, als ich 1993 bei meiner Mutter in Montevideo war. Ich hatte die Bücher damals geschrieben, in einer Druckerei 200 Exemplare drucken lassen und sie an meine Freunde und Bekannte verteilt. Aber die Bücher waren fürchterlich.

In dem Roman „Contracandela“, einer Gemeinschaftsproduktion mit Justo Vasco, der 1995 in Spanien erschienen ist, setzt ihr euch im Vorwort sehr kritisch mit der Tradition und Gattung des Kriminal- und Spionageromans in Cuba auseinander, der didaktischen Zielen genügen sollte. Waren deine ersten Bücher auch solche Romane?

Ja. Als Kommunist dachte ich, daß unsere Literatur eine didaktische sein müsse und eine Propaganda für die Regierung. „Joy“, mein erster Roman, war ein solches Buch. Er wurde beim Wettbewerb des Innenministeriums ausgezeichnet und erschien 1978. Es war der zweite Spionageroman, der im nachrevolutionären Cuba veröffentlicht wurde. Es wurde ein großer Erfolg. Über 100 000 Exemplare wurden verkauft, und die Kritiker, übrigens auch Retamar, waren begeistert. Das Buch wurde sofort ins Russische, ins Deutsche und in fast alle anderen Sprachen übersetzt, die in den sozialistischen Staaten gesprochen wurden.
Nach meinem Erfolg mit „Joy“ schrieb ich „Allá ellos“ (dt. Die Wunderdroge). Ich nahm wieder am Wettbewerb des Innenministeriums teil, bekam aber keinen Preis. Als Begründung sagten sie, daß zwei Hauptfiguren des Romans, der spanische Faschist und dessen Nichte, zu attraktiv gezeichnet wären. Deshalb könnten sie einen solchen Roman nicht auszeichnen und publizieren. Ich habe versucht, sie zu überzeugen, daß das ein Fehler sei, aber das war unmöglich. Ich war sehr enttäuscht und dachte sogar daran, aus Cuba wegzugehen, um das über Cuba schreiben zu können, was ich wollte, und nicht das, was das Innenministerium wollte.
Aber ich blieb, vergaß den Roman „Allá ellos“ und schrieb andere Bücher, die auch veröffentlicht wurden und erfolgreich waren. Mit dem Buch „Primero Muerto“, das ich zusammen mit Justo Vasco schrieb, gab es wieder Probleme. Zwar gewannen wir damit 1982 den Wettbewerb, aber dann fand ein Offizier einige Stellen sehr gefährlich, und es dauerte vier Jahre, bis es – mit erheblichen Veränderungen – veröffentlicht wurde. Später erschien es dann in einer neuen, von uns überarbeiteten Version, mit einem kritischen Vorwort, unter dem Titel „Contracandela“ in Mexico und Spanien.
1986 wurde die Internationale Assoziation der Krimischriftsteller in Havanna gegründet. Darüber lernte ich den mexicanischen Autor Paco Ignacio Taibo II kennen. Ich gab ihm ein Manuskript von „Allá ellos“. Er war begeistert und wollte es in einem mexicanischen Verlag herausbringen. Er hatte auch die Idee, daß wir einen ähnlich angelegten Roman zusammen schreiben sollten, „a cuatro manos“ (vierhändig). Das hat dann nicht geklappt, weil wir zu unterschiedliche Charaktere sind. Er hat den Roman schließlich alleine geschrieben und unter dem Titel „Cuatro Manos“ (dt. 4 Hände, vgl. ila 197) veröffentlicht.
Paco hat „Allá ellos“ tatsächlich bei Planeta, einem sehr großen mexicanischen Verlag, untergebracht. Das war für mich eine große Überraschung, denn Planeta ist ein literarisch sehr renommierter Verlag, der viele bedeutende Autoren publiziert. Als sie das Manuskript angenommen hatten, bat ich den Verlag, mir drei Monate Zeit zu geben, um das Buch zu überarbeiten und den ganzen Mist, den ich für den Wettbewerb des Innenministeriums geschrieben hatte, rauszuschmeißen. Und das habe ich gemacht. Die deutsche Ausgabe „Die Wunderdroge“ ist die Übersetzung der überarbeiteten Version, die 1992 in Mexico erschienen ist. Die erste Version wurde dann 1991 doch in Cuba veröffentlicht, allerdings mit kleinen Änderungen, die die Militärs mir nahegelegt hatten.
Als das Buch 1991 auf der Buchmesse in Havanna vorgestellt wurde, waren Paco Ignacio Taibo, Justo Vasco und ich auf dem Podium. Im Saal war auch eine Reihe von Mitarbeitern des Innenministeriums. Ich habe gesagt, das sei ein sehr unglückliches Buch mit einer sehr unglücklichen Geschichte, weil ich einen intelligenten Roman über die Strategie der USA gegen Cuba schreiben wollte. Die Leute beim Innenministerium hätten das aber nicht begriffen und mir vorgeworfen, daß ich die Gegner zu attraktiv dargestellt hätte. Dieses Buch würde zwar heute hier veröffentlicht, aber im nächsten Jahr würde in Mexico eine andere Version erscheinen, und zwar die Version, hinter der ich stehe. Daraufhin haben einige Offiziere wütend den Saal verlassen.

Du sagtest, die Leute vom Innenministerium hätten argumentiert, das spanische Paar in deinem Roman sei zu attraktiv gezeichnet. Ich kann an den beiden wirklich nichts Attraktives finden. Ich sehe sie als brutal, menschenverachtend, einen anachronistischen Ehrbegriff vertretend, und dazu nicht fähig, normale Beziehungen einzugehen, so daß sie nur diese inzestuöse Beziehung zwischen Onkel und Nichte leben können. Was fanden die cubanischen Geheimdienstoffiziere daran attraktiv?

Das ist genau der Punkt. Wenn man einen Roman schreibt, denkt man immer an ein Publikum. Das Publikum, an das ich dachte, waren intelligente Leute und kluge Linke. Aber die Mehrzahl der cubanischen Leser mögen zwar theoretisch den Machismo ablehnen, haben ihn aber doch in sich. Und ein Mann, der klug ist wie der Faschist und CIA-Agent Jaime de Arnaiz, der tapfer ist, der männlich und heldenhaft ist – mit solchen Eiern – und noch dazu gut aussieht, ist für einen Durchschnittscubaner sehr attraktiv. Du siehst ihn als kluger Linker, aber die Offiziere des Innenministeriums waren darauf nicht vorbereitet. Ich wollte für Cuba Propaganda machen, gegen die geheimdienstlichen Destabilisierungsmethoden der USA, aber Propaganda für kluge Leute. Doch das haben sie nicht verstanden. Für sie darf ein CIA-Mann nicht intelligent, tapfer und schön sein, sondern er muß dumm, feige und häßlich sein. So dachten sie. Deshalb war ich so wütend.
1989 veröffentlichte ich zum ersten Mal einen Roman im nichtsozialistischen Europa, in Spanien, „La sexta isla“, aber in einem klitzekleinen Verlag, der kein gutes Vertriebssystem hatte. Deshalb wurde das Buch in Spanien kaum zur Kenntnis genommen. Als ich „Allá ellos“ 1992 bei Planeta in Mexico veröffentlichte, öffnete sich für mich die Tür, von nun an zu schreiben, was ich wollte. 1993 habe ich für „Allá ellos“ dann noch den „Hammett“, den Preis für den besten spanischsprachigen Kriminalroman, bekommen. Jetzt lassen sie mich in Ruhe, weil sie wissen, daß ich inzwischen überall auf der Welt veröffentlicht werde, und sie haben endlich verstanden, daß ich ein Freund bin und kein Feind. Jetzt bin ich ganz ruhig. Ich kann das über Cuba schreiben, was ich will. Natürlich werde ich nie etwas definitiv gegen die Revolution machen. Ich kann viel Schlechtes über die Revolution sagen, es gibt viele schlechte Seiten, sogar unmoralische Seiten. Als Schriftsteller kannst du das mit Salz oder mit Zucker betrachten. Ich will beides vermeiden. Autoren wie Jesús Díaz und Zoé Valdés beschreiben alles in dunklen Farben – Jesús Díaz ist ohne Zweifel ein guter Schriftsteller, Zoé Valdés halte ich für eine schlechte Autorin – ich weiß, daß du anders über sie denkst.
In meinem Buch „Adiós Muchachos“ beschreibe ich das Leben einer Prostituierten in Cuba in der Spezialperiode, und in dieser Umgebung siehst du alles, was schlecht läuft in Cuba. Aber ich brauche nicht so einen Unsinn zu erzählen, daß die Komitees zur Verteidigung der Revolution die Erlaubnis geben, den Müll von kritischen Leuten zu durchsuchen, wie das Zoé Valdés tut.

Du erzähltest, du seist anfangs von der didaktischen Mission des cubanischen Kriminalromans überzeugt gewesen. Wie hast du dich schließlich von diesen Vorgaben gelöst?

In Gijón in Spanien gibt es jedes Jahr ein Festival der Kriminalliteratur, das Paco Taibo organisiert, die Semana Negra, das heißt die Woche der schwarzen Literatur. Unter den novelas negras versteht man Kriminalromane, die sich sehr kritisch mit dem Establishment und der Regierung in den jeweiligen Ländern auseinandersetzen. Unsere Krimiliteratur in Cuba ist keine schwarze Literatur, unsere Literatur ist nicht kritisch. Sie ist ganz genau das Gegenteil. Es ist weiße Literatur. Die cubanische Kriminalliteratur ist Propaganda für die Regierung. Diese Position kann ich heute nicht mehr akzeptieren. Man muß die Realität beschreiben, wie sie ist bzw. du sie siehst, und das Publikum versteht, was es verstehen will.
Das ist heute meine Position. Und ich verstehe jetzt auch, daß wir Kommunisten viele, viele Fehler gemacht haben. Ich bin nicht einer, der heute sagt, die da oben haben mich enttäuscht oder verraten, nein ich habe selbst mitgemacht. Ich vertrat dieselbe sektiererische Haltung. Ich dachte, daß meine Generation nicht nur für uns und für unsere Kinder arbeitete, sondern für die Zukunft der Menschheit. Und dafür war die Einheit der Arbeiterbewegung in der Welt das Wichtigste. Dafür brauchten wir einen Führer, und unser Führer war Lenin oder Stalin oder sonst jemand. Die Geschichte hat mich gelehrt, daß das ein großer Fehler war. Aber ich habe diesen Fehler gemacht, ich bin schuldig, und ich erkenne das an.

Wegen des Aufbaus und des Themas drängt sich der Vergleich deines Romans „Die Wunderdroge“ mit Taibos „4 Hände“ natürlich auf. Beide Bücher enden durchaus ähnlich (wie, wird hier natürlich nicht verraten, G.E.). Beim Anarchisten Taibo gibt es positive Identifikationsfiguren, etwa die alten Bürgerkriegsveteranen und die Moral, „Leute, laßt euch von dieser Desinformationspolitik nicht das Gehirn verkleistern. Glaubt nicht, was man euch erzählen will, sondern schaut euch die Realität und die Leute  ganz  genau an.“ In deinem Roman jedoch sehe ich weder positive Identifikationsfiguren noch eine Hoffnung...

Vielleicht hast du recht. Als ich das Buch 1992 überarbeitete, war sicher der pessimistischste Moment in meinem Leben. Ich hatte keine Hoffnung, ich sah nicht einmal theoretisch eine Perspektive. Der Marxismus-Leninismus war gescheitert, war kaputt, und vieles von der marxistischen Theorie war für mich in dem Moment auch nicht mehr klar. Ich hatte sowieso niemals den Marxismus verstanden. Das weiß ich jetzt. Früher war mir immer klar, daß ich Marxist war. Ich war religiös, ich betrachtete den Marxismus als Religion, habe mich aber nicht wirklich theoretisch damit auseinandergesetzt. 1992 war ich sehr, sehr pessimistisch, das Buch ist ohne Hoffnung, da hast du recht.

Wobei die Repräsentanten des Kapitalismus und des Imperialismus in dem Buch auch ohne jegliche Perspektive sind, sie können nur noch abtreten, in jeder Hinsicht.

Da hast du sicher recht.

Das Gespräch mit Daniel Chavarría führte Gert Eisenbürger im Mai 1997.